VwGH 2009/22/0216

VwGH2009/22/021613.9.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerde der E W in W, geboren am 24. September 1950, vormals vertreten durch DDr. Wolfgang Schulter, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Marxergasse 21, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 9. Juni 2009, Zl. 143.725/4-III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/029;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2 idF 2009/I/029;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/029;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2 idF 2009/I/029;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde einen Antrag der (staatenlosen) Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihren die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Söhnen gemäß § 21 Abs. 1 NAG ab.

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die Beschwerdeführerin erstmals am 12. September 1993 gemeinsam mit ihren 1976 und 1979 geborenen Söhnen in das Bundesgebiet eingereist sei und am 17. September 1993 einen Asylantrag eingebracht habe. Das Asylverfahren sei mit 6. Dezember 1993 rechtskräftig "negativ abgeschlossen" worden, am 3. Juli 1995 sei gemeinsam mit ihren Söhnen die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Moskau erfolgt.

Am 3. August 1995 sei die Beschwerdeführerin illegal neuerlich in das Bundesgebiet eingereist und seither durchgehend ohne Aufenthaltstitel in Österreich geblieben. Am 10. November 1995 sei gegen sie ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren wegen Mittellosigkeit erlassen worden. Vor ihrer Abschiebung sei sie wegen Haftunfähigkeit aus der Schubhaft entlassen worden.

Am 23. Jänner 1996 habe sie ein Ansuchen um Entlassung aus dem armenischen Staatsverband bei der Botschaft der Republik Armenien eingebracht, dem mit Bescheid vom 20. Juli 1997 stattgegeben worden sei. In ihrer schriftlichen Erklärung gegenüber dem Amt der Wiener Landesregierung vom 4. Februar 2008 habe sie bestätigt, dass sie dadurch einen Schutz für sich, ihre Familie und ihre beiden Söhne erreichen habe wollen.

Im Jahr 2001 habe sie der Adoption ihrer beiden Söhne durch einen österreichischen Staatsbürger "zugestimmt" (aus der in den vorgelegten Verwaltungsakten liegenden Bewilligung der Annahme an Kindes statt geht hervor, dass die Beschwerdeführerin gegen die Adoption ihrer bereits volljährigen Söhne lediglich keine Einwände erhoben hatte; gemäß § 182 Abs. 2 ABGB blieben mangels eines gegenteiligen gerichtlichen Ausspruches die familienrechtlichen Beziehungen zwischen der Beschwerdeführerin und ihren Söhnen aufrecht). Die beiden Söhne seien mittlerweile österreichische Staatsbürger.

Am 22. September 2004 habe die Beschwerdeführerin den gegenständlichen Antrag gestellt, der mit Inkrafttreten des NAG als solcher auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" zu werten sei. Einem Ansuchen auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis gemäß § 10 Abs. 4 FrG durch die Bundespolizeidirektion Wien vom 16. April 2005 habe seitens der belangen Behörde auf Grund einer ungünstigen Zukunftsprognose nicht zugestimmt werden können. Einer Anfrage betreffend Zustimmung zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen gemäß § 72 iVm § 75 NAG durch das Amt der Wiener Landesregierung vom 20. Mai 2008 habe mangels besonders berücksichtigungswürdiger Gründe ebenfalls nicht zugestimmt werden können.

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG hätte die Beschwerdeführerin ihren Antrag bei der örtlich für sie zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einbringen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten müssen, weil sie keine der für die Inlandsantragstellung genannten Voraussetzungen gemäß § 21 Abs. 2 NAG erfülle. Da sie sich zum Zeitpunkt der Antragstellung sowie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht rechtmäßig im Inland aufhalte, stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung des gegenständlichen Antrages entgegen.

§ 21 Abs. 3 NAG in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 ermögliche die Zulassung der Inlandsantragstellung, wenn die Ausreise des Fremden nachweislich nicht möglich oder zumutbar sei, und zwar zur Wahrung des Kindeswohls im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen oder zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK. Die Beschwerdeführerin habe am 25. Mai 2009 einen Antrag auf Zulassung der Inlandsantragstellung nach der genannten Bestimmung (iVm der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 8 NAG) zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Sinn des Art. 8 EMRK eingebracht.

Hinsichtlich der Beurteilung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin verwies die belangte Behörde insbesondere auf ihren durchgehend illegalen Aufenthalt sowie darauf, dass sie um Entlassung aus dem armenischen Staatsverband ersucht habe, um aufenthaltsbeendende Maßnahmen undurchsetzbar zu machen. In den Jahren 1999 und 2003 sei sie jeweils rechtskräftig gemäß § 15 iVm § 127 StGB (zu Geldstrafen in der Höhe von 30 bzw. 70 Tagessätzen) verurteilt worden. Sie berufe sich nunmehr auf ihr Familienleben mit ihren Söhnen, Schwiegertöchtern und Enkelkindern und verweise auf ihre Integration im Rahmen ihres langjährigen Aufenthaltes in Österreich. Darüber hinaus führe sie aus, dass keine Anknüpfungspunkte mehr zum Herkunftsland bestünden und verweise auf einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag mit einem näher bezeichneten Unternehmen. Es werde festgestellt, dass das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem die Beschwerdeführerin sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus zweifelsfrei bewusst gewesen sei. Aus diesem Grund sei das Interesse an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens höher zu bewerten als die privaten Interessen der Beschwerdeführerin, zumal sie offensichtlich der Adoption ihrer "damals minderjährigen" Söhne durch einen österreichischen Staatsbürger "zugestimmt" habe und aus dem Staatsverband ihres Heimatstaates freiwillig ausgetreten sei, um ihren Aufenthalt in Österreich zu erzwingen. Das vorhandene Ausmaß an Integration basiere ausschließlich auf dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten der Beschwerdeführerin. Die Schaffung ihres Lebensmittelpunktes in Österreich liege in ihrem eigenen Verantwortungsbereich.

Eine Verletzung des Art. 8 EMRK, die die Zulassung der Inlandsantragstellung gebieten würde, sei zweifelsfrei nicht gegeben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Aus § 21 Abs. 3 Z 2 NAG ergibt sich, dass die Inlandsantragstellung dann zuzulassen ist, wenn - ausnahmsweise, nämlich für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise des Fremden - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht.

Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist auf die nunmehr ausdrücklich in § 11 Abs. 3 NAG (idF BGBl. I Nr. 29/2009) normierten Kriterien, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsprechen, Bedacht zu nehmen: Maßgeblich sind demnach insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität und die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; weiters der Grad der Integration des Fremden (der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert); sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, sind bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (vgl. noch zur - inhaltlich insofern unveränderten - Rechtslage vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 etwa das hg. Erkenntnis vom 10. November 2009, Zl. 2008/22/0249, mwN).

Die Beschwerdeführerin verweist wie schon im Verwaltungsverfahren auf ihren langjährigen (zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung rund vierzehnjährigen, unter Einschluss des Voraufenthalts fast sechzehnjährigen) Aufenthalt in Österreich und darauf, dass sich ihr Lebensmittelpunkt eindeutig in Österreich befinde. In ihrem Herkunftsstaat Armenien habe sie keine Angehörigen mehr, ihre beiden Söhne seien österreichische Staatsbürger und lebten mit ihren Familien in Österreich. Auf Grund der Staatenlosigkeit der Beschwerdeführerin komme auch aus praktischen Gründen eine Auslandsantragstellung nicht in Frage.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg. Die belangte Behörde durfte zwar in die von ihr vorzunehmende Interessenabwägung die durchgehende Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts der Beschwerdeführerin miteinbeziehen. Die angeblich rechtsmissbräuchliche Adoption ihrer volljährigen Söhne - die Feststellung der Minderjährigkeit der Söhne zum Zeitpunkt der Adoption ist aktenwidrig - kann ihr hingegen nicht zum Vorwurf gemacht werden, und auch die zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung bereits getilgten Verurteilungen konnten nicht mehr entscheidend ins Gewicht fallen. Dem steht gegenüber, dass sich die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung bereits - wenn auch illegal - vierzehn Jahre durchgehend in Österreich aufgehalten hat und alle familiären Bezugspersonen, insbesondere ihre beiden Söhne, die österreichische Staatsbürger sind, in Österreich leben. Sie kann auch insofern auf eine Integration in Österreich verweisen, als sie Deutsch gelernt hat (eine Kursbestätigung hat sie im Verwaltungsverfahren vorgelegt, und in den Verwaltungsakten findet sich der Hinweis darauf, dass sie keinen Dolmetscher benötige) und eine Einstellungszusage sowie einen Vorvertrag zu einem Arbeitsvertrag vorweisen konnte. Dazu kommt, dass der Beschwerdeführerin auf Grund ihrer - wenn auch vor Jahren selbst herbeigeführten - Staatenlosigkeit eine Ausreise, um die Entscheidung über ihren Antrag im Ausland abzuwarten, gar nicht möglich ist (die Ausstellung eines Fremdenpasses wurde ebenfalls abgelehnt). In einer Gesamtbetrachtung ist daher davon auszugehen, dass im Beschwerdefall Gründe im Sinne des § 21 Abs. 3 Z 2 NAG vorliegen, die die Zulassung der Inlandsantragstellung gebieten.

Da die belangte Behörde dies verkannt hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, sodass er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war, ohne dass hier auf die im hg. Beschluss vom 5. Mai 2011, EU 2011/0004 bis 0008, aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen hätte Bedacht genommen werden müssen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Die Abweisung des Mehrbegehrens betrifft die in den Pauschalbeträgen nach dieser Verordnung bereits enthaltene Umsatzsteuer.

Wien, am 13. September 2011

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte