VwGH 2008/22/0249

VwGH2008/22/024910.11.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des D, vertreten durch Dr. Elmar Kresbach LL.M., Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schottengasse 4/4/29, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 13. Februar 2008, Zl. 316.565/3- III/4/07, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/29;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/29;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, laut Verwaltungsakt der belangten Behörde ein serbischer Staatsangehöriger, war im Besitz einer Niederlassungsbewilligung "begünstigter Drittsta. - Ö, § 49 Abs. 1 FrG", die am 9. Juli 2004 ausgestellt worden und bis 23. Juni 2005 gültig gewesen war.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) vom 13. Februar 2008 wurde ein am 18. Jänner 2006 vom Beschwerdeführer persönlich bei der Erstbehörde gestellter Verlängerungsantrag gemäß § 24 Abs. 2 und § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass der Beschwerdeführer seit 12. Juli 2004 "bis dato" aufrecht im Bundesgebiet hauptgemeldet sei. Der Beschwerdeführer habe nicht dargetan, dass seine (österreichische) Mutter das "Recht auf die (gemeinschaftsrechtliche) Freizügigkeit in Anspruch genommen" habe.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - unter Wiedergabe der Bestimmungen der §§ 2 Abs. 1 Z. 9, 21 Abs. 1 und 2 und 24 Abs. 2 NAG - im Wesentlichen aus, dass der vom Beschwerdeführer erst am 18. Jänner 2006 gestellte gegenständliche Antrag in Hinblick auf § 24 Abs. 2 NAG als Erstantrag zu werten sei. Da der Beschwerdeführer nicht Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z. 9 NAG sei, komme auf ihn die Ausnahmebestimmung des § 21 Abs. 2 Z. 1 NAG nicht zur Anwendung, sodass § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung des gegenständlichen Antrages entgegenstehe.

Die belangte Behörde nahm darüber hinaus eine Beurteilung anhand der §§ 72 Abs. 1 iVm § 74 NAG vor und führte dazu insbesondere aus, dass das "Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland und die Integration in Österreich keine Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall" darstellten. Darüber hinaus erfülle der Beschwerdeführer die in der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie), festgelegten Voraussetzungen nicht.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Beschwerde bestreitet nicht die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, dass der letzte dem Beschwerdeführer erteilte Aufenthaltstitel mit 23. Juni 2005 endete und der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag erst am 18. Jänner 2006 stellte.

Gemäß § 24 Abs. 2 erster und zweiter Satz NAG (in der hier anzuwendenden Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) gelten Anträge, die nach Ablauf des Aufenthaltstitels gestellt werden, nur dann als Verlängerungsanträge, wenn der Antrag spätestens sechs Monate nach dem Ende der Gültigkeitsdauer des letzten Aufenthaltstitels gestellt wurde. Danach gelten Anträge als Erstanträge.

In Hinblick auf diese eindeutige Gesetzesbestimmung hat die belangte Behörde den gegenständlichen Antrag zutreffend als Erstantrag (vgl. dazu auch § 2 Abs. 1 Z. 13 NAG) behandelt, sodass auf ihn § 21 NAG Anwendung findet (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. April 2009, 2008/22/0257, mwN).

Da nach den in der Beschwerde nicht bekämpften Feststellungen des angefochtenen Bescheides auch keiner der Fälle des § 21 Abs. 2 NAG vorliegt, in denen abweichend von § 21 Abs. 1 NAG eine Berechtigung zur Antragstellung im Inland besteht, unterlag der gegenständliche Antrag an sich dem Grundsatz der Auslandsantragstellung gemäß § 21 NAG.

Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 iVm § 72 NAG (jeweils in der hier anzuwendenden Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann.

§ 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch, etwa auf Familiennachzug, besteht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2009, 2008/22/0805, mwN).

Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die die fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer fremdenpolizeilichen aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht bzw. humanitäre Gründe im Sinn der §§ 72 ff NAG zu bejahen sind. Maßgeblich sind dabei - wie zum Teil schon angesprochen - die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität und die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert; sowie die Bindungen zum Heimatstaat. Aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, sind bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 3. April 2009, 2008/22/0592, mwN, insbesondere mit Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 29. September 2007, B 1150/07).

Der Beschwerdeführer hat in diesem Zusammenhang bereits im Verwaltungsverfahren vorgebracht, dass er seit 9. Juli 2004 in Österreich lebe, eine "Arbeitserlaubnis" besitze, in Wien beschäftigt sei und seinen Lebensunterhalt verdiene. In Wien lebten auch seine Eltern, wobei seine Mutter österreichische Staatsbürgerin sei. In Serbien habe der Beschwerdeführer hingegen keine Arbeit, keinen Verdienst und auch keine Angehörigen. In Österreich habe er sich gut eingelebt und eingegliedert. Auch sein Bruder und seine Schwägerin mit drei Kindern lebten und arbeiteten in Österreich.

Indem die belangte Behörde dem "Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland" und der "Integration in Österreich" von vornherein die Eignung als "Grundlage für einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall" abgesprochen hat, hat sie, wie aus dem Gesagten ersichtlich, die Rechtslage - schon vom Ansatz her - verkannt (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, 2008/22/0280, mwN). Da angesichts des über Jahre dauernden - zum Teil aufgrund einer Niederlassungsbewilligung rechtmäßigen - Aufenthalts des Beschwerdeführers im Inland, seiner familiären Bindungen hier und der behaupteten integrationsbegründenden Umstände nicht von vornherein auszuschließen ist, dass die belangte Behörde zur Bejahung humanitärer Gründe im Sinn des § 72 NAG gelangen könnte, war der angefochtene Bescheid wegen des auf unrichtiger rechtlicher Beurteilung beruhenden Feststellungsmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Da der mehr als 21 Jahre alte Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren nicht behauptet hat, dass ihm von seiner Mutter Unterhalt tatsächlich gewährt werde (vgl. § 52 Z. 2 NAG), ist der vorliegende Fall von den dem hg. Beschluss vom 22. September 2009, A 2009/0032-1 (2009/22/0043), zugrunde liegenden gleichheitsrechtlichen Bedenken nicht berührt.

Wien, am 10. November 2009

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte