VwGH Ra 2016/22/0101

VwGHRa 2016/22/010121.6.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft Baden (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht), gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 7. September 2016, LVwG-AV-842/001-2016, betreffend Rückstufung nach § 28 NAG (mitbeteiligte Partei: C G in W), zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art13;
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2;
BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs5;
FrPolG 2005 §53 Abs3;
FrPolG 2005 §61;
NAG 2005 §28 Abs1 idF 2012/I/087;
NAG 2005 §28 Abs1 idF 2012/I/087;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2016220101.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1.1. Die belangte Behörde stellte mit Bescheid vom 8. Juni 2016 fest, dass das aufgrund des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt-EU" bestehende unbefristete Aufenthaltsrecht des Mitbeteiligten, eines türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 28 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ende und dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt werde (Rückstufung).

Die belangte Behörde führte dazu im Wesentlichen aus, der Mitbeteiligte sei mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 5. Dezember 2014 des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs. 1, 143 2. Fall StGB sowie des schweren Raubes nach den §§ 15, 142 Abs. 1, 143 2. Fall StGB als Beteiligter nach § 12

3. Fall StGB rechtskräftig schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von (letztlich) vier Jahren verurteilt worden. Der Verurteilung sei zugrunde gelegen, dass der Mitbeteiligte - in Ausführung des (wegen seiner schlechten finanziellen Verhältnisse gemeinsam mit vier Freunden gefassten) Entschlusses, gemeinsam Tankstellen und Trafiken zu überfallen, dabei die Verkäufer mit einer Gaspistole zu bedrohen und zur Ausfolgung von Bargeld zu nötigen und sich durch die Zueignung des Geldes unrechtmäßig zu bereichern - am 28. und 29. April 2014 gemeinsam mit anderen Tätern einmal eine Trafik und einmal eine Tankstelle überfallen habe, wobei er einmal selbst mit der Pistole bewaffnet und maskiert die Verkäuferin bedroht und zur Ausfolgung von EUR 655,-- genötigt habe, und das andere Mal seine Pistole zur Verfügung gestellt, das Fluchtauto gelenkt und Aufpasserdienste geleistet habe sowie nach Ausführung der Tat die unmittelbaren Täter mit der Beute von EUR 1.235,-- vom Tatort wegchauffiert habe.

Es seien daher die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 in Verbindung mit § 53 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erfüllt. Der Mitbeteiligte weise auf Grund der Schwere seines Fehlverhaltens ein Persönlichkeitsbild auf, das eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, sodass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (grundsätzlich) möglich wäre. Allerdings habe die gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) zu treffende Abwägung ergeben, dass das Privat- und Familienleben des Mitbeteiligten die öffentlichen Interessen überwiege, weshalb eine Rückkehrentscheidung nicht zulässig sei. Es sei daher das Ende des unbefristeten Aufenthaltsrechts festzustellen und ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" für zwölf Monate zu erteilen (Rückstufung).

1.2. Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde mit dem Vorbringen, er sei in Österreich geboren und aufgewachsen, habe hier die Pflichtschule besucht und eine Lehre begonnen, habe jedoch die Berufsausbildung nicht abgeschlossen, was er nachholen wolle. Sein Lebensmittelpunkt sei in Österreich, wo auch seine gesamte Familie lebe; sein Vater sei ein Pflegefall, der Mitbeteiligte müsse daher die Familie vermehrt unterstützen. Seine Unterkunft sei bei der Familie gesichert, ebenso sein Lebensbedarf (Rücklage, Arbeitslosengeld), bis er nach der Enthaftung eine Arbeitsstelle finde. Er sei erstmals in Haft, dem Erstvollzug sowie dem Vollzug in gelockerter Form unterstellt und erhalte seit Mai 2015 regelmäßig Ausgänge. Er könne mit einer bedingten Entlassung nach Verbüßung von zwei Drittel der Strafe (am 19. Jänner 2017) rechnen. Um sein Leben wieder in geregelte Bahnen (Arbeit, Wohnung) zu lenken, seien Anstrengungen notwendig. Er habe aber die besten Absichten, fortan ein straffreies und ordentliches Leben zu führen. Die Rückstufung würde sich erschwerend auf die Bestrebungen zur Wiedereingliederung auswirken.

2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde des Mitbeteiligten statt und behob den bekämpften Bescheid.

Es traf die Feststellungen, dass der Mitbeteiligte - ein türkischer Staatsangehöriger - in Österreich geboren sei, in der Folge an (näher genannten) inländischen Adressen gewohnt habe, sich derzeit im Strafvollzug wegen der (oben angeführten) strafgerichtlichen Verurteilung befinde und zuletzt über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügt habe.

Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht - nach (teilweiser) Wiedergabe der einschlägigen Gesetzesbestimmungen samt vorangehenden Fassungen und Materialien - im Wesentlichen, aus der (näher erörterten) Entstehungsgeschichte der Regelungen ergebe sich, dass der Verweis des § 28 Abs. 1 NAG auf den § 9 BFA-VG nur auf dessen Abs. 1 (mit dem darin normierten Verbot der Erlassung einer Rückkehrentscheidung aus Gründen des Privat- und Familienlebens), nicht jedoch auf dessen Abs. 4 (mit dem darin enthaltenen Verbot der Erlassung einer Rückkehrentscheidung wegen Aufenthaltsverfestigung) zu beziehen sei. Dem Gesetzgeber sei insofern eine "redaktionelle Ungenauigkeit" unterlaufen, bei richtiger Anwendung der Bestimmung sei davon auszugehen, dass im Fall einer Aufenthaltsverfestigung nach § 9 Abs. 4 BFA-VG eine Rückstufung im Sinn des § 28 Abs. 1 NAG nicht zu verfügen sei.

Vorliegend sei der Mitbeteiligte - nach dem festgestellten Sachverhalt - in Österreich geboren und von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen. Es liege daher eine Aufenthaltsverfestigung im Sinn des § 9 Abs. 4 BFA-VG vor, sodass (schon deshalb im Sinn der oben dargelegten Erwägungen) eine Rückstufung des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" auf einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" nicht zulässig sei. Im Hinblick darauf sei der angefochtene Bescheid zu beheben gewesen.

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe unterbleiben können, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststehe, dass der bekämpfte Bescheid aufzuheben sei.

2.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei. Nach der dargestellten Rechtslage sei unzweifelhaft, dass § 9 Abs. 4 BFA-VG vom Verweis im § 28 Abs. 1 NAG nicht umfasst sei.

3.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Die belangte Behörde macht zur Zulässigkeit der Revision einerseits geltend, § 28 Abs. 1 NAG in der hier anzuwendenden geltenden Fassung verweise auf den gesamten § 9 BFA-VG. Dadurch werde deutlich gemacht, dass auch in Konstellationen, in denen nach der älteren Rechtslage bei Vorliegen eines (sogenannten) "Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestands" eine Rückstufung nicht möglich gewesen sei, nunmehr bei Vorliegen eines derartigen Tatbestands (wie hier im § 9 Abs. 4 BFA-VG) eine Rückstufung bei Erfüllung der im § 28 Abs. 1 NAG genannten Voraussetzungen erfolgen könne.

Die belangte Behörde macht andererseits geltend, § 52 Abs. 5 FPG (auf den § 28 Abs. 1 NAG verweise) setze im Fall einer strafgerichtlichen Verurteilung voraus, dass der weitere Aufenthalt eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde. Es sei daher eine Gefährdungsprognose anzustellen, bei der eine aktuelle Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Fremden vorzunehmen und zu beurteilen sei, ob sich daraus eine maßgebliche Gefährdung ableiten lasse. Vorliegend habe das Verwaltungsgericht die gebotene Prognoseentscheidung zur Gänze unterlassen; bei deren Vornahme hätte es zum Ergebnis kommen müssen, dass der weitere Aufenthalt eine gegenwärtige hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle.

3.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

4. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 2 Z 1 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist aus den von der belangten Behörde geltend gemachten Gründen zulässig und auch berechtigt.

5.1. Soweit die belangte Behörde releviert, § 28 Abs. 1 NAG verweise auf den gesamten § 9 BFA-VG und damit auch auf dessen Abs. 4, bei Verwirklichung eines der dort geregelten "Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestände" sei daher eine Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG zulässig, kann auf das hg. Erkenntnis vom 27.4.2017, Ra 2016/22/0094, verwiesen werden, in dem zu einem - in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ganz ähnlich gelagerten Fall - ausgeführt wurde:

"Mit der Novelle BGBl. I Nr. 87/2012 wurde § 28 Abs. 1 NAG insofern geändert, als der bisherige Verweis auf § 61 FPG (betreffend ausschließlich das Privat- und Familienleben) durch § 9 BFA-VG ersetzt wurde. Im Unterschied zur bisherigen Rechtslage enthält § 9 BFA-VG aber nicht nur das Privat- und Familienleben (Absätze 1 bis 3), sondern auch die Verbotstatbestände (Absätze 4 bis 6). Aus dem Verweis in § 28 Abs. 1 NAG auf den gesamten § 9 BFA-VG ergibt sich, dass nunmehr eine Rückstufung zulässig ist, wenn die aufenthaltsbeendende Maßnahme entweder im Hinblick auf den Schutz des Privat- und Familienlebens oder hinsichtlich der Verbotstatbestände nicht verhängt werden darf. Nach der neuen Rechtslage kommt den Verbotsgründen dieselbe Bedeutung zu wie dem Privat- und Familienleben; beides hindert eine Rückstufung nicht. Liegen somit die Voraussetzungen zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, darf diese aber gemäß § 9 BFA-VG - gleichgültig aus welchem Grund - nicht erlassen werden, ist eine Rückstufung zulässig."

5.2. Im Hinblick auf diese Ausführungen steht fallbezogen die Verwirklichung des Tatbestands des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG durch den Mitbeteiligten einer Rückstufung des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" auf einen befristeten Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" - bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 NAG - nicht entgegen.

Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Mitbeteiligte türkischer Staatsangehöriger ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits ausgesprochen, dass die Rückstufung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" im Sinn des § 28 Abs. 1 NAG in einer Konstellation wie der vorliegenden der Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) nicht widerspricht, zumal darin keine neue Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt erblickt werden kann (vgl. näher VwGH 18.1.2017, Ra 2016/22/0021; siehe auch VwGH 3.3.2011, 2008/22/0306).

6.1. Soweit die belangte Behörde moniert, das Verwaltungsgericht habe keine hinreichende Gefährdungsprognose vorgenommen, es könne daher nicht beurteilt werden, ob der weitere Aufenthalt des Mitbeteiligten eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde, zeigt sie zutreffend einen Begründungsmangel auf.

Gemäß § 52 Abs. 5 FPG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen bestimmte Drittstaatsangehörige nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden (vgl. VwGH 22.3.2018, Ra 2017/22/0194). Dabei ist auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme (hier: eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit) gerechtfertigt ist (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289). Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109; 31.8.2017, Ra 2017/21/0120).

6.2. Vorliegend hat - wie die belangte Behörde zutreffend rügt - das Verwaltungsgericht (in Konsequenz seiner Rechtsansicht) die gebotene Prognoseentscheidung zur Gänze unterlassen. Es hat auch keine (hinreichenden) Feststellungen zu den im Sinn der vorangehenden Ausführungen für die Gefährdungsprognose relevanten Umständen getroffen. In dem Zusammenhang ist weiters festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht auch keine mündliche Verhandlung durchgeführt hat, obwohl der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in Bezug auf die Gefährdungsprognose besondere Bedeutung zukommt.

7. Aus den dargelegten Erwägungen ist das angefochtene Erkenntnis daher mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit behaftet. Die Entscheidung war deshalb nach § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 21. Juni 2018

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