VwGH Ra 2015/20/0181

VwGHRa 2015/20/018115.10.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck und den Hofrat Mag. Straßegger und die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Ortner, über die Revision der S M in W, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2015, Zl. W211 1430419-1/17E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AsylG 2005 §11;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AsylG 2005 §11;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Somalias und dem Clan der Ashraf zugehörig, stellte am 7. Juli 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen damit begründete, dass sie mit einem etwa 40-jährigen Mitglied der Al Shabaab zwangsverheiratet hätte werden sollen; darüber hinaus habe sie auch aufgrund ihrer Stammeszugehörigkeit Probleme im Herkunftsstaat gehabt.

Mit Bescheid vom 16. Oktober 2012 wies das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) den Antrag I. auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erkannte der Revisionswerberin aber II. den Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu und erteilte ihr III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005.

Das Bundesasylamt führte begründend im Wesentlichen aus, es könne zwar festgestellt werden, dass die Revisionswerberin somalische Staatsangehörige, nicht jedoch dass sie Angehörige der Volksgruppe der Ashraf sei. Hinsichtlich ihrer Ausführungen zu den Gründen für die Asylantragstellung sei der Revisionswerberin die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Beweismittel, welche ihre Angaben stützen würden, lägen nicht vor.

Im Rahmen ihrer Beweiswürdigung führte die Verwaltungsbehörde aus, ein Hinweis darauf, dass die Revisionswerberin nicht der Volksgruppe der Ashraf angehöre, sei auch, dass sie so gut wie nichts über diese Volksgruppe anführen könne, und die bloße Behauptung der Zugehörigkeit zu den Ashraf "unterminiere" ihre Glaubwürdigkeit. Bezüglich der vorgebrachten Zwangsverheiratung sei das Vorbringen nicht ansatzweise nachvollziehbar, weil die Revisionswerberin im Zuge der Erstbefragung vorgebracht habe, dass sie mit einem Anführer der Al Shabaab, der etwa 40 Jahre älter als sie sei, hätte zwangsverheiratet werden sollen und ihre Eltern deshalb die Ausreise organisiert hätten, während sie in der späteren Einvernahme ausgesagt habe, es habe sich lediglich um ein etwa 40-jähriges Mitglied der Al Shabaab gehandelt; auch sei ihr Vater bereits 2006 verstorben. Des Weiteren sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen sie das Alter des Mannes hätte angeben können, weil sein Gesicht - ihren Angaben nach - verdeckt gewesen sei und auch ihre Mutter und ihr Onkel den Mann nicht gekannt hätten. Auch habe sie weder den Namen noch die Volksgruppe des Mannes anführen können und sie habe auch keine Gründe vorbringen können, warum dieser sie hätte heiraten sollen und woher dieser Mann sie überhaupt gekannt hätte. Aufgrund des "hohen Maßes an vagen Angaben" komme ihrem Gesamtvorbringen zum Fluchtgrund nicht einmal ansatzweise Glaubwürdigkeit zu.

Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin - soweit dieser die Nichtzuerkennung des Status einer Asylberechtigten betraf - Beschwerde an den Asylgerichtshof, in der sie unter anderem geltend machte, die Behörde habe es unterlassen den für die Erledigung maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen. Aufgrund der Minderjährigkeit der Revisionswerberin obliege der Behörde eine erhöhte Ermittlungspflicht. Eine Auseinandersetzung des Bundesasylamtes als Spezialbehörde in Asylverfahren mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur genauen Abklärung der Fluchtgründe habe nicht stattgefunden und die Behörde habe sich ausschließlich auf die Gefährdung von Minderheiten konzentriert, obwohl die Revisionswerberin ihr Fluchtvorbringen vorwiegend auf die bevorstehende Zwangsheirat gestützt habe. Die Behörde sei in ihrer Entscheidung hauptsächlich auf Widersprüche im Fluchtvorbringen bei der Erstbefragung und bei der Einvernahme eingegangen und habe damit § 19 Abs. 1 AsylG 2005 verletzt. Auch das Alter und der Entwicklungs- und Bildungsstand der Revisionswerberin seien nicht in die Beweiswürdigung und die Beurteilung der Glaubwürdigkeit miteinbezogen worden. Weiters sei eine Auseinandersetzung mit der allfälligen Vulnerabilität der minderjährigen Revisionswerberin nicht erfolgt; die Revisionswerberin sei zudem mangelhaft ausgebildet und aufgrund der schlechten Stellung der Frauen im Allgemeinen in Somalia mehrfachen Bedrohungen ausgesetzt. Kinderspezifische Länderfeststellungen bezüglich Zwangsheirat seien im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts nicht auffindbar. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.

Das Verfahren über die Beschwerde wurde gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht zu Ende geführt.

Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab und ließ die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zu.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass die Revisionswerberin Staatsangehörige Somalias und dem Clan der Ashraf zugehörig sei. Im Sinne einer "Wahrunterstellung" gehe das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass ungefähr eine Woche vor der Ausreise der Revisionswerberin Al Shabaab Mitglieder zu ihrer Familie nach Hause gekommen seien und den Wunsch geäußert hätten, die Revisionswerberin mit einem von ihnen zu verheiraten. Die Revisionswerberin sei zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen; weder sie noch ihre Familie hätten einer solchen Heirat zustimmen wollen.

Es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerberin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an ihre Ethnie und ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität drohe.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht u.a. aus, relevante Schlüsse, die es aus den getroffenen Länderfeststellungen ziehe, seien dergestalt, dass Zwangsehen durch Mitglieder der Al Shabaab in den von dieser Gruppe kontrollierten Gebieten vorkämen; in beschränktem Ausmaß auch (noch) in Mogadischu. Das Fluchtvorbringen betreffend die Zwangsehe sei derart angelegt, dass eine Überprüfung des Wahrheitsgehaltes kaum möglich sei. Das Fluchtvorbringen sei "beinahe notgedrungen" blass und vage. Vor dem Hintergrund der damals relevanten länderspezifischen Informationen sei es (gemeint offenbar das Fluchtvorbringen) plausibel, wenn es auch trotz allem für das Bundesverwaltungsgericht "zu wenig Fläche" biete, um es tatsächlich als wahr festzustellen.

Das Risiko einer Zwangsverheiratung der Revisionswerberin im hypothetischen Fall einer Rückkehr bestehe tatsächlich nur im beschränkten Maße und überhaupt nur in bestimmten Teilen von Mogadischu. Die Revisionswerberin könne einem solchen Risiko in jenen Teilen Mogadischus, die davon betroffen seien, entgehen, indem sie mit ihrer Familie in einen anderen Stadtteil ziehe. Das "Faktum", dass jenes Al Shabaab Mitglied, das die Revisionswerberin hätte heiraten wollen, die Familie nicht mehr aufsuche und offenbar gar nicht wisse, wo sich diese aufhalte, spreche gegen ein entsprechend hohes Risiko, dass die Revisionswerberin im Falle ihrer Rückkehr von dem Mann gefunden und bestraft werde. Länderberichte würden zwar einhellig davon ausgehen, dass die Al Shabaab Rückkehrern aus dem Westen gegenüber misstrauisch eingestellt sei, Spionage fürchte und Verdächtige mit drakonischen Strafen verfolge; dies treffe allerdings nur für die Gebiete Süd- und Zentralsomalias, die unter der Kontrolle der Al Shabaab stünden, zu. Schließlich habe die Revisionswerberin auch keine Verfolgung aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu befürchten, weil ihre Kernfamilie sie aufnehmen und sie männlichen Schutz durch ihren Stiefvater finden könnte. Im Ergebnis sei somit davon auszugehen, dass eine entsprechend aktuelle und maßgebliche Verfolgungsgefahr betreffend die Revisionswerberin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur "Ethnie" der Ashraf oder zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Minderheitenangehörigen oder zur sozialen Gruppe von Frauen, die von Zwangsverheiratung mit Al Shabaab Mitgliedern bedroht seien, nicht zu befürchten wäre.

Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit einer Revision iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass eine einheitliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und eine ohnehin klare Rechtslage betreffend die Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten bestehe und davon auch nicht abgegangen worden sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 lautet:

"Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht."

§ 11 AsylG 2005 lautet:

"Innerstaatliche Fluchtalternative

§ 11. (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen."

Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention

lautet (auszugsweise):

"Artikel 1

Definition des Ausdruckes 'Flüchtling'

A. Als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens ist anzusehen, wer (...) 2. (...) aus wohlbegründeter Furcht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; (...)"

Die Revisionswerberin macht zur Zulässigkeit der Revision u. a. geltend, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil die Revisionswerberin auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen worden sei, obwohl ihr zuvor bereits der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden und diese Entscheidung auch in Rechtskraft erwachsen sei. Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative stehe im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaube, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben seien.

Bereits dieses Vorbringen führt die Revision zum Erfolg.

Das Bundesverwaltungsgericht führte zwar eine mündliche Verhandlung durch, kam aber zu dem Schluss, dass das Fluchtvorbringen der Revisionswerberin "beinahe notgedrungen blass und vage" geblieben sei, weshalb es zwar vor dem Hintergrund der "damals" relevanten Informationen plausibel sei, es aber "zu wenig Fläche biete", um es tatsächlich als wahr festzustellen. Im Zuge einer "Wahrunterstellung" verneinte das Bundeverwaltungsgericht die Asylrelevanz, weil laut den Länderfeststellungen Zwangsverheiratungen mit Mitgliedern der Al Shabaab zwar noch in beschränktem Ausmaß in gewissen Teilen Mogadischus vorkämen, dies aber vor dem Hintergrund der im Grundsatz geänderten Situation in Mogadischu für eine Asylgewährung nicht ausreiche. Die Revisionswerberin könne der Gefahr einer Zwangsverheiratung dadurch entgehen, dass sie mit ihrer Familie in einen anderen Stadtteil von Mogadischu ziehe.

Dass eine Verfolgung der Revisionswerberin aufgrund "Zwangsverheiratung" unter dem Gesichtspunkt einer geschlechtsspezifischen Verfolgung als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention asylrelevant sein kann, entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 15. September 2010, 2008/23/0463, mwN).

Davon ausgehend erscheint die Verneinung der Asylrelevanz des Vorbringens durch das Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung, bestimmte Stadtteile Mogadischus würden für die Revisionswerberin eine innerstaatliche Fluchtalternative darstellen, schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil ihr bereits vor dem Bundesasylamt subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative würde - wie es auch in der Revision vorgebracht wurde - im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme der innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind (vgl. die hg. Erkenntnisse jeweils vom 25. März 2015, Ra 2014/20/0022 und Ra 2014/18/0168).

Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und Z 5 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. Oktober 2015

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