Allgemeines
Mit der StPO-Nov BGBl 2020/14, den Art 16 (Verwaltungsrechtliches COVID-19-Begleitgesetz – COVID-19-VwBG), Art 21 (1. COVID-19-Justiz-Begleitgesetz – 1. COVID-19-JuBG) und Art 24 (Nov zur StPO) des 2. COVID-19-Gesetzes, BGBl I 2020/16, und Art 1, 32 und 36 des 4. COVID-19-Gesetzes, BGBl I 2020/24,1 sowie der V der BMJ, (COVID-19-V-Justiz), BGBl II 2020/113 idF II 2021/281, wurden für das Strafprozessrecht und das Verwaltungsstraf(verfahrens)recht (mit Ausnahme der Novellen zur StPO in Teilen befristet nunmehr bis zum 30.9.2021 bzw 31.12.2021) der aktuellen Situation geschuldete Sonderbestimmungen erlassen. Sie dienen dem Zweck der
- Verhinderung der Ausbreitung anzeigepflichtiger Krankheiten (einschließlich CODIV 19)2 durch Reduzierung persönlicher Kontakte und der
- Hintanhaltung daraus resultierender (rechtlicher) Nachteile für Betroffene, aber auch für die Rechtspflege.
Gemeinsam ist ihnen, dass die dadurch statuierten Abweichungen vom „Normalzustand“ lediglich vorübergehend in Geltung stehen, nämlich (je nach Regelung)
- im Strafprozessrecht für die Dauer der Verbindlichkeit von Maßnahmen nach dem COVID-19-MaßnahmenG, BGBl I 2020/12 idF I 2021/105 (derzeit grundsätzlich bis 31.12.20213), bzw für die Dauer einer Pandemie4 oder wenn (und solange) es zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten nach dem EpidemieG 1950 „förderlich“ ist (§ 174 StPO).
- im Verwaltungs(straf)verfahrens grundsätzlich bis 31. Dezember 2021, Fristen betreffend (vorerst)5 bis 30. April 2020.
Bei den Abweichungen handelt es sich daher um Zeitgesetze, unabhängig davon, ob sie unmittelbar auf Gesetzesebene (zB § COVID-19-VwBG) oder durch den Verordnungsgeber statuiert werden (insb COVID-19-V-Justiz) und sich der Gesetzgeber auf bloße Verordnungsermächtigungen zurückzieht oder die Beurteilung von der Vollziehung im Einzelfall zu treffen ist (zB Anknüpfung an die Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten).
Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung
Unmittelbar der Verhinderung der Ausbreitung des Virus dienen bzw dienten im Bereich
des Strafprozessrechts
- die Anordnung, dass die Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 einen wichtigen Grund für eine Bestimmung der Zuständigkeit und eine Delegierung (§§ 28, 39 StPO) darstellt (§ 1 COVID-19-V-Justiz). Der Regelung kommt bloß klarstellende Bedeutung zu, wobei die Entscheidung im Einzelfall bei den zuständigen Behörden bleibt.
- die weitgehende Einschränkung des Besuchsverkehrs in Justizanstalten auf telefonische Kontakte bestand in Wien und NÖ bis zum 21.5.2021 (§ 188 Abs 1 StPO; § 5 Abs 1 COVID-19-V-Justiz)6. Ausnahmen bestanden bloß für Besuche von Vertretern öffentlicher Stellen und von Betreuungseinrichtungen sowie von Rechtsbeiständen (§ 96 StVG). Bis zum Ablauf des 30.9.2021 dürfen gleichzeitig maximal zwei Besucher zum Besuch eines angehalten Beschuldigten zugelassen werden (§ 5 Abs 2 COVID-19-V-Justiz).
- die Ausdehnung der Möglichkeit des Einsatzes technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung (§ 153 Abs 4 StPO) zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (§ 4 Satz 1 COVID-19-V-Justiz)7
- generell bei Verhandlungen im Zusammenhang mit der Verhängung und Verlängerung der U‑Haft (§§ 174 Abs 1, 176 Abs 3 StPO; nicht mehr hingegen im Fall der vorläufigen Anhaltung eines Betroffenen nach § 429 Abs 5 StPO)8 sowie bei
- der Vernehmung des in U-Haft befindlichen Beschuldigten9 in der Haupt- (§ 239)10 und in Rechtsmittelverhandlungen (§§ 286 Abs 1a, 294 Abs 5, 296 Abs 3, 471 StPO). Im geschworenengerichtlichen Verfahren muss dies aber im Einzelfall aus besonders gewichtigen Gründen unabdingbar sein.
- die Möglichkeit der Abstimmung im Umlaufweg bei allen in nicht öffentlicher Sitzung zu erledigenden Angelegenheiten (§ 11 1. COVID-19-JuBG). Auf Antrag eines Senatsmitglieds ist jedoch eine Senatssitzung anzuberaumen.11
des Verwaltungs(straf)verfahrens
- die (nach § 6 COVID-19-VwBG auch auf das Verfahren der VwG durchschlagende) eingeräumten Ermächtigungen der Behörde ,
- im Zusammenhang mit mündlichen Verhandlungen (§§ 43 und 44 VStG), Vernehmungen (§ 24 VStG iVm §§ 48 bis 51 AVG, § 33 VStG) und dem mündlichen Verkehrs zwischen Behörden und Beteiligten einschließlich der Entgegennahme mündlicher Anbringen zur Verhütung und Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich oder zweckmäßig erscheinenden Anordnungen zu treffen (§ 3 Abs 1 COVID-19-VwBG).
- mündliche Verhandlungen, Vernehmungen, Augenscheine etc unter Verwendung geeigneter technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchzuführen, diese Amtshandlungen Sitz der Behörde oder an anderen Orten bzw allenfalls in Abwesenheit der Parteien durchzuführen (§ 3 Abs 2 COVID-19-VwBG).
- betreffend das BVwG die Möglichkeit der Abstimmung im Umlaufweg bei allen in nicht öffentlicher Sitzung zu erledigenden Angelegenheiten (§ 11 1. COVID-19-JuBG).
- die Ermächtigung für die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zur Einhebung von Organstrafverfügungen wegen Übertretungen nach dem EpidemieG 1950 bzw dem COVID-19-MaßnahmenG durch die V des BMSGPK BGBl II 2020/152 idF II 2020/427.
Maßnahmen zur Abfederung von Rechtsnachteilen
Der Abfederung (rechtlicher) Nachteile für die Betroffenen sowie die Rechtspflege dienen im Bereich
des Strafprozessrechts
- die grundsätzliche Unterbrechung der in der Folge genannten Fristen bis zum Ablauf des 30.4.2020. Sie begannen mit 1.5.2020 in voller Länger wieder zu laufen. Anderes gilt (mit Ausnahme der Frist des § 276a StPO) in jenen Fällen, in denen sich der Beschuldigte in Haft (und wohl auch der Betroffene in Anhaltung) befand; wurden diese zwischen 22.3.2020 und 13.4.2020 unterbrochen, begannen sie mit 14.4.2020 neu zu laufen (§ 12 Abs 2 1. COVID-19-JuBG aF). Im Übrigen bildete den Anknüpfungspunkt abermals (irgend-)ein verordnetes Betretungsverbot iSd COVID-19-MaßnahmenG. Erfasst wurden alle Fristen, deren fristauslösendes Ereignis in dieser Zeitspanne stattfand bzw die innerhalb derselben noch offen waren:12
- Rechtsmittelfristen betreffend Beschwerden (§§ 88 Abs 1, 430 Abs 5 StPO), Einsprüche (§§ 106 Abs 3, 213 Abs 2, 427 Abs 3, 478 Abs 1, 491 Abs 6 StPO), Fortführungsanträge (§§ 194 Abs 2, 195 Abs 2 StPO), Nichtigkeitsbeschwerden (§ 284 Abs 1 StPO) und Berufungen. Wenngleich § 3 COVID-19-V-Justiz insoweit bloß auf die §§ 294 Abs 1 und 466 verweist, gilt dies im Wege der Verweisnormen der §§ 344 und 489 auch im Geschworenen- und Einzelrichterverfahren13.
- Fristen zur Erteilung einer Ermächtigung zur Strafverfolgung (§ 92 Abs 1 StPO), zur (Gegen-) Äußerung im Einspruchsverfahren (§ 106 Abs 5 letzter Satz StPO), zu Nichtigkeitsbeschwerden (§ 285 Abs 1 StPO), Berufungen (§ 467 Abs 5 StPO) und im Wiederaufnahmeverfahren (§ 357 Abs 2 StPO).
- Fristen zur Herausgabe für verfallen erklärter oder konfiszierter Gegenstände (§ 408 Abs 1 StPO) sowie zur Bezahlung verhängter Geldstrafen (§ 409 Abs 1 StPO).
- Zweimonatsfrist des § 276a StPO, die der Anknüpfung an eine vertagte Verhandlung entgegensteht (§ 3 COVID-19-V-Justiz).
- Von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht gesetzte Fristen.
- die (bis 30.9.2021 relevante) Verlängerung der
- Höchstfristen, die dem Zahlungspflichtigen im Rahmen von Zahlungserleichterungen nach §§ 200 Abs 2 letzter Satz und Abs 3 sowie 409a Abs 3 StPO gewährt werden können, um jene Zeitspanne, für die zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 getroffene Maßnahmen das Erwerbsleben des konkreten Zahlungspflichtigen mittelbar oder unmittelbar betreffen (§ 6 COVID-19-V-Justiz). Erfasst werden Fälle, in denen derartige Fristen noch offen sind oder über die Gewährung von Zahlungserleichterungen erst entschieden wird. Im Fall bereits gewährter Zahlungserleichterungen ist eine neuerliche Antragstellung mit entsprechender Begründung erforderlich.
- Leistungsfristen nach § 201 Abs 1 und 3 StPO für die Dauer, in der eine Leistungserbringung auf Grund von der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 getroffenen Maßnahmen nicht möglich ist (§ 7 COVID-19-V-Justiz).
Von den weiteren, durch § 9 Einleitungssatz und Z 2 1. COVID-19-JuBG eröffneten Möglichkeiten, über die Fälle des § 183 StPO hinaus die Zuständigkeit einer anderen als der zuständigen Justizanstalt anzuordnen, ohne dass nach § 183 Abs 2 letzter Satz, Abs 3 und 4 Halbsatz 1 StPO vorgegangen werden müsste, wurde ebenso wenig Gebrauch gemacht, wie von jener der Anordnung, dass eigenhändige Zustellungen (§ 21 ZustG), Ladungen und Aufforderungen nur in Fällen verfügt werden dürfen, in denen der Beschuldigte in Haft angehalten wurde.
des Verwaltungs(straf)verfahrens (einschließlich jenes der VwG [§ 6 Abs 1 COVID-19-VwBG])
- die grundsätzliche Unterbrechung den Parteien eingeräumter verfahrensrechtlicher Fristen bis zum Ablauf des 30.4.2020; die genannten Fristen begannen mit 1.5.2020 „neu zu laufen“ (§ 1 Abs 1 COVID-19-VwBG).14
- die Fortlaufhemmung (§ 2 Abs 1 COVID-19-VwBG)
- behördlicher Entscheidungsfristen für die Zeit vom 22.3. bis 30.4.2020 (40 Tage) und ihre Verlängerung um sechs Wochen.15
- der Verjährungsfristen (einschließlich jener des § 43 VwGVG)16 um die Zeit vom 22.3. bis 30.4.2020 (40 Tage).
- die Verlängerung (§ 2 Abs 2 COVID-19-VwBG) der Frist zur Begleichung von in der Zeit vom 22.3. bis 30.4.2020
- ausgefertigten Anonymverfügungen auf sechs Wochen.
- am Tatort hinterlassenen oder dem Beanstandeten übergebenen Organstrafverfügungen mit Beleg auf vier Wochen.
- die Befugnis der sachlich in Betracht kommende Oberbehörde bei Ausfall einer Behörde und Gefahr im Verzug eine andere Behörde desselben Bundeslandes mit einer Sache zu betrauen (§ 4 Abs 2 COVID-19-VwBG; gleichartige für den VwGH bei Ausfall eines VwG § 6 Abs 1 COVID-19-VwBG).
Im Zusammenhang mit den weiteren Lockdowns wurden keine Unterbrechungen oder Hemmungen von Fristen statuiert.