VwGH Ro 2014/08/0082

VwGHRo 2014/08/008219.1.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Gruber, über die Revision der Pensionsversicherungsanstalt in Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht), vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Singerstraße 12/9, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. September 2014, W131 2005234- 1/5E, betreffend Selbstversicherung in der Pensionsversicherung nach § 18b ASVG (mitbeteiligte Partei: A S in O; weitere Partei:

Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
ASVG §18b Abs1;
BPGG 1993 §4;
BPGG 1993 §4a;
BPGG EinstufungsV 1999 §8;
B-VG Art130;
B-VG Art133;
B-VG Art144;
VwGVG 2014 §28 Abs3;
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
ASVG §18b Abs1;
BPGG 1993 §4;
BPGG 1993 §4a;
BPGG EinstufungsV 1999 §8;
B-VG Art130;
B-VG Art133;
B-VG Art144;
VwGVG 2014 §28 Abs3;

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Antrag der revisionswerbenden Partei auf Zuerkennung von Aufwandersatz wird abgewiesen.

Begründung

1. Die Mitbeteiligte stellte am 23. Oktober 2013 bei der Revisionswerberin einen Antrag auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung nach § 18b ASVG für Zeiten der Pflege eines nahen Angehörigen - ihres Lebensgefährten - ab dem 17. Oktober 2012. Sie gab an, ihre Arbeitskraft werde durch die Pflege des Lebensgefährten, der Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4 habe und mit ihr im gemeinsamen Haushalt lebe, erheblich beansprucht. Daneben gehe sie einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Ausmaß von 40 Stunden wöchentlich nach.

Dem Antrag war ein Bescheid der Revisionswerberin vom 1. Oktober 2013 angeschlossen, mit welchem dem Lebensgefährten die zunächst bis 30. September 2013 befristet zuerkannte Invaliditätspension unbefristet für die weitere Dauer der Invalidität gewährt und der Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4 ab dem 1. Oktober 2013 anerkannt wurde. In der Begründung wurde auf die gegebenen Einschränkungen des Lebensgefährten durch den zur eigenständigen Lebensführung erforderlichen überwiegenden Gebrauch eines Rollstuhls sowie das Vorliegen einer Stuhl- oder Harninkontinenz bzw. einer Blasen- oder Mastdarmlähmung hingewiesen.

2.1. Mit Bescheid vom 6. November 2013 lehnte die Revisionswerberin den Antrag der Mitbeteiligten ab, weil eine erhebliche Beanspruchung ihrer Arbeitskraft durch die Pflege nicht vorliege.

2.2. Die Mitbeteiligte erhob mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2013 Einspruch gegen den Bescheid und brachte vor, sie sei 38,5 Stunden in der Woche unselbständig beschäftigt, daneben liege eine erhebliche Beanspruchung ihrer Arbeitskraft durch die Betreuung und Pflege des Lebensgefährten vor. Sie beantrage daher die Selbstversicherung ab dem 1. November 2012. 3.1. Die Revisionswerberin führte auf Grund des Einspruchs Erhebungen durch, indem sie Teile der bei ihr anhängigen, den Lebensgefährten betreffenden Akten in Ablichtung zu den die Mitbeteiligte betreffenden Akten nahm, darunter auch ein "Ärztliches Gutachten" vom 21. August 2012 (zum Antrag auf Weitergewährung des zunächst bis 30. Juni 2012 befristet zuerkannten Pflegegelds der Stufe 4) sowie ein "Ärztliches Gesamtgutachten" vom 23. August 2013 (zum Antrag auf Weitergewährung der zunächst bis 30. September 2013 befristeten Invaliditätspension und auf weitere Pflegegeldgewährung). Nach dem Inhalt des zuletzt angeführten Gutachtens samt chefärztlicher Stellungnahme weise der Lebensgefährte einen funktionsbezogenen Pflegebedarf von 54 Stunden monatlich auf, diagnosebezogen stehe ihm jedoch ein Pflegegeld der Stufe 4 zu.

3.2. Die Revisionswerberin führte in ihrer Stellungnahme vom 24. Jänner 2014 ergänzend aus, es sei nicht davon auszugehen, dass die Mitbeteiligte im Hinblick auf ihre unselbständige Erwerbstätigkeit im Ausmaß von 38,5 bzw. laut dem ursprünglichen Vorbringen 40 Stunden wöchentlich, was einer Vollzeitbeschäftigung entspreche, den Lebensgefährten unter erheblicher Beanspruchung ihrer Arbeitskraft pflege. Im Übrigen gehe der Lebensgefährte seit Jänner 2013 einer geringfügigen Beschäftigung nach, sei laut dem ärztlichen Gutachten vom 23. August 2013 relativ selbständig, verfüge über ein behindertengerechtes Auto, könne daher selbst den Arbeitsplatz aufsuchen, könne sich Nahrungsmittel und Medikamente besorgen und benötige lediglich beim Kochen und bei der Körperpflege Unterstützung durch eine Pflegeperson. Im Hinblick darauf beschränkten sich die Pflegeleistungen der Antragstellerin auf einige Hilfestellungen und seien nur in einem untergeordneten Ausmaß erforderlich. Von einer erheblichen Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege könne nicht gesprochen werden.

4.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss hob das Verwaltungsgericht - auf das die Zuständigkeit zur Entscheidung über den als Beschwerde zu behandelnden Einspruch übergegangen ist (vgl. etwa den hg. Beschluss vom 1. Dezember 2015, Ra 2015/08/0172) - ohne weitergehende Beweisaufnahmen und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung den bekämpften Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG auf und verwies die Sache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an die Revisionswerberin zurück.

4.2. Das Verwaltungsgericht führte aus, unstrittig sei, dass die Mitbeteiligte eine außereheliche Lebensgemeinschaft mit dem von ihr gepflegten Lebensgefährten, der naher Angehöriger im Sinn des § 18b Abs. 1 ASVG sei, unterhalte.

Was das strittige Ausmaß der Beanspruchung ihrer Arbeitskraft durch die Pflege betreffe, so seien im bekämpften Bescheid und auch im Verwaltungsakt keine genauen Ermittlungen ersichtlich, welche konkreten Pflegeleistungen der Lebensgefährte benötige, welche Kenntnisse und Fähigkeiten eine Pflegeperson hierfür aufweisen müsse, ob die Mitbeteiligte nach ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten unter Berücksichtigung ihrer hauptberuflichen Erwerbstätigkeit auch zeitlich in der Lage sei, die Pflege im rechtlich erforderlichen Ausmaß von durchschnittlich 20 Stunden wöchentlich zweckentsprechend zu leisten, sowie ob die Mitbeteiligte die Pflegetätigkeiten auch tatsächlich leiste bzw. bisher geleistet habe.

4.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, strittig sei, ob eine "erhebliche" Beanspruchung der Arbeitskraft der Mitbeteiligten durch die Pflege im Sinn des § 18b Abs. 1 ASVG - wobei diese Bestimmung eine Selbstversicherung auch neben einer Erwerbstätigkeit zulasse - vorliege.

Pfeil (in Mosler/Müller/Pfeil (Hrsg.), Der SV-Komm (2. Lfg.), § 18b ASVG Rz 7) vertrete die Ansicht, dass im Hinblick auf die im § 18b Abs. 1 ASVG angeführte Pflegestufe 3 eine Pflegeleistung von mehr als 120 Stunden monatlich bzw. 30 Stunden wöchentlich bereits als mehr als erheblich anzusehen sei, und daher eine solche Inanspruchnahme nicht erforderlich sei, um den Anspruch auf Selbstversicherung zu begründen. Weiters sei mit Windisch-Graetz (in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm. (20. Lfg.), § 123 ASVG Rz 33) im Hinblick auf § 123 Abs. 7b ASVG - wonach Krankenversicherungsansprüche pflegender Angehöriger bei notwendigem Vorliegen zumindest der Pflegestufe 3 von einer ganz überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege abhängig seien - davon auszugehen, dass eine Pflegeleistung von mehr als etwa 30 Stunden wöchentlich bereits als ganz überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft zu erachten sei.

Die aufgezeigte Auslegung werde durch den allgemeinen Sprachgebrauch bestätigt, wonach etwas Erhebliches weniger bzw. von geringerer Intensität sei als etwas ganz Überwiegendes. Auch im Hinblick auf § 3 Arbeitszeitgesetz (AZG), wonach eine Vollzeitbeschäftigung bei 40 Stunden wöchentlich anzusetzen sei, erscheine es sachgerecht, von einer ganz überwiegenden Beschäftigung der Arbeitskraft bei 30 Stunden wöchentlich, von einer erheblichen Inanspruchnahme hingegen bei rund 20 Stunden auszugehen.

Eine solche Abgrenzung gewährleiste, dass die Selbstversicherung nach § 18b ASVG nicht inflationär bzw. allzu leicht zu Lasten des beitragszahlenden Bundes ermöglicht werde. Andererseits werde damit die Selbstversicherung nicht bloß für Personen eröffnet, die ihre bisherige Berufstätigkeit ganz überwiegend zur Pflege naher Angehöriger einschränkten bzw. aufgäben.

Bei der Ermittlung der Pflegestunden sei freilich nur auf eine zweckentsprechende Pflege Bedacht zu nehmen, könne doch nicht jedwede länger als erforderlich aufgewendete Zeit in Ansatz gebracht werden.

Ausgehend von den dargelegten Grundsätzen erscheine es lebensnah, dass die Mitbeteiligte trotz ihrer Erwerbstätigkeit im Umfang von 40 Stunden wöchentlich noch durchschnittlich 20 Stunden zur Pflege ihres Lebensgefährten aufwenden könne. Eine Pflege in diesem Umfang erfordere nicht zwingend eine Reduktion der daneben ausgeübten Vollzeitbeschäftigung, insbesondere wenn die Pflege flexibel auch außerhalb der für die Erwerbstätigkeit aufgewendeten Zeit erbracht werden könne.

Allerdings habe die Revisionswerberin die erforderlichen Ermittlungen bislang nicht durchgeführt, sodass der maßgebende Sachverhalt nicht feststehe (§ 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG). Eine Vornahme der Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht selbst komme nicht in Betracht, weil dies nicht im Interesse der Raschheit gelegen und auch mit keiner erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre (§ 28 Abs. 2 Z 2 VwGVG). Die Durchführung der - bislang nicht einmal ansatzweise erfolgten - umfangreichen und schwierigen (weil die Privatsphäre betreffenden) Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht wäre zumindest mit einem gleich hohen Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Im Übrigen trage die Nachholung der Ermittlungen durch die Revisionswerberin dem Umstand Rechnung, dass nach Art. 47 Grundrechte-Charta (GRC) die Gewährleistung eines Rechtsmittels an ein Gericht mit voller Kognitionsbefugnis in Tat- und Rechtsfragen geboten sei. Auch insofern sei daher die Zurückverweisung der Sache an die Revisionswerberin nach § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG erforderlich, um der Mitbeteiligten ein effektives (volles) Rechtsmittel an ein Gericht zu gewähren. Der Rechtszug an den Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof werde dem nicht gerecht.

Die Revisionswerberin werde im fortgesetzten Verfahren unter Bindung an die oben dargestellte Rechtslage nach Vernehmung der Mitbeteiligten und deren Lebensgefährten sowie nach Beiziehung von Sachverständigen festzustellen haben, welche konkreten Pflegeleistungen nötig seien, welche Kenntnisse und Fähigkeiten eine Pflegeperson hierfür aufweisen müsse, ob die Mitbeteiligte nach ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten unter Berücksichtigung der ausgeübten Erwerbstätigkeit zeitlich in der Lage sei, die Pflege im Ausmaß von durchschnittlich 20 Stunden wöchentlich zweckentsprechend zu leisten, sowie ob sie die Pflege im zu beurteilenden Zeitraum geleistet habe bzw. weiterhin leisten werde.

4.4. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei, weil Rechtsprechung zur Auslegung des § 18b Abs. 1 ASVG (insbesondere zur Voraussetzung einer erheblichen Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege bzw. zur Frage der notwendigen Reduktion einer bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit) fehle.

5. Gegen diesen Beschluss wendet sich die ordentliche Revision wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts.

Die Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz erstattete eine "Revisionsbeantwortung", in der er sich der Rechtsansicht der Revisionswerberin anschloss.

6. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revision ist zulässig, weil einerseits Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Auslegung bzw. Anwendung des § 18b Abs. 1 ASVG jedenfalls noch zur Frage fehlt, inwieweit die Grundsätze des hg. Erkenntnisses vom heutigen Tag, Ro 2014/08/0084, auch im Zusammenhang mit einer Mindesteinstufung nach § 4a Bundespflegegeldgesetz (BPGG) gelten (vgl. dazu die nachfolgenden Punkte 9. und 10.) und weil andererseits das Verwaltungsgericht durch das Vorgehen nach § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen ist (vgl. dazu die nachstehenden Punkte 11. und 12.).

7. § 18b Abs. 1 ASVG idF des Sozialversicherungs-Änderungsgesetzes - SVÄG 2005, BGBl. I Nr. 132/2005, lautet auszugsweise:

"Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege naher Angehöriger

§ 18b. (1) Personen, die einen nahen Angehörigen oder eine nahe Angehörige mit Anspruch auf Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 nach § 5 des Bundespflegegeldgesetzes oder nach den Bestimmungen der Landespflegegeldgesetze unter erheblicher Beanspruchung ihrer Arbeitskraft in häuslicher Umgebung pflegen, können sich, solange sie während des Zeitraumes dieser Pflegetätigkeit ihren Wohnsitz im Inland haben, in der Pensionsversicherung selbstversichern. Je Pflegefall kann nur eine Person selbstversichert sein. (...)"

8. Vorliegend ist unstrittig, dass die Mitbeteiligte einen nahen Angehörigen, nämlich ihren Lebensgefährten (vgl. zum Angehörigenbegriff die Materialien zum Sozialversicherungs-Änderungsgesetz - SVÄG 2005, BGBl. I Nr. 132/2005, ErläutRV 1111 BlgNR 22. GP 4), pflegt, wobei der Lebensgefährte Anspruch auf Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 - konkret der Stufe 4 - nach dem BPGG hat. Unstrittig ist weiters, dass die Pflege in häuslicher Umgebung erfolgt, zumal die Mitbeteiligte mit ihrem Lebensgefährten an derselben Anschrift im gemeinsamen Haushalt lebt. Die Mitbeteiligte hat zudem ihren eingangs angeführten Wohnsitz ununterbrochen im Inland. Ferner nimmt keine andere Person die Selbstversicherung für den Pflegefall in Anspruch.

Strittig und im Folgenden näher zu erörtern bleibt indessen, ob die Mitbeteiligte ihren Lebensgefährten unter "erheblicher Beanspruchung" ihrer Arbeitskraft pflegt, was von der Revisionswerberin im Hinblick auf die unselbständige Erwerbstätigkeit im Umfang von (zuletzt) 38,5 Wochenstunden in Zweifel gezogen wird.

9.1. Was unter einer "erheblichen" Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege zu verstehen ist, wurde vom Verwaltungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom heutigen Tag, Ro 2014/08/0084, auf dessen Gründe verwiesen wird (§ 43 Abs. 2 VwGG), klargestellt.

Demnach kommt es auf die Anzahl der von der pflegenden Person für den pflegebedürftigen nahen Angehörigen durchschnittlich zu leistenden Pflegestunden an, wobei eine "erhebliche" Beanspruchung der Arbeitskraft bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 14 Stunden wöchentlich bzw. ab 60 Stunden monatlich anzunehmen ist.

9.2. Was die Ermittlung der Anzahl der Pflegestunden betrifft, so sind - wie ebenso im Erkenntnis vom heutigen Tag ausgeführt wurde (§ 43 Abs. 2 VwGG) - nur jene Zeiten zu berücksichtigen, in denen tatsächlich notwendige Leistungen der Betreuung und Hilfe erbracht werden. Um welche Verrichtungen es sich dabei handelt und welcher zeitliche Aufwand damit jeweils verbunden ist, ist an Hand der Regelungen des BPGG und der dazu ergangenen Einstufungsverordnung - EinstV, BGBl. II Nr. 37/1999, zu beurteilen.

Dies gilt auch für Fälle, in denen im Pflegegeldverfahren keine funktionsbezogene Beurteilung des Pflegebedarfs nach § 4 BPGG, sondern eine - im § 4a BPGG für bestimmte Behindertengruppen vorgesehene - diagnosebezogene Mindesteinstufung erfolgt ist bzw. zu erfolgen hätte. Auch in jenen Fällen bedarf es der Ermittlung des funktionsbezogenen - also auf die individuell erforderliche Betreuung und Hilfe abstellenden - Pflegebedarfs (vgl. RIS-Justiz RS0106384), um das von § 18b Abs. 1 ASVG vorausgesetzte Vorliegen einer erheblichen Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege beurteilen zu können.

9.3. Vorliegend hat der Lebensgefährte auf Grund seiner Mindesteinstufung nach § 4a Abs. 2 BPGG einen diagnosebezogenen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4. Nach dem oben Gesagten ist auch in einem solchen Fall der funktionsbezogene Pflegebedarf (Anzahl der Pflegestunden) zu ermitteln, um das strittige Vorliegen einer erheblichen Beanspruchung der Arbeitskraft der Mitbeteiligten durch die Pflege beurteilen zu können.

Dabei kann - wie schon im Erkenntnis vom heutigen Tag festgehalten wurde - als Grundlage für die Ermittlung der Pflegestunden auch ein im Pflegegeldverfahren eingeholtes - soweit noch aktuelles bzw. sonst entsprechendes - Sachverständigengutachten (§ 8 EinstV) dienen. Vorliegend sind bereits zwei ärztliche Gutachten über den Pflegebedarf des Lebensgefährten in den Akten vorhanden, wobei insbesondere im Gutachten vom 23. August 2013 auch ein funktionsbezogener Pflegebedarf ausgewiesen ist.

10. Der Verwaltungsgerichtshof hat im oben genannten Erkenntnis vom heutigen Tag bereits hervorgehoben (§ 43 Abs. 2 VwGG), dass eine mehrfache Versicherung durch Kumulierung einer Selbstversicherung nach § 18b ASVG mit einer oder mehreren Pflichtversicherungen infolge Erwerbstätigkeit zulässig ist.

Vorliegend steht daher der Umstand, dass die Mitbeteiligte einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Umfang von 38,5 Stunden wöchentlich nachgeht, einer erheblichen Beanspruchung ihrer Arbeitskraft durch eine notwendige Pflege grundsätzlich nicht entgegen. Es erscheint vorweg auch nicht ausgeschlossen, dass die Mitbeteiligte neben ihrer unselbständigen Erwerbstätigkeit - mag diese auch einer Vollzeitbeschäftigung entsprechen - durchschnittlich weitere 14 Stunden (und mehr) wöchentlich für die Pflege ihres Lebensgefährten aufwenden könnte. Eine Pflege in diesem Ausmaß erfordert nicht zwingend eine Reduktion der ausgeübten Erwerbstätigkeit, insbesondere wenn die Arbeitszeiten und/oder die Pflegezeiten flexibel gestaltet werden können.

11.1. Soweit die Revisionswerberin (im Ergebnis) geltend macht, das Verwaltungsgericht hätte auf Basis der bereits vorliegenden Beweisergebnisse die weiteren Ermittlungen über die notwendigen Pflegeleistungen der Mitbeteiligten selbst durchführen und nicht nach § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG vorgehen dürfen, kommt der Revision Berechtigung zu.

11.2. Zu den für kassatorische Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG geltenden Voraussetzungen kann neuerlich auf das Erkenntnis vom heutigen Tag und die darin wiedergegebene Rechtsprechung verwiesen werden (§ 43 Abs. 2 VwGG).

Demnach ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt und sind diesbezügliche Ausnahmen strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden, etwa wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat, oder wenn sie Ermittlungen unterlassen hat, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, können die Zurückverweisung nicht rechtfertigen, wenn brauchbare allenfalls in der Verhandlung zu ergänzende Ermittlungsergebnisse vorliegen. Auch die Notwendigkeit der Einholung eines (weiteren) Gutachtens sowie die erforderliche Durchführung von Vernehmungen rechtfertigen im Allgemeinen nicht die Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG.

11.3. Vorliegend geht aus den Verwaltungsakten hervor, dass die Revisionswerberin bereits Ermittlungen zum Ausmaß der Pflegeleistungen der Mitbeteiligten veranlasst hat. So führte sie nach Erhebung des Einspruchs Ermittlungen durch, indem sie Teile der bei ihr anhängigen, den Lebensgefährten betreffenden Akten in Ablichtung zu den Akten der Mitbeteiligten nahm. Darunter befinden sich auch die ärztlichen Gutachten vom 21. August 2012 und vom 23. August 2013.

Folglich hat die Revisionswerberin bereits Ermittlungen zum maßgeblichen Sachverhalt durchgeführt. Auf Grundlage dieser brauchbaren Ermittlungsergebnisse hätte das Verwaltungsgericht zweckmäßiger Weise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die allenfalls notwendigen weiteren Erhebungen zu den von der Mitbeteiligten verrichteten Pflegestunden selbst durchführen müssen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann nicht gesagt werden, dass die Revisionswerberin - im Sinn des Vorliegens krasser bzw. besonders gravierender Lücken - keinerlei oder nur völlig ungeeignete bzw. ansatzweise Ermittlungen zu den wesentlichen Tatsachenfragen angestellt hätte oder sämtliche notwendigen Erhebungen auf das Verwaltungsgericht hätte übertragen wollen.

12. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem schon mehrfach erwähnten Erkenntnis vom heutigen Tag ferner ausgeführt hat (§ 43 Abs. 2 VwGG), wäre die Vornahme der ergänzenden Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht jedenfalls im Interesse der Raschheit gelegen.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Zurückverweisung auch nicht etwa im Hinblick auf Art. 47 GRC geboten, um der Mitbeteiligten ein effektives Rechtsmittel an ein Gericht mit voller Tatsachenkognition zu gewährleisten. Mit dem Verfahren beim Verwaltungsgericht hat die Mitbeteiligte Zugang zu einem Gericht im Sinn des Art. 47 GRC, das mit voller Kognitionsbefugnis in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht entscheiden kann. Eine solche Entscheidung kann sie beim Verfassungsgerichtshof und beim Verwaltungsgerichtshof bekämpfen und dabei insbesondere auch die Einhaltung des Unionsrechts erwirken.

13. Insgesamt waren daher die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung der Sache an die Revisionswerberin nicht gegeben, der angefochtene Beschluss war wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts (§ 42 Abs. 2 Z 1 VwGG) aufzuheben. Das Verwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren die allenfalls notwendigen ergänzenden Erhebungen durchzuführen und auf Grundlage der Ergebnisse selbst zu entscheiden haben.

14. Gemäß § 47 Abs. 4 VwGG hat die Revisionswerberin im Fall einer Amtsrevision nach Art. 133 Abs. 6 Z 2 B-VG keinen Anspruch auf Aufwandersatz; ein solcher kommt auch deswegen nicht in Betracht, weil sie selbst Rechtsträger im Sinn des § 47 Abs. 5 VwGG ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 7. April 2016, Ro 2014/08/0085).

Wien, am 19. Jänner 2017

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