VwGH Ra 2020/18/0098

VwGHRa 2020/18/009822.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des E N, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Oktober 2019, W250 2128649-2/9E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
MRK Art2
MRK Art3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180098.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 31. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass die Taliban und der Islamische Staat gegen Hazara seien. Zudem sei die Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz Ghazni schlecht und er könne nicht dorthin zurückkehren.

2 Mit Bescheid vom 26. Mai 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Beschluss vom 4. Mai 2017 statt, behob den Bescheid und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurück.

4 Mit Bescheid vom 26. Juni 2017 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz im zweiten Rechtsgang zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

6 Begründend führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber weder asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht habe noch drohe ihm eine solche aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit. Er könne zwar nicht in seine Herkunftsprovinz Ghazni zurückkehren, jedoch stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif offen.

7 Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 12. Dezember 2019, E 4445/2019-5, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 22. Jänner 2020, E 4445/2019-5, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG zur Entscheidung abtrat. 8 Gegen das Erkenntnis des BVwG richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das BVwG habe bei der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz außer Acht gelassen, dass der Revisionswerber Hazara sei. Zudem habe es keine Feststellungen zur Lage in Mazar-e Sharif getroffen und weder den EASO-Bericht von April 2019 noch den EASO-Bericht von Juni 2019 in seine Entscheidung miteinbezogen. Das Fehlen einer Tazkira verringere seine Überlebenschancen in den großen Städten. Da das BVwG nicht berücksichtigt habe, dass der Revisionswerber eine Gastfamilie habe, die ihm seit seiner Ankunft in Österreich helfe, leide das Erkenntnis an einem Begründungsmangel. Zudem habe das BVwG die Interessenabwägung nach § 9 Abs. 2 BFA-VG nicht richtig durchgeführt.

9 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.

10 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 13 Zur erforderlichen Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz erkennt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass dabei eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 18.2.2020, Ra 2020/18/0032, mwN).

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auch bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um dabei von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demnach reicht es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 18.11.2019, Ra 2019/18/0292, mwN). Dabei hat sich das BVwG auch mit den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 sowie den Vorgaben der EASO Country Guidance Notes zu Afghanistan in adäquater Weise auseinanderzusetzen (vgl. VwGH 30.12.2019, Ra 2019/18/0241, sowie VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, jeweils mwN).

15 Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits festgehalten hat, hindert allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. VwGH 29.1.2020, Ra 2019/18/0258, mwN).

16 Im Revisionsfall traf das BVwG Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Ghazni und in Mazar-e Sharif, berücksichtigte dabei auch die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 und setzte sich mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers auseinander. Demnach sei der Revisionswerber ein gesunder und volljähriger Mann, der zwar über keine Schulbildung in Afghanistan verfüge, aber bereits Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Bauarbeiter vorweisen könne. Er sei zwar noch nie in Mazar-e Sharif gewesen und habe dort auch keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte, jedoch könne er sich Ortskenntnisse aneignen. Überdies sei er - aufgrund des Aufwachsens in einer afghanischen Familie - mit den Gepflogenheiten Afghanistans vertraut und spreche Dari. Im Falle einer Rückkehr könne der Revisionswerber außerdem mit der finanziellen Unterstützung seiner Familie rechnen und Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen.

17 Die Revision vermag nicht darzutun, dass das BVwG mit dieser Beurteilung von der oben genannten Rechtsprechung abgewichen wäre.

18 Nach der hg. Rechtsprechung ist auch nicht ersichtlich, dass der Umstand, dass der Revisionswerber Angehöriger der Hazara sei, der Annahme der Zulässigkeit einer Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar-e Sharif bereits für sich entgegensteht (vgl. VwGH 29.1.2020, Ra 2019/18/0258, mwN). 19 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist von den mit Asylverfahren befassten Behörden und Gerichten zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen. Folglich hatte auch das BVwG seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0043, mwN).

20 Sofern der Revisionswerber vorbringt, das BVwG habe weder den EASO-Bericht von April 2019 noch den von Juni 2019 in das Erkenntnis miteinbezogen, macht er damit Verfahrensmängel geltend. Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 19.2.2020, Ra 2020/14/0001, mwN). 21 Wenn die Revision in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass nach dem EASO-Bericht vom April 2019 eine - auch dem Revisionswerber - fehlende Tazkira (afghanischer Personenstandsregisterauszug) zu einer erhöhten Vulnerabilität einer Person gegenüber möglicher behördlicher Schikanen führen kann ("lack of tazkera could increase a person's vulnerability to harassment from the authorities"), so legt sie mit diesem Verweis auf mögliche behördliche Schikanen noch keinen relevanten Verfahrensfehler dar, der zu einem anderen Ergebnis betreffend Zuerkennung von subsidiärem Schutz führen hätte können. 22 Weiters beanstandet der Revisionswerber die vom BVwG durchgeführte Interessenabwägung nach § 9 Abs. 2 BFA-VG. Nach der ständigen hg. Rechtsprechung ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG und daher vom VwGH im Revisionsmodell nur dann aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. VwGH 18.2.2020, Ra 2020/01/0022, mwN).

23 Das BVwG setzte sich im Rahmen seiner durchgeführten Interessenabwägung mit allen entscheidungswesentlichen sowie den zu Gunsten des Revisionswerbers sprechenden Umständen auseinander. Dabei berücksichtigte es die vierjährige Aufenthaltsdauer im Inland, seinen Schulbesuch, seine sehr guten Deutschkenntnisse, die sozialen Kontakte in Österreich und die Mitgliedschaft in einer Fußballmannschaft. Diese privaten Interessen stellte es sodann den öffentlichen Interessen gegenüber und kam zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an der Wahrung eines geordneten Fremden- und Aufenthaltswesens gegenüber den - durch den unsicheren Aufenthaltsstatus des Revisionswerbers - relativierten persönlichen Interessen des Revisionswerbers überwiegen würden.

24 Dass das BVwG die durchzuführende Interessenabwägung in einer vom VwGH aufzugreifenden Mangelhaftigkeit durchgeführt hat, ist nicht ersichtlich.

25 Wenn der Revisionswerber in der Revision vorbringt, das BVwG habe nicht berücksichtigt, dass er zu einer näher genannten österreichischen "Gastfamilie" Kontakte pflege, ist nicht ersichtlich, wie dies die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung beeinflusst hätte. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 17.12.2019, Ro 2019/18/0006, mwN). Eine solche besondere Abhängigkeit wurde in der Revision nicht dargelegt.

26 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 22. April 2020

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