VwGH Ra 2019/08/0143

VwGHRa 2019/08/01439.6.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Stickler und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (nunmehr: Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen) in Wien, vertreten durch Dr. Eva Bachmann‑Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Opernring 8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. August 2019, Zl. W178 2203479‑1/6E, betreffend Pflichtversicherung nach dem GSVG (mitbeteiligte Partei: R B in P; weitere Partei: Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Normen

GSVG 1978 §2 Abs1 Z4
GSVG 1978 §7 Abs4 Z3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019080143.L00

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Erkenntnis wird dahin abgeändert, dass die Beschwerde der mitbeteiligten Partei gegen den Bescheid der revisionswerbenden Partei vom 20. April 2018, VSNR. 4000 070867, als unbegründet abgewiesen wird.

Begründung

1 Mit Schreiben vom 3. August 2017 und Übermittlung des Fragebogens für Freiberufler nach § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG am 18. Oktober 2017 hat die Mitbeteiligte bekannt gegeben, dass ihre Einkünfte für 2017 den Betrag von € 5.108,40 überschreiten werden.

2 Mit Bescheid vom 20. April 2018 stellte die revisionswerbende Partei fest, dass die Mitbeteiligte auf Grund ihrer Tätigkeit als Trainerin, Supervisorin und Coach vom 3. August bis 31. Dezember 2017 der Pflichtversicherung in der Pensions‑ und Krankenversicherung gemäß § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG unterliegt.

3 Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte Beschwerde und brachte vor, eine nachträgliche Überprüfung der Pflichtversicherung durch die Gebietskrankenkasse (nunmehr: Österreichische Gesundheitskasse, im Folgenden ÖGK) habe ergeben, dass bestimmte Einkünfte (aus einem ihrer Auftragsverhältnisse) nicht den selbständigen Erwerbstätigkeiten, sondern einem (nach ASVG pflichtversicherten) Dienstverhältnis zuzuordnen seien. Da (nach Herausrechnung dieser Einkünfte) die Versicherungsgrenze nicht überschritten werde, ersuche sie, ab dem Jahr 2017 und die Folgejahre von der Pflichtversicherung nach dem GSVG ausgenommen zu sein.

4 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde Folge gegeben und festgestellt, dass die Mitbeteiligte vom 3. August bis 31. Dezember 2017 nicht der Pflichtversicherung in der Pensions‑ und Krankenversicherung gemäß § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG unterliegt.

5 Ein Verfahren nach § 412a ASVG (die Überprüfung der Pflichtversicherung durch die ÖGK beim Dienstgeber M.) habe ergeben, dass die Tätigkeit der Mitbeteiligten für den Verein M. nicht selbständig ausgeübt worden sei, sondern ein Dienstverhältnis bestanden habe. Dies sei von der Mitbeteiligten nicht in Frage gestellt worden. Die Umqualifizierung sei mit 16. April 2018, somit nach Abgabe der Überschreitungserklärung vom 3. August 2017 erfolgt. Die Mitbeteiligte sei im fraglichen Zeitraum für drei weitere Auftraggeber selbständig erwerbstätig gewesen. Die Einnahmen aus diesen selbständigen Tätigkeiten hätten sich im Jahr 2017 auf € 1.196,67 belaufen. In der Einkommensteuererklärung 2017 seien betriebliche Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von € ‑5.347,52 ausgewiesen. Dieses „Negativeinkommen“ sei in derselben Höhe auch im rechtskräftigen Einkommenssteuerbescheid 2017 vom 1. August 2018 erfasst.

6 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, einer Versicherungserklärung nach § 2 Abs. 1 Z 4 zweiter Satz GSVG komme die Rechtswirkung eines „opting‑in“ zu. Diese sei grundsätzlich bindend. Der Mitbeteiligten sei zum Zeitpunkt der Abgabe ihrer Versicherungserklärung nicht bekannt gewesen, dass sie die Versicherungsgrenze in Anbetracht der Umqualifizierung ihrer Tätigkeit betreffend einen der Auftraggeber in ein ASVG‑versicherungspflichtiges Dienstverhältnis nicht überschreiten werde. Die Willenserklärung der Mitbeteiligten beruhe auf der Informationslage zum damaligen Zeitpunkt und „bringt den Willen zum Ausdruck, dass sie auf Grund der voraussichtlichen Überschreitung des Grenzbetrages versichert sein wolle“. Mit der erfolgten Umqualifizierung und Unterschreitung des Grenzbetrages sei

„die Grundlage für die getätigte Willenserklärung ohne Zutun der [Mitbeteiligten] weggefallen. Die Erklärung der [Mitbeteiligten] ist daher mit einem Willensmangel behaftet, weil sich die [Mitbeteiligte] in einem Irrtum über die tatsächliche Höhe der selbständigen Einkünfte befunden hat“.

7 Der Irrtum allein mache die Willenserklärung nicht unwirksam. In bestimmten Fällen berechtige der Irrtum aber dazu, die Folgen der irrtümlich abgegebenen Willenserklärung rückwirkend zu beseitigen bzw. ‑ wie im gegenständlichen Fall ‑ eine rechtlich wirksame Rücknahme der Erklärung zu akzeptieren. Der Wegfall der Grundlage der Willenserklärung sei auf Grund des Grundsatzes von Treu und Glauben zu berücksichtigen und führe dazu, dass „die rückwirkende Zurücknahme der Versicherungserklärung zuzulassen ist“. Es seien „die allgemeinen Grundsätze der Interpretation anzuwenden“.

8 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich Revision. Die mitbeteiligte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11 Die revisionswerbende Sozialversicherungsanstalt sieht entgegen dem Ausspruch des Bundesverwaltungsgerichts eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG dadurch aufgeworfen, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung zur Frage der Wirkung einer Versicherungserklärung nach § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG abgewichen ist. Der Versicherungserklärung komme die Rechtswirkung eines „opting‑in“ zu. Die Sozialversicherungsanstalt habe bei Entgegennahme der Versicherungserklärung nicht zu prüfen, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Überschreitungserklärung realistischen Annahmen entspreche. Es hänge nur von einer Willenserklärung des Versicherten ab, ob er unabhängig von der tatsächlichen Höhe der erzielten Einkünfte versichert sein möchte oder ob er nur im Nachhinein unter der Voraussetzung versichert sein möchte, dass nach dem jeweiligen Einkommensteuerbescheid die Einkünfte im betreffenden Kalenderjahr die Versicherungsgrenze übersteigen würden. Eine Beendigung der Pflichtversicherung vor dem Vorliegen des endgültigen Einkommensnachweises sei gemäß § 7 Abs. 4 Z 3 GSVG mittels Erklärung möglich, dass die maßgebliche Versicherungsgrenze auf Grund der voraussichtlichen Einnahmen (doch) nicht überschritten werde; dies mit Wirksamkeit zum letzten des Kalendermonats, in dem die Erklärung abgegeben werde. Auch nach der Umqualifizierung des Auftragsverhältnisses zum Verein M. in ein Dienstverhältnis im Zeitraum vom Jänner bis Juli sowie von September bis Dezember 2017 sei die Mitbeteiligte daneben (im August ausschließlich) für weitere Auftraggeber selbständig betrieblich tätig gewesen und habe aus dieser Tätigkeit Einkünfte im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG erzielt. Diese Einkünfte hätten im Jahr 2017 unstreitig die Versicherungsgrenze nicht überschritten. Gerade für diese Fallkonstellation sehe die Systematik der Überschreitungserklärung vor, dass es zu keinem rückwirkenden Wegfall der Pflichtversicherung komme. Dies gelte auch für die Nichtüberschreitung der Versicherungsgrenze auf Grund einer Umqualifizierung eines Auftragsverhältnisses in ein Dienstverhältnis. Die Angelegenheit sei nicht anders zu beurteilen als Fälle, in denen entgegen angenommener bzw. erwarteter Aufträge keine Abschlüsse erzielt werden könnten und die erwartete Überschreitung nicht eintrete. Ein Irrtum über die Höhe der selbständigen Einkünfte würde nicht berechtigen, die Folgen einer Versicherungserklärung zu beseitigen. Sollte die rückwirkende Umqualifizierung in ein Dienstverhältnis nicht den gesamten Ausübungszeitraum (der selbständigen Tätigkeit) erfassen, wäre durch die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene Beseitigung der (bisher) festgestellten Pflichtversicherung nach dem GSVG die Möglichkeit eines fehlenden Versicherungsschutzes gegeben. Das angefochtene Erkenntnis widerspreche der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes. Das Bundesverwaltungsgericht hätte zum Ergebnis kommen müssen, dass die Mitbeteiligte mit Abgabe der Überschreitungserklärung bis zu deren Widerruf, sohin für den streitgegenständlich festgestellten Zeitraum, der Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG unterliegt. Daran ändere auch das Sozialversicherungs‑Zuordnungsgesetz nichts. Für den Fall einer teilweisen Umqualifizierung einer von der abgegebenen Versicherungserklärung umfassten Tätigkeit sei vorgesehen, dass es zu keinem vollständigen Storno der Pflichtversicherung nach dem GSVG komme. Die nunmehrige Zuordnung der Tätigkeit zum ASVG wirke sich im Rahmen der Beitragsgrundlagenbildung nach dem GSVG aus. Gemäß § 41 Abs. 3 GSVG seien zu Ungebühr entrichtete Beiträge an den für die Beitragseinhebung zuständigen Krankenversicherungsträger zu überweisen. Es bestehe im Bereich des § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG keine Gesetzeslücke und kein Raum für eine Feststellung, dass „unter Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Interpretation“ keine Pflichtversicherung festzustellen sei.

12 Mit diesem Vorbringen zeigt die revisionswerbende Sozialversicherungsanstalt eine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG auf. Die Revision ist auch berechtigt.

13 § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG sollte die Einbeziehung aller selbständig Erwerbstätigen in die Sozialversicherung sicher stellen. Um alle Einkünfte aus Erwerbstätigkeiten zu erfassen, wurde die Art des erzielten Einkommens für maßgeblich erklärt. Die entsprechenden Bestimmungen orientieren sich am Einkommensteuergesetz 1988 (vgl. die allgemeinen Ausführungen in den Erl zur RV 886 BlgNR 20. GP ). In den Erl zur RV 1235 BlgNR 20. GP , wird im Besonderen Teil (Seite 17) dazu Folgendes ausgeführt:

„Die gesetzliche Konzeption der Pflichtversicherung für ‚neue Selbständige‘ geht zum einen davon aus, dass bereits bei Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit die Pflichtversicherung beginnt (§ 6 Abs. 4 Z 1 GSVG) und dies eine Meldepflicht nach § 18 nach sich zieht. Bedeutsam für das Entstehen der Pflichtversicherung ist aber überdies, ob die Versicherungsgrenzen nach § 4 Abs. 1 Z 5 bzw. Z 6 GSVG (voraussichtlich) überschritten werden oder nicht. Wird also die Pflichtversicherung jedenfalls bereits mit dem Beginn der Erwerbstätigkeit begründet, so kann über das Vorliegen eines Ausnahmegrundes nach § 4 Abs. 1 Z 5 bzw. Z 6 GSVG erst nach Vorliegen des entsprechenden Einkommensteuerbescheides oder sonstiger maßgeblicher Einkommensteuernachweise (also unter Umständen Jahre später) abgesprochen werden.

An der beschriebenen Systematik ist erkennbar, dass es im Bereich der Sozialversicherung aus Gründen der Rechtssicherheit zwar unbedingt erforderlich ist, ex ante zu wissen, ob jemand der Pflichtversicherung unterliegt oder nicht, dies jedoch ‑ dem Wesen der selbständigen Einkünfte entsprechend ‑ nicht möglich ist, weil das Über- oder Unterschreiten der Versicherungsgrenze exakt immer erst im Nachhinein festgestellt werden kann. Gerade in der Krankenversicherung und Unfallversicherung, aber auch in der Pensionsversicherung, ist es aber unabdingbar notwendig zu wissen, ob für eine Person Versicherungsschutz gegeben ist. Dazu kommt, dass sich an die Feststellung des Vorliegens der Pflichtversicherung auch die Beitragspflicht und in der weiteren Folge die im Gesetz vorgesehenen Rechtsfolgen bei Nichtzahlung der Beiträge knüpft. Die im ASRÄG 1997 vorgesehenen diesbezüglichen Bestimmungen (insbesondere die §§ 2 Abs. 1 Z 4, 3 Abs. 1 Z 2 und 4 Abs. 1 Z 5 und 6 GSVG) regeln diese angesprochenen Fragen nicht mit der nötigen Deutlichkeit.

Die vorgeschlagene Regelung soll eine ausreichende Grundlage zur Lösung dieser Problematik sein. Künftig soll hinsichtlich des Eintritts der Pflichtversicherung der Erklärung des Versicherten, ob er die Versicherungsgrenze überschreiten wird oder nicht, maßgebliche Bedeutung zukommen.

1. Erklärt der Versicherte, dass er die maßgebliche Versicherungsgrenze überschreiten wird, soll mit Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit Pflichtversicherung in der Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung mit allen beitragsrechtlichen Konsequenzen eintreten. Stellt sich nach Vorliegen des rechtskräftigen Einkommensteuerbescheides oder der sonstigen Einkommensnachweise im Nachhinein heraus, dass entgegen der Erklärung des Versicherten die maßgeblichen Versicherungsgrenzen nicht überschritten wurden, soll dies rückwirkend am Versicherungsverhältnis nichts ändern. Der Versicherte steht für diesen Zeitraum trotzdem unter Versicherungsschutz und erwirbt Monate der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung auf der Mindestbeitragsgrundlage. Dem Versicherten steht jedoch die Möglichkeit offen, jederzeit bis zum Vorliegen der endgültigen Einkommensnachweise durch eine gegenteilige Erklärung seine Pflichtversicherung wieder zu beenden, indem er erklärt, die maßgeblichen Versicherungsgrenzen mit seinen Einkünften voraussichtlich nicht zu überschreiten. Die Pflichtversicherung endet sodann mit dem Letzten des Kalendermonats, der auf die Erklärung folgt.

2. Erklärt der Versicherte, dass er die Versicherungsgrenze mit seinen Einkünften nicht überschreiten wird oder gibt er keine Erklärung ab, so darf die Pflichtversicherung erst nach Vorliegen des rechtskräftigen Einkommensteuerbescheides oder der sonstigen maßgeblichen Einkommensnachweise ‑ dann allerdings rückwirkend mit Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit ‑ festgestellt werden.

In den Fällen des Punktes 2 besteht die Möglichkeit, den Krankenversicherungsschutz ex nunc durch eine Erklärung im Sinne des § 3 Abs. 1 Z 2 GSVG freiwillig zu erlangen.

Überschreitet der Versicherte mit seinen Einkünften die maßgeblichen Versicherungsgrenzen und wird im Nachhinein die Pflichtversicherung festgestellt, so soll zu den vorgeschriebenen Beiträgen als Ausgleich für den durch die spätere Entrichtung der Beiträge entstandenen Zinsgewinn ein Zuschlag in der Höhe von 9,3% der Beiträge geleistet werden müssen. Dies soll jedoch dann nicht gelten, wenn auf Antrag eine Pflichtversicherung in der Krankenversicherung gemäß § 3 Abs. 1 Z 2 GSVG begründet wurde.“

14 Angesichts der Schwierigkeit, dass das Unter- oder Überschreiten der maßgeblichen Versicherungsgrenzen in der Regel erst im Nachhinein festgestellt werden kann, besteht das System dieser Pflichtversicherung somit darin, dass der Versicherte entweder „ex ante“ eine Erklärung abgibt, dass die maßgebliche Versicherungsgrenze im Beitragsjahr überschritten wird (dies mit der Konsequenz des unwiderruflichen Eintretens der Versicherung mit Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit bis zu deren Beendigung, dem Wegfall der berufsrechtlichen Berechtigung oder einem ausdrücklichen Widerruf der Versicherungserklärung ‑ § 7 Abs. 4 GSVG), oder dass er ‑ bei Fehlen einer solchen Erklärung ‑ erst im Nachhinein und nach Maßgabe des jeweiligen steuerlichen Ergebnisses der Erwerbstätigkeit in die Pflichtversicherung einbezogen wird.

15 Die Abgabe einer Versicherungserklärung bewirkt daher, dass das Versicherungsverhältnis auch dann für den Zeitraum der Ausübung der betreffenden selbständigen Erwerbstätigkeit bestehen bleibt, wenn sich nach Einlangen des maßgeblichen Einkommensteuerbescheides herausstellt, dass die Versicherungsgrenze entgegen der abgegebenen Erklärung unterschritten wurde. Insoweit kommt der Versicherungserklärung die Rechtswirkung eines „opting in“ zu: Es ist von der Sozialversicherungsanstalt bei Entgegennahme der Erklärung nämlich nicht zu prüfen, ob tatsächlich Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Erklärung, es werde die Versicherungsgrenze überschritten werden, realistischen Annahmen entspricht. Maßgeblich ist ausschließlich, ob die betreffende Person eine Erwerbstätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG tatsächlich ausübt, ob durch diese Tätigkeit nicht nach anderen bundesgesetzlichen Bestimmungen eine Pflichtversicherung eingetreten ist und ob sie die erwähnte Erklärung betreffend das voraussichtliche Überschreiten der Versicherungsgrenze abgegeben hat. Es hängt daher der Sache nach nur von einer Willenserklärung des Versicherten ab, ob er unabhängig von der tatsächlichen Höhe der erzielten Einkünfte versichert sein möchte oder ob er nur im Nachhinein unter der Voraussetzung versichert sein möchte, dass nach dem jeweiligen Einkommensteuerbescheid die Einkünfte im betreffenden Kalenderjahr die Versicherungsgrenze überstiegen haben.

16 Will daher der Versicherte vor dem Vorliegen des endgültigen Einkommensnachweises die durch eine Erklärung begründete Versicherung nach § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG wieder beenden, so genügt gemäß § 7 Abs. 4 Z 3 GSVG die Erklärung, dass die maßgebliche(n) Versicherungsgrenze(n) auf Grund der voraussichtlichen Einnahmen (doch) nicht überschritten werde(n). Eine derartige Erklärung beendet sodann die Pflichtversicherung mit dem Letzten des Kalendermonats, in dem die Erklärung abgegeben wird. Sie hindert nach dem Gesagten zwar nicht eine (rückwirkende) Feststellung der Pflichtversicherung für denselben Zeitraum bei Vorliegen eines entsprechenden ‑ die Versicherungsgrenze(n) (doch) überschreitenden ‑ Einkommensteuerbescheides, wohl aber schiebt sie die Durchführung dieser Versicherung bis zu jenem Zeitpunkt auf, zu dem der entsprechende Einkommensteuerbescheid vorliegt, sofern dieser ergibt, dass die Versicherungsgrenze tatsächlich überschritten wurde (VwGH 5.11.2003, 2000/08/0085; 20.10.2004, 2002/08/0188; 29.3.2006, 2003/08/0160; 30.6.2009, 2009/08/0007; 9.9.2015, Ra 2015/08/0034). Die Versicherungserklärung hat sich ausdrücklich auf die jeweiligen Einkünfte „im Kalenderjahr“ zu beziehen, die die jeweilige Versicherungsgrenze dieses Kalenderjahres nach der Erklärung „übersteigen werden“. Wenn und solange weder eine Versicherungserklärung im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG (noch ein Einkommensteuerbescheid) für das betreffende Jahr vorliegt, kann über die Pflichtversicherung in diesem Jahr nicht abgesprochen werden (VwGH 30.6.2009, 2008/08/0272).

17 Demnach ist eine Versicherungserklärung im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 4 zweiter Satz GSVG keine Wissenserklärung. Sie ist als Willenserklärung des Versicherten darauf gerichtet, in die Pflichtversicherungen in der Krankenversicherung und in der Pensionsversicherung einbezogen werden zu wollen (opting in).

18 Öffentlich‑rechtliche Willenserklärungen müssen zwar frei von Willensmängeln sein, um Rechtswirkungen zu entfalten. Auf die Absichten, Motive und Beweggründe, welche eine Partei zur Abgabe einer Willenserklärung gegenüber einer Behörde veranlasst haben, kommt es hingegen nicht an, solange keine Anhaltspunkte vorliegen, dass sie dazu von der Behörde durch Druck, Zwang oder Drohung bewogen wurde (VwGH 2.2.2012, 2011/04/0017).

19 Den Feststellungen zufolge hat die Mitbeteiligte bei Abgabe ihrer Versicherungserklärung für das Kalenderjahr 2017 damit gerechnet, dass alle Tätigkeiten für die genannten Auftraggeber in diesem Jahr als selbständige Tätigkeiten im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG zu qualifizieren sein würden. Dies und die damit verbundene unrichtige Vorstellung über die Höhe der Einkünfte aus diesen selbständigen Tätigkeiten im Jahr 2017 war Beweggrund für die Abgabe der Versicherungserklärung, sie betraf aber nicht deren Inhalt. Nach dem Gesagten kommt es aber auf die Beweggründe, welche die Partei zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst haben, nicht an. Der Umstand, dass die Einkünfte der Mitbeteiligten entgegen ihren Erwartungen die maßgebliche Versicherungsgrenze unterschritten haben, kann sohin an den Rechtswirkungen der Versicherungserklärung nichts ändern.

20 Das Bundesverwaltungsgericht hat § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG einen unrichtigen Inhalt betreffend den Bestand und die Wirksamkeit einer Versicherungserklärung unterstellt und das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet (§ 42 Abs. 2 Z 1 VwGG).

21 Es steht unbestritten fest, dass die Mitbeteiligte im gegenständlichen Zeitraum die sonstigen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG erfüllt hat. Der Revision war daher im aufgezeigten Sinn Folge zu geben. Nach § 42 Abs. 4 VwGG konnte der Verwaltungsgerichtshof in der Sache selbst entscheiden, weil die Sache entscheidungsreif war und die Entscheidung in der Sache selbst im Interesse der Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Kostenersparnis lag.

Wien, am 9. Juni 2020

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