VwGH Ra 2016/11/0120

VwGHRa 2016/11/01209.11.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision der BUAK Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse in Wien, vertreten durch Mag. Vera Noss, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Reichsratstraße 17/11, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 8. Juni 2016, Zl. LVwG-300154/29/MK/BZ, betreffend Übertretung des § 7i Abs. 3 AVRAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz; mitbeteiligte Partei: S K in H, vertreten durch Mag. Wolfgang Kempf, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Bürgerstraße 41), zu Recht erkannt:

Normen

AufwandersatzV VwGH 2014;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
AVRAG 1993 §7i Abs3;
B-VG Art133 Abs4;
VwGG §47 Abs5;
VwGVG 2014 §29 Abs1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2016110120.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Die Aufwandersatzbegehren der Revisionswerberin und der belangten Behörde werden abgewiesen.

Begründung

1.1. Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom 4. März 2013 wurde der Mitbeteiligte als verwaltungsstrafrechtlich verantwortlicher Geschäftsführer einer näher bezeichneten Gesellschaft der Übertretung des § 7i Abs. 3 Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) schuldig erkannt, weil diese Gesellschaft als Arbeitgeberin vier namentlich genannte Arbeitnehmer im Zeitraum 1. September 2011 bis 31. Oktober 2011 als Eisenbieger beschäftigt habe, ohne ihnen den nach dem Kollektivvertrag zustehenden Grundlohn (Bruttostundenlohn von EUR 11,46) geleistet zu haben. Über den Mitbeteiligten wurden deshalb vier Geldstrafen zu je EUR 2.500,-- verhängt.

In der Begründung nahm die belangte Behörde, ausgehend von einer Anzeige der Revisionswerberin, an, dass die Arbeitnehmer nur einen Bruttostundenlohn von EUR 9,92 erhalten hätten, was einer Unterentlohnung von 13,4 % entspreche. Im Gegensatz zur Ansicht des Mitbeteiligten, die genannten Arbeitnehmer seien bloß als "Hilfsarbeiter" beschäftigt und daher nur als solche zu entlohnen gewesen, hätte die Einstufung derselben richtigerweise nach der Lohnstufe IIIc ("angelernte Arbeitnehmer/Eisenbieger, -flechter") des Kollektivvertrages für das Baugewerbe erfolgen müssen, zumal die Tätigkeit des Eisenbiegens in Österreich von "angelernten Hilfskräften" ausgeführt werde.

1.2. Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Mitbeteiligte Beschwerde (im Einbringungszeitpunkt noch Berufung), und führte aus, weshalb die Einstufung der Arbeitnehmer richtiger Weise als "Hilfsarbeiter" und nicht als "angelernte Arbeiter" zu erfolgen habe.

1.3. Mit Erkenntnis vom 14. März 2014 gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde statt und hob das genannte Straferkenntnis unter gleichzeitiger Einstellung des Strafverfahrens auf. Der Verwaltungsgerichtshof hob dieses Erkenntnis mit Erkenntnis vom 14. Dezember 2015, Zl. Ra 2014/11/0013, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf, weil die Beschwerde des Mitbeteiligten, obwohl in dieser neue Tatsachen vorgebracht worden waren, der Revisionswerberin entgegen § 10 VwGVG nicht zugestellt wurde.

1.4. Mit dem nunmehr angefochtenen (Ersatz‑)Erkenntnis vom 8. Juni 2016 gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten gemäß § 50 VwGVG neuerlich statt und hob das angefochtene Straferkenntnis bei gleichzeitiger Einstellung des Strafverfahrens auf. Gemäß § 25a VwGG wurde ausgesprochen, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

Begründend führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, es stehe nach der nunmehr durchgeführten Verhandlung fest, dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer im angelasteten Tatzeitraum "Hilfsarbeiten, wie Eisen tragen (zur jeweiligen Position) und Eisen legen ausgeführt haben", wobei sie vom Vorarbeiter angewiesen worden seien. Sie hätten auf der Baustelle auch unter Anleitung "Eisen gebunden, um es zu lernen, vor allem auch die Anordnung und Auswahl der Bauteile".

In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, die Beurteilung, ob der Mitbeteiligte den nach dem Kollektivvertrag zustehenden Grundlohn iSd § 7i Abs. 3 AVRAG geleistet habe, hänge davon ab, ob die genannten Arbeitnehmer im genannten Zeitraum Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters ausgeführt hätten, weil sie diesfalls unterentlohnt worden wären. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts seien die Arbeitnehmer gegenständlich aber nicht zu Tätigkeiten des "angelernten Eisenbiegers und Eisenflechters" herangezogen worden, sondern ausschließlich als "Hilfsarbeiter" (so auch die Bezeichnung in den Dienstverträgen), und zwar zum Eisentragen, Eisenlegen und, soweit sich Zeit gefunden habe, unter Anleitung zum Eisenbinden, wobei sie lediglich ihnen aufgetragene Arbeiten erledigt hätten. Ein "selbständiges Arbeiten" habe nicht festgestellt werden können. Tatsächlich vorhandene "Überqualifikationen" seien nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes unbeachtlich, vielmehr komme es allein auf die konkrete Beschäftigung an.

1.5. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse, zu der die belangte Behörde und der Mitbeteiligte jeweils eine Revisionsbeantwortung erstattet haben.

 

2. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

2.1. § 7i AVRAG lautet in der für den Tatzeitraum maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 24/2011 auszugsweise:

"Strafbestimmungen

§ 7i. ...

(3) Wer als Arbeitgeber/in ein/en Arbeitnehmer/in beschäftigt oder beschäftigt hat, ohne ihm/ihr zumindest den nach Gesetz, Verordnung oder Kollektivvertrag zustehenden Grundlohn unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien zu leisten, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe zu bestrafen, sofern die Tat nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet. Sind von der Unterentlohnung höchstens drei Arbeitnehmer/innen betroffen, beträgt die Geldstrafe für jede/n Arbeitnehmer/in 1 000 Euro bis 10 000 Euro, im Wiederholungsfall 2 000 Euro bis 20 000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer/innen betroffen, für jede/n Arbeitnehmer/in 2 000 Euro bis 20 000 Euro, im Wiederholungsfall 4 000 Euro bis 50 000 Euro.

...

(8) Im Fall des Abs. 3 in Verbindung mit § 7h kommt der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse Parteistellung und die Berechtigung zu, gegen Entscheidungen Rechtsmittel und Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof zu erheben.

..."

2.2. Die Revisionslegitimation der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse ergibt sich aus § 7i Abs. 8 AVRAG.

2.3. Die Revision führt zu ihrer Zulässigkeit und zum Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG aus, das Verwaltungsgericht, das gegenständlich "Überqualifikationen" der Arbeitnehmer als "unbeachtlich" gewertet habe, sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im zitierten Vorerkenntnis, Zl. Ra 2014/11/0013, abgewichen, aus dessen Entscheidungsgründen hervorgehe, dass vorhandene Vordienstzeiten und Ausbildungen der betroffenen Arbeitnehmer für die Beurteilung, ob diese als Hilfsarbeiter oder als angelernte Arbeiter iS des bezeichneten Kollektivvertrages zu entlohnen seien, sehr wohl wesentlich sein können.

2.4. Im vorliegenden Revisionsfall geht es im Kern um die Frage, ob die im Straferkenntnis bezeichneten Arbeitnehmer des Mitbeteiligten nach dem Kollektivvertrag für die Bauindustrie und das Baugewerbe (in der für den Tatzeitraum maßgebenden Fassung) als "angelernte Arbeiter" und daher, so der Tatvorwurf, mit einem Bruttostundenlohn von EUR 11,46 hätten entlohnt werden müssen, oder ob (wie das Verwaltungsgericht meint) der bezahlte Bruttostundenlohn von EUR 9,92 rechtmäßig war, weil diese Arbeitnehmer nach dem Kollektivvertrag nur als "Hilfsarbeiter" zu entlohnen waren.

2.5. Die Beurteilung, ob ein Arbeitnehmer die Kriterien für eine Einstufung in eine bestimmte Gehaltsgruppe erfüllt, kann immer nur nach den Umständen des Einzelfalls vorgenommen werden, sodass diese Beurteilung noch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung begründet (vgl. auch den Beschluss des OGH vom 22. Oktober 2012, 9 ObA 114/12y). Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liegt aber dann vor, wenn diese Beurteilung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen wurde (vgl. den hg. Beschluss vom 8. Juni 2015, Zl. Ra 2015/08/0005), was gegenständlich der Fall ist, weil, wie sich aus nachstehenden Ausführungen ergibt, grundlegende Feststellungen fehlen.

Die Revision ist daher zulässig, sie ist auch begründet:

2.6. Der Grundsatz, dass sich die Einstufung in eine bestimmte Verwendungsgruppe eines Kollektivvertrages nach den tatsächlich geleisteten Diensten richtet, gilt nicht, wenn der Kollektivvertrag (zumindest auch) formale Voraussetzungen für die Einstufung ausdrücklich festlegt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 21. November 2013, Zl. 2012/11/0178, mit Verweis auf das Urteil des OGH vom 18. Juni 2009, 8 ObA 20/09p).

Der Grundsatz, dass sich die Einstufung in eine bestimmte Verwendungsgruppe eines Kollektivvertrags nach den tatsächlich geleisteten Diensten richtet, tritt somit in den Hintergrund, soweit der Kollektivvertrag die konkreten Voraussetzungen für die Einstufung festlegt (vgl. auch OGH vom 25. Juni 2014, 9 ObA 48/14w).

Wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt ausgesprochen hat, gilt der Grundsatz von der amtswegigen Rechtskenntnis ("iura novit curia") nicht in Bezug auf Kollektivverträge, sodass die Behörde (im Beschwerdeverfahren das Verwaltungsgericht) die Verpflichtung trifft, die maßgeblichen Bestimmungen des angewendeten Kollektivvertrages in der Begründung der Entscheidung festzustellen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Mai 2004, Zl. 2011/08/0081, unter Bezugnahme auf das Erkenntnis vom 30. September 2007, Zl. 95/08/0170, dieses mit Hinweis auf u. a. das Erkenntnis vom 27. März 1990, Zl. 89/08/0250).

2.7. Für den vorliegenden Fall folgt daraus:

Die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts, es komme bei der Beurteilung, ob den in Rede stehenden Arbeitnehmern der nach dem Kollektivvertrag zustehende Grundlohn unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien geleistet wurde (§ 7i Abs. 3 AVRAG), ausschließlich auf die für den Arbeitgeber geleisteten Tätigkeiten und deren Modalitäten an (so vor allem, ob die Tätigkeiten eigenverantwortlich oder, ähnlich einem Hilfsarbeiter, unter laufender Anleitung und Beobachtung ausgeübt wurden), wäre nach dem Gesagten unzutreffend, wenn der hier maßgebende Kollektivvertrag für die Bauindustrie und das Baugewerbe konkrete andere Voraussetzungen für die Einstufung festlegte. Dies ist nicht von vornherein auszuschließen, wie der mit der Revision vorgelegte (allerdings erst mit 1. Mai 2016 wirksam gewordene und somit auf den gegenständlichen Fall nicht unmittelbar anwendbare) Kollektivvertrag für die Bauindustrie und das Baugewerbe zeigt.

Entscheidungswesentlich sind daher Feststellungen über die maßgeblichen Bestimmungen der hier relevanten Fassung des Kollektivvertrages, die das Verwaltungsgericht, offensichtlich ausgehend von einer unzutreffenden Rechtslage, unterlassen hat, sodass sich das angefochtene Erkenntnis als inhaltlich rechtswidrig erweist.

3. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Ein Aufwandersatz an die obsiegende Revisionswerberin kommt gemäß § 47 Abs. 4 VwGG iVm Art. 133 Abs. 8 B-VG nicht in Betracht, das diesbezügliche Begehren war daher abzuweisen.

Das Aufwandersatzbegehren der belangten Behörde war gemäß § 47 Abs. 5 VwGG abzuweisen, weil gegenständlich der Bund als Rechtsträger einerseits zum Aufwandersatz verpflichtet wäre und ihm andererseits der Aufwandersatz zufließen würde (Identität des verpflichteten und berechtigten Rechtsträgers; vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 22. Juni 2011, Zl. 2009/04/0128, mwN). Wien, am 9. November 2016

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte