VwGH 93/08/0021

VwGH93/08/002131.1.1995

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell und Dr. Müller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schidlof, über die Beschwerde der A in O, vertreten durch Dr. J, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. Mai 1992, Zl. Vd-3632/18, betreffend Beitragsnachverrechnung und Beitragszuschlag (mitbeteiligte Partei: Tiroler Gebietskrankenkasse, Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2), zu Recht erkannt:

Normen

ABGB §2;
ArbVG §1;
ArbVG §11;
ArbVG §2;
ArbVG §3;
ASVG §49 Abs1;
AVG §45 Abs1;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
AVG §73 Abs1;
AVG §73 Abs2;
ABGB §2;
ArbVG §1;
ArbVG §11;
ArbVG §2;
ArbVG §3;
ASVG §49 Abs1;
AVG §45 Abs1;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
AVG §73 Abs1;
AVG §73 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführerin wurde am 18. Juli 1988 ein mit 13. Juli 1988 datiertes Schriftstück zugestellt, das einerseits eine Beitragsnachrechnung für den Zeitraum vom 1. Juni 1985 bis 30. April 1988 mit einer Nachverrechnungssumme von S 76.553,69 und andererseits einen Bescheid enthielt, mit dem ihr als Dienstgeberin gemäß § 113 Abs. 1 ASVG ein Beitragszuschlag in der Höhe von S 18.510,22 zur Zahlung vorgeschrieben wurde.

Die Beschwerdeführerin, die auch in der Beitragsnachrechnung einen Bescheid erblickte, erhob sowohl gegen diesen "Bescheid" als auch gegen den einen Beitragszuschlag vorschreibenden Bescheid den an die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse adressierten und dort am 20. Juli 1988 eingelangten Einspruch vom 18. Juli 1988.

Daraufhin stellte die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse, die die Bewertung der Beitragsnachrechnung als Bescheid durch die Beschwerdeführerin nicht teilte, den Einspruch gegen diesen "Bescheid" aber als Antrag auf Erlassung eines diesbezüglichen Bescheides wertete, mit Bescheid vom 2. August 1988 fest, daß die Beschwerdeführerin als Dienstgeberin verpflichtet sei, Beiträge in der Höhe von S 76.553,69 an die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse zu bezahlen. Nach der Bescheidbegründung habe die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse bei der Beschwerdeführerin, der Inhaberin des Hotels "T" in O, am 15. Juni 1988 eine Beitragsprüfung durchgeführt und dabei festgestellt, daß von der Beschwerdeführerin in mehreren Fällen das ihren Diensnehmern aufgrund des Kollektivvertrages für Arbeiter im österreichischen Hotel- und Gastgewerbe sowie des Kollektivvertrages für Angestellte im österreichischen Hotel- und Gastgewerbe gebührende Entgelt (im wesentlichen Bedienungsprozente von Garantielöhnen, Sonderbeiträge und Feiertagszuschläge) nicht bzw. unrichtig zur Verrechnung der Sozialversicherungsbeiträge gemeldet worden sei.

In dem auch gegen diesen Bescheid erhobenen Einspruch vom 7. August 1988, der bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse am 18. August 1988 einlangte, bestritt die Beschwerdeführerin die Verpflichtung zur Bezahlung der vorgeschriebenen Beiträge mit der Begründung, daß die Nachverrechnung, insbesondere wegen unzutreffender Auslegung der genannten Kollektivverträge, unrichtig sei.

Mit dem an den Bundesminister für Arbeit und Soziales adressierten und dort am 17. Jänner 1989 eingelangten Schreiben vom 15. Jänner 1989 erhob die Beschwerdeführerin "Versäumnisbeschwerden" unter anderem wegen Säumnis der belangten Behörde mit der Entscheidung über ihren Einspruch gegen den Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom 13. Juli 1988 "über eine Nachverrechnungssumme von S 76.553,69 und einen Beitragszuschlag von S 18.510,22".

Mit Bescheid vom 28. Februar 1989 wies der Bundesminister für Arbeit und Soziales diese (zu Recht als Devolutionsantrag gewertete) "Versäumnisbeschwerde" in bezug auf den genannten Bescheid gemäß § 73 Abs. 2 AVG mit der Begründung zurück, daß der Einspruch der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom 13. Juli 1988 erst am "18.8.1988" bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse eingelangt und daher am Tag des Einlangens des Devolutionsantrages bei der entscheidenden Behörde am 17. Jänner 1989 die sechsmonatige Frist des § 73 Abs. 1 AVG noch nicht abgelaufen gewesen sei.

Mit Bescheid vom 13. Februar 1989 wies der Landeshauptmann von Tirol die beiden Einsprüche der Beschwerdeführerin gegen die Bescheide vom 13.Juli 1988 betreffend einen Beitragszuschlag und vom 2. August 1988 betreffend eine Beitragsnachverrechnungssumme als unbegründet ab und erkannte den Einsprüchen aufschiebende Wirkung nicht zu.

Diesen Bescheid hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 28. Februar 1992, Zl. B 362/89, unter Zugrundelegung seines Erkenntnisses vom selben Tag, Zlen. G 293/91 u.a., mit dem ausgesprochen wurde, daß § 412 Abs. 2 ASVG in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 13/1962 verfassungswidrig war, mit der Begründung auf, daß der Landeshauptmann von Tirol eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet habe und nach Lage des Falles nicht von vornherein auszuschließen sei, daß die Anwendung dieser Gesetzesvorschrift für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin insgesamt nachteilig gewesen sei.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die beiden Einsprüche der Beschwerdeführerin neuerlich als unbegründet ab. In der Bescheidbegründung befaßt sich die belangte Behörde in bezug auf die Beitragsnachverrechnung unter anderem auch mit der strittigen Auslegung der anzuwendenden Kollektivverträge.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Beschwerde jedoch mit Beschluß vom 5. Oktober 1992, Zl. B 800/92, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde macht die Beschwerdeführerin zunächst Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde geltend, weil sie schon am "18.1.1989 eingeschrieben an das Bundesministerium für Soziales einen Devolutionsantrag zur Post gegeben habe", sodaß die belangte Behörde am 13. Februar 1989 nicht mehr befugt gewesen sei, den angefochtenen Bescheid zu erlassen. Im übrigen bestreitet sie unter dem Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften die Richtigkeit der Beitragsnachverrechnung, wobei sie sich auch mit der ihrer Auffassung nach unrichtigen Auslegung der genannten Kollektivverträge befaßt.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte in der Gegenschrift ebenso wie die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse die Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde war jedenfalls zur Erlassung des angefochtenen Bescheides vom 20. Mai 1992 zuständig; dies schon deshalb, weil der Bundesminister für Arbeit und Soziales den Devolutionsantrag der Beschwerdeführerin bereits mit rechtskräftigem Bescheid vom 25. Februar 1989 zurückgewiesen hatte. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin war die belangte Behörde aber auch zur Erlassung des Bescheides vom 13. Februar 1989 zuständig: Ein verfrüht - vor Ablauf der sechsmonatigen Entscheidungsfrist des § 73 Abs. 1 AVG - eingebrachter Devolutionsantrag bewirkt nämlich keinen Zuständigkeitsübergang; er ist unzulässig und auch dann zurückzuweisen, wenn die sechsmonatige Frist inzwischen verstrichen ist (vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts5, Rz 644, mit Judikaturhinweisen). Der am 17. Jänner 1989 beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingelangte Devolutionsantrag war aber verfrüht, weil der Einspruch der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom 13. Juli 1988 bei dieser erst am 20. Juli 1988 (und nicht, wie der Bundesminister für Arbeit und Soziales im obgenannten Bescheid meinte, erst am 18. August 1988) einlangte. Die Unzuständigkeitseinrede ist daher unbegründet.

Hingegen ist die Verfahrensrüge im Ergebnis begründet. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Grundsatz der richterlichen Rechtskenntnis ("iura novit curia") auf einen Kollektivvertrag nicht anzuwenden, sodaß Tatsachenfeststellungen über dessen genauen Inhalt unerläßlich sind, um die Rechtmäßigkeit eines auf solche Kollektivvertragsbestimmungen gestützten Bescheides prüfen zu können (vgl. u.a. die Erkenntnisse vom 19. Februar 1991, Zl. 90/08/0050, und vom 30. November 1993, Zl. 90/08/0048). Da die belangte Behörde keine Feststellungen über den Inhalt der hinsichtlich der Auslegung strittigen Bestimmungen der beiden genannten (im Nachverrechnungszeitraum vom 1. Juni 1985 bis 30. April 1988 geltenden) Kollektivverträge getroffen hat und diese Kollektivverträge auch nicht aktenkundig sind, bedarf der Sachverhalt (sowohl hinsichtlich der Beitragsnachrechnung als auch hinsichtlich des unter anderem davon abhängigen Beitragszuschlages) in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben war.

Für das fortgesetzte Verfahren wird bemerkt, daß es für die Überprüfung der strittigen Auslegung unter Umständen (abhängig vom Inhalt der unmittelbar in Betracht kommenden Bestimmungen) sinnvoll sein kann, den gesamten Text der anzuwendenden Kollektivverträge zumindest aktenkundig zu machen.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994. Das Kostenmehrbegehren war abzuweisen, weil einerseits an Schriftsatzaufwand nach den §§ 48 Abs. 1 Z. 2 und 49 Abs. 1 VwGG nur der in der eben genannten Verordnung festgesetzte Pauschbetrag gebührt und andererseits einem Stempelgebührenersatz nach § 48 Abs. 1 Z. 1 VwGG der Umstand entgegensteht, daß wegen der bestehenden sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 Z. 2 ASVG) Stempelgebühren nicht zu entrichten waren.

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