OGH 9ObA112/11b

OGH9ObA112/11b25.10.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gillinger und AR Angelika Neuhauser als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M***** V*****, vertreten durch Mag. Dr. Wolfgang Kiechl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei G ***** Ges.m.b.H., *****, vertreten durch Dr. Peter Spörk, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, wegen 2.127,68 EUR netto sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Juni 2011, GZ 10 Ra 9/11h-17, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 1. Oktober 2010, GZ 4 Cga 91/10w-11, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger ist seit 23. 5. 2005 bei der Beklagten als Kraftfahrer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis ist der Kollektivvertrag für das Güterbeförderungsgewerbe (Arbeiter) anwendbar. Die hier maßgebliche Bestimmung des Punkts C der Lohn- und Zulagenordnung dieses Kollektivvertrags lautete in der Fassung des Rahmens 2005 (und nahezu unverändert bis ins Jahr 2007) auszugsweise wie folgt:

„C. Tages- und Nächtigungsgelder, Zulagen

1. Tages- und Nächtigungsgelder im Inland:

Als Abgeltung für den erhöhten Lebensaufwand bei Dienstleistungen außerhalb des Dienstortes (Betriebsstätte, Werksgelände, Lager usw) werden Tages- und Nächtigungsgelder gewährt. Das Tagesgeld beträgt 25 EUR pro Tag. Dauert die Abwesenheit vom Dienstort mehr als drei Stunden, gebührt für jede angefangene Stunde 1/12 des Tagesgeldes; bis drei Stunden Abwesenheit vom Dienstort gebührt kein Tagesgeld. …“

Diese Bestimmung wurde mit dem Rahmenkollektivvertrag 2008 geändert und lautete ab dem 1. 1. 2008 auszugsweise wie folgt (Unterstreichungen durch den erkennenden Senat):

„C. Tages- und Nächtigungsgelder, Zulagen

Als Abgeltung für den erhöhten Lebensaufwand bei Dienstleistungen außerhalb des Dienstortes (Betriebsstätte, Werksgelände, Lager usw) werden Tages- und Nächtigungsgelder gewährt. Als Dienstort (Betriebsstätte, Werksgelände, Lager usw) gilt jener Ort (Anschrift), an dem der Dienstnehmer zur Sozialversicherung gemeldet ist.

Der erste Satz dieser Bestimmung wurde in der ab 1. 1. 2009 geltenden Fassung des Kollektivvertrags neuerlich geändert, sodass sie auszugsweise lautet (Unterstreichung durch den erkennenden Senat):

„C. Tages- und Nächtigungsgelder

Als Abgeltung für den erhöhten Lebensaufwand bei Fahrtätigkeit oder Dienstleistungen außerhalb des Dienstortes (Betriebsstätte, Werksgelände, Lager, usw) werden Tages- und Nächtigungsgelder gewährt. Als Dienstort (Betriebsstätte, Werksgelände, Lager usw) gilt jener Ort (Anschrift) an dem der Dienstnehmer zur Sozialversicherung gemeldet ist.“

Der Kläger lud Beton immer bei einem Unternehmen in Wien und war mit dem Betonmischwagen nur in Wien bzw Wien-Umgebung im Einsatz. Nach ***** N*****, dem Sitz der Beklagten, fuhr er nur etwa ein bis zweimal pro Jahr. Er erhielt die An- und Abmeldung von der Gebietskrankenkasse sowie Lohn- und Gehaltszettel für die Jahre 2008 und 2009 am 7. 1. 2009.

Der Kläger begehrt Tagesgelder in Höhe von 2.127,68 EUR für Zeiträume zwischen Februar 2008 und Dezember 2009. Dieser Anspruch bestehe, weil sein Dienstort nach dem Kollektivvertrag ***** N***** sei, wo er in dem Zeitraum, für den er Ansprüche geltend mache, zur Sozialversicherung gemeldet gewesen sei. Die Beklagte habe die Forderung überdies außergerichtlich anerkannt.

Die Beklagte bestritt, die Ansprüche des Klägers anerkannt zu haben, sie wandte überdies deren Verfall ein. Der Kläger sei stets in Wien tätig geworden, Wien sei auch als Dienstort vereinbart gewesen. Diese Vereinbarung sei vor der Änderung des Kollektivvertrags im Jahr 2008 zulässigerweise getroffen worden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Punkt C der Lohnordnung des Kollektivvertrags sehe zwar vor, dass als Dienstort jener Ort anzusehen sei, an dem der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung angemeldet sei, im konkreten Fall daher ***** N*****. Der Kläger sei jedoch nahezu ausschließlich in Wien tätig gewesen und auch nicht nach ***** N***** gependelt, sodass nach dem ersten Satz der genannten Kollektivvertragsbestimmung Wien als Dienstort anzusehen sei.

Das Berufungsgericht hob dieses Urteil über Berufung des Klägers auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Die hier anzuwendende kollektivvertragliche Bestimmung habe - zumindest in ihrer bis 2007 geltenden Fassung - einer gleich lautenden Regelung des Bundeskollektivvertrags für Dienstnehmer in privaten Autobusbetrieben entsprochen, die Gegenstand der Entscheidung 9 ObA 135/05a gewesen sei. Dazu habe der Oberste Gerichtshof ausgeführt, dass für die Lokalisierung des Dienstorts grundsätzlich auf die Betriebsstätte abzustellen sei. Betrachte man die Änderungen der kollektivvertraglichen Bestimmung des anzuwendenden Kollektivvertrags in den Jahren 2008 und 2009, so ergebe sich daraus, dass bei Fahrtätigkeiten an sich Tages- und Nächtigungsgelder gebühren. Dies umfasse alle Fahrtätigkeiten, die immer außerhalb des Dienstorts im Sinne des Betriebsstätte erbracht würden, an dem der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung angemeldet sei. Die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche stünden schon daher grundsätzlich zu. Allerdings habe die Beklagte die Höhe der Ansprüche bestritten und deren Verfall eingewandt, überdies habe der Kläger ein Anerkenntnis behauptet. Dazu fehlten Feststellungen, sodass das Verfahren ergänzungsbedürftig sei.

Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof erklärte das Berufungsgericht für zulässig, weil die Auslegung einer Kollektivvertragsbestimmung immer von erheblicher Bedeutung sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der vom Kläger beantwortete Rekurs der Beklagten.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, er ist jedoch im Ergebnis nicht berechtigt.

1. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist nach den Regeln der §§ 6, 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen. Maßgeblich ist, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann (RIS-Justiz RS0008782; RS0010088). Den Parteien des Kollektivvertrags darf grundsätzlich unterstellt werden, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeitsvertragsparteien herbeiführen wollten (RIS-Justiz RS0008828).

2. Die Bestimmungen des normativen Teils des Kollektivvertrags bedürfen zu ihrer Geltung für den konkreten Einzelfall nicht der Transformation in den Einzelarbeitsvertrag (RIS-Justiz RS0050914). Sie wirken auf die Einzelarbeitsverhältnisse unmittelbar ein, ohne dass es dafür einer Zustimmung einer der Parteien des Arbeitsvertrags bedürfte (Reissner in ZellKomm § 11 ArbVG Rz 5 mwH). Der Kläger begehrt Tagesgelder ab Februar 2008, sodass sich im konkreten Fall aus § 11 Abs 2 ArbVG ergibt, dass Satz 2 in Punkt C der Lohn- und Zulagenordnung in seiner seit dem 1. 1. 2008 geltenden Fassung anzuwenden ist (Art III des Rahmenkollektivvertrags für das Güterbeförderungsgewerbe für Arbeiter 2008), was von der Rekurswerberin auch gar nicht in Abrede gestellt wird.

3. Die von der Rekurswerberin behauptete Widersprüchlichkeit der Bestimmung des Punkts C der Lohn- und Zulagenordnung ist nicht ersichtlich. Punkt C Satz 1 der Lohn- und Zulagenordnung regelt lediglich grundsätzlich, dass Tages- und Nächtigungsgelder bei Dienstleistungen außerhalb des Dienstorts als Abgeltung für den erhöhten Lebensaufwand bezahlt werden. Den Dienstort selbst definiert schon nach dem Wortsinn (RIS-Justiz RS0010089) unzweifelhaft Satz 2 in Punkt C der Lohn- und Zulagenordnung. Danach gilt als Dienstort jener Ort, an dem der Dienstnehmer zur Sozialversicherung gemeldet ist. Dass die Kollektivvertragsparteien den Dienstort in Satz 2 in Punkt C der Lohn- und Zulagenordnung klarstellend regeln wollten, ergibt sich schon daraus, dass dieser Ort nicht mit den - in beiden Sätzen dieser Bestimmung zur näheren Umschreibung des Begriffs des Dienstorts beispielhaft verwendeten - Begriffen der Betriebsstätte, des Werksgeländes oder des Lagers, sondern ausdrücklich mit dem Begriff der Anschrift, daher der (bloßen) Adresse der Meldung zur Sozialversicherung präzisiert wird. Diese erfolgte hier unstrittig am Sitz der Beklagten in ***** N*****.

Die Rekurswerberin begehrt eine andere Auslegung der kollektivvertraglichen Regelung auch mit der Begründung, dass sie den Kläger, der faktisch aber immer in Wien arbeite, schon aufgrund ihres Sitzes in Niederösterreich dort zur Sozialversicherung anmelden müsse, was zu unbefriedigenden Ergebnissen führe: Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass es nicht Sache der Gerichte ist, eine allenfalls unbefriedigende kollektivvertragliche Regelung zu ändern, sondern dass dies den Kollektivvertragsparteien obliegt (vgl RIS-Justiz RS0008880 [T15], RS0106011, zuletzt 8 ObA 54/10i). Kollektivvertragsparteien wollten mit der Änderung des Satzes 2 in Punkt C der Lohn- und Zulagenordnung ab 1. 1. 2008 offenbar durch das Abstellen auf die Meldung nach den Vorschriften des ASVG einen klaren Anknüpfungspunkt für diese Ansprüche schaffen. Nach § 30 ASVG ist für die Anmeldung des Dienstnehmers nun ohnedies primär auf den Beschäftigungsort des Versicherten abzustellen.

4. Auf die vom Berufungsgericht unter Berufung auf die Entscheidung 9 ObA 135/05a vorgenommene Auslegung des Begriffs des Dienstorts anhand der in den Klammerausdrücken in beiden Sätzen der Bestimmung verwendeten Begriffe wie zB der Betriebsstätte, kommt es hier daher gar nicht an. Diesen Umschreibungen käme allenfalls dann Bedeutung zu, wenn der Kläger zB innerhalb ***** N*****s, aber außerhalb einer Betriebsstätte etc tätig geworden wäre: dies ist hier aber völlig unstrittig nicht der Fall. Auch auf die vom Berufungsgericht erwähnte Änderung in Satz 1 des Punktes C der Lohn- und Zulagenordnung muss daher nicht eingegangen werden, weil der für die Auslegung hier allein maßgebliche Satz 2 dieser Bestimmung unverändert blieb.

5. Das Berufungsgericht ist jedoch im Ergebnis zu Recht zur Ansicht gelangt, dass die Ansprüche des Klägers grundsätzlich auf Punkt C der Lohn- und Zulagenordnung des hier anzuwendenden Kollektivvertrags gestützt werden können. Wenn es vor diesem Hintergrund das Verfahren des Erstgerichts als ergänzungsbedürftig ansieht, so kann dem der Oberste Gerichtshof, der auch im Rekursverfahren nach einem Aufhebungsbeschluss nicht Tatsacheninstanz ist, nicht entgegentreten (Zechner in Fasching/Konecny² IV/1 § 519 Rz 107).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 zweiter Satz ZPO.

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