OGH 8ObA23/24a

OGH8ObA23/24a26.8.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka und Dr. Stefula und die fachkundigen Laienrichterinnen Mag. Sabrina Klauser (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und FI Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M* T*, vertreten durch Mag. Michael Lang, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Gemeinde Wien, MA 2 – Personalservice, 1010 Wien, Rathausstraße 4, vertreten durch die Joklik Katary Richter Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien, wegen 4.180,91 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. März 2024, GZ 9 Ra 84/23y‑17, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 17. Mai 2023, GZ 4 Cga 15/23p‑11, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 25. Juli 2023, GZ 4 Cga 15/23p‑13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:008OBA00023.24A.0826.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger ist seit 2011 bei der Beklagten bei der Magistratsabteilung (MA) 70 (Berufsrettung Wien) beschäftigt. Auf das Dienstverhältnis ist die VBO Wien 1995 anzuwenden.

[2] Im Dienstvertrag vom 28. 1. 2011 ist festgehalten:

„Der Dienstnehmer wird in die Bedienstetengruppe der Rettungshelfer der Verwendungsgruppe IV eingereiht. […] Die besoldungsrechtliche Stellung des Dienstnehmers lautet ab Beginn des Dienstverhältnisses aufgrund der ihm gemäß § 18 VBO 1995 für die Vorrückung angerechneten Zeiten: Schema III, Verwendungsgruppe 4, Gehaltsstufe 2, mit dem Vorrückungsstichtag 7. 3. 2011.“

[3] Mit Schreiben vom 5. 11. 2014 leitete die Beklagte den Kläger gemäß § 49j Abs 1 und 2 der BO 1994 mit Wirksamkeit vom 1. 7. 2014 in die Verwendungsgruppe R, Schema IV K, Gehaltsstufe 3 mit dem Vorrückungsstichtag 7. 3. 2013 über.

[4] Auf seine Bewerbung auf eine ausgeschriebene Stelle eines Tagdienst‑Disponenten hin, teilte der Stationsführer dem Kläger mündlich mit, dass er ab 24. 8. 2019 Disponententätigkeiten ausüben werde. Es wurde nicht ausdrücklich darüber gesprochen, ob der Kläger nur Vertreter sein sollte. Eine Änderung des Dienstvertrags bzw der Einstufung wurde weder ausdrücklich besprochen noch schriftlich festgehalten.

[5] Der Kläger erhielt zunächst bis Ende Oktober 2019 die für Disponenten vorgesehene Einschulung. Seit November 2019 verrichtet er bis dato eigenverantwortlich (ausschließlich) die Tätigkeiten eines Disponenten im Sinne des Stellenprofils eines solchen. Seine Tätigkeit unterscheidet sich inhaltlich nicht von der Tätigkeit jener Mitarbeiter, die als Disponenten eingestellt und eingereiht wurden. Der Einsatz des Klägers erfolgte nicht befristet.

[6] Der Kläger wurde weiterhin als Rettungssanitäter im Sinn der mit Schreiben vom 5. 11. 2014 mitgeteilten Einstufung entlohnt. Zusätzlich erhielt er die als „Vertretungsgebühr“ bezeichnete Zulage mit Kennzahl 937001 gemäß Nebengebührenkatalog der Stadt Wien. Der Kreis der Anspruchsberechtigten für dieselbe ist wie folgt definiert: „für Sanitäter/Sanitäterinnen, Rettungssanitäter/Rettungssanitäterinnen und Notfallsanitäter/Notfallsanitäterinnen bei einer länger als einen Monat dauernden Verwendung als Disponent/Disponentin oder Inspektionskommandant/Inspektionskommandantin“.

[7] Die Betrauung des Klägers mit Disponententätigkeiten erfolgte nicht zur Vertretung eines bestimmten Mitarbeiters (etwa wegen eines Karenzfalls), sondern aus allgemeinem Personalbedarf.

[8] Der Kläger begehrt mit seiner Klage Entgeltdifferenzen für den Zeitraum November 2019 bis Juli 2022 mit dem Vorbringen, er sei als Disponent in der Rettungsleitstelle zwingend in die Verwendungsgruppe R1 einzureihen.

[9] Die Beklagte wendete ein, der Kläger sei auf eigenen Wunsch bis auf jederzeitigen Widerruf als Sanitäter mit Sonderaufgaben, nämlich einer Disponentenvertretung, in der Leitstelle eingesetzt worden. Aufgrund dessen sei er seit 1. 11. 2019 in Schema IV K, Verwendungsgruppe R, Gehaltsstufe 5, seit April 2022 Gehaltsstufe 6, eingereiht. Die Tätigkeit als Disponentenvertreter unterscheide sich grundsätzlich nicht von jener eines Disponenten. Die Vertreter würden eingesetzt, um Personalausfälle von Disponenten zu kompensieren und adäquat auf die Anzahl der einlangenden Notrufe reagieren zu können. Voraussetzung sei, dass ein Ausfall bestehe. Eine Überstellung in die Verwendungsgruppe R1 setze jedenfalls eine Bewerbung auf einen vakanten Dienstposten und das Durchlaufen des Auswahlverfahrens voraus.

[10] Das Erstgericht gab der Klage statt. Es stellte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt fest. Darüber hinaus traf es eine Feststellung, wonach besondere Qualifikationserfordernisse für die Stelle eines Disponenten nicht vorgesehen seien. Rechtlich führte das Erstgericht aus, gemäß BO 1994 seien Sanitäter in die Verwendungsgruppe R, Disponenten der Wiener Rettungsleitstelle in die Verwendungsgruppe R1 einzustufen. Die Einstufung eines Vertragsbediensteten richte sich nach den tatsächlich überwiegend geleisteten Diensten. Soweit besondere Einstufungserfordernisse festgelegt seien, seien aber auch diese zu beachten. Dazu zählten etwa Qualifikationsvorschriften, aber nicht die Einreihung eines Mitarbeiters in eine bestimmte Bedienstetengruppe. Ebensowenig sei maßgeblich, ob im Stellenplan ein freier Dienstposten der in Frage stehenden Art vorgesehen sei. Es komme daher nicht auf die Einreihung des Dienstnehmers in eine bestimmte Bedienstetengruppe, sondern nur darauf an, wie er tatsächlich verwendet werde. Es stehe dem Dienstgeber außerhalb von Sonderverträgen auch nicht frei, in einem Dienstvertrag zum Nachteil eines Vertragsbediensteten von den gesetzlichen Rahmenbedingungen abzuweichen. Der Kläger habe im gegenständlichen Zeitraum durchgängig tatsächlich in vollem Umfang Tätigkeiten als Disponent der Wiener Rettungsleitstelle erbracht, sodass er Anspruch auf Entgelt nach Verwendungsgruppe R1 habe. Dass der Nebengebührenkatalog eine Vertretungsgebühr für Sanitäter bzw Rettungssanitäter bei einer länger als einen Monat dauernden Verwendung als Disponent vorsehe, ändere daran nichts. Einerseits könnten zwingende gesetzliche Regelungen nicht durch einen Umkehrschluss aus einer Bestimmung des Nebengebührenkatalogs, der Verordnungscharakter habe, unterlaufen werden, andererseits setze eine „Vertretung“ einen Vertretungsfall voraus, somit eine Konstellation, in der ein bestimmter anderer Arbeitnehmer voraussichtlich vorübergehend nicht zur Dienstverrichtung zur Verfügung stehe, was hier nicht der Fall sei.

[11] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und schloss sich auch rechtlich dessen Beurteilung an. In Erwiderung der Rechtsrüge der Beklagten führte es aus, der Kläger erfülle die Voraussetzung des § 7 Abs 1 der Durchführungsverordnung zum Wiener Rettungs- und Krankenbeförderungsgesetz (WRKG). Den Feststellungen sei weiters zu entnehmen, dass der Kläger auch die in § 7 Abs 2 leg cit vorgesehene theoretische und praktische Ausbildung (Einschulung) absolviert habe. Der diesbezüglich von der Beklagten gerügte sekundäre Feststellungsmangel liege nicht vor. Die Beklagte habe in erster Instanz, selbst vorgebracht, dass der Kläger die erforderliche Einschulung erhalten habe. Dass sie in der Berufung erstmals deren Umfang und Inhalt releviere, verletze das Neuerungsverbot.

[12] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[13] Gegen das Berufungsurteil richtet sich die der Bezeichnung und dem Inhalt nach aus dem Revisionsgrund des § 503 Z 4 ZPO und dem Inhalt nach auch aus jenem nach § 503 Z 2 ZPO erhobene außerordentliche Revision der Beklagten mit einem auf Klageabweisung gerichteten Abänderungs- und hilfsweise einem Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag.

[14] Der Kläger beantragt in der ihm vom Senat freigestellten Revisionsbeantwortung die Zurückweisung des Rechtsmittels, hilfsweise diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrags auch berechtigt.

[16] Voranzustellen ist, dass es – wie bereits von den Vorinstanzen zutreffend ausgesprochen und den Parteien nicht in Zweifel gezogen – für die Einstufung eines Vertragsbediensteten grundsätzlich auf die tatsächlich geleisteten Dienste ankommt, es sei denn, es bestehen bindende Qualifikationsvorschriften für eine bestimmte Einstufung (RS0082007 [T17, T18]; RS0081501). Bestehen solche Vorschriften, so sind sie zwingend; von ihnen kann daher grundsätzlich nicht abgewichen werden (RS0081810).

Letzteres ist hier der Fall:

[17] § 13 Wiener Rettungs- und Krankenbeförderungsgesetz (WRKG, Wr LGBl 2004/39) ermächtigt den Magistrat, durch Verordnung nähere Vorschriften über die zur ordnungsgemäßen Besorgung von Aufgaben eines Rettungsdienstes und eines Krankentransportdienstes notwendigen personellen und sachlichen Anforderungen zu erlassen. Aufgrund dieser Verordnungsermächtigung erließ der Magistrat die Durchführungsverordnung zum WRKG (ABl der Stadt Wien Nr 47 vom 19. 11. 2015, Seite 5; in der Folge: DV‑WRKG). Die mit „Personelle Mindestanforderungen bei der Besetzung von Einsatzleitstellen, Einsatzstellen und sonstigen erforderlichen Einrichtungen“ überschriebene Vorschrift des § 7 DV‑WRKG lautet:

„§ 7 (1) In der Einsatzleitstelle eines Rettungsdienstes und eines Krankentransportdienstes haben alle mit der Auftragsübernahme, Koordination oder Bewältigung von Notrufen, Rettungs- oder Krankentransporteinsätzen befassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zumindest über die Ausbildung zur Rettungssanitäterin oder zum Rettungssanitäter und über eine einjährige Erfahrung im Fahrdienst zu verfügen. Der Rettungstransportdienst hat dafür zu sorgen, dass das Einsatzleitstellenpersonal durch Fortbildungen den aktuellen Stand der Ausbildung erhält.

(2) Eine Disponentin oder ein Disponent in Einsatzleitstellen, die die Notrufnummer 144 betreiben, hat eine theoretische Ausbildung und eine praktische Einschulung nach Abs 3 und 4 zu absolvieren.

(3) Die theoretische Ausbildung ist im Ausmaß von zumindest 60 Stunden mit folgenden Inhalten durchzuführen:

1. Grundregeln der Kommunikation und Besonderheiten der telefonischen Kommunikation,

2. Anrufabfrage, Anrufersteuerung und Anruferberuhigung,

3. Telefonische Übermittlung von standardisierten Anweisungen zu Erste-Hilfe-Sofortmaßnahmen,

4. Alarmierungsgrundlagen,

5. Einsatztaktik,

6. Leitstellentechnik und

7. Rechtskunde.

(4) Die praktische Einschulung hat im Ausmaß von zumindest 160 Stunden unter Anleitung in einer Einsatzleitstelle zu erfolgen.

(5) Der Erwerb der in den Abs 3 und 4 angeführten theoretischen und praktischen Kenntnisse ist von den Rettungs- und Krankentransportdiensten zu dokumentieren.“

[18] Wenn das Erstgericht in seinen Feststellungen ausspricht „Besondere Qualifikationserfordernisse sind für die Stelle eines Disponenten nicht vorgesehen.“, so stellt dies eine dislozierte und im Lichte der genannten Vorschrift der DV‑WRKG unrichtige rechtliche Beurteilung dar.

[19] Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann die Feststellung des Erstgerichts „Der Kläger erhielt zunächst bis Ende Oktober 2019 die für Disponenten vorgesehene Einschulung.“ (Ersturteil Seite 3) nicht dahin verstanden werden, dass damit das Vorliegen der in § 7 DV‑WRKG statuierten personellen Mindestanforderungen bei der Besetzung von Einsatzleitstellen, Einsatzstellen und sonstigen erforderlichen Einrichtungen generell feststehe. Der Verordnungstext unterscheidet zwischen der „praktischen Einschulung“ und der „theoretischen Ausbildung“.

[20] Der von der Beklagten bereits in der Berufung gerügte Mangel an Feststellungen dazu, ob der Kläger die Anforderungen des § 7 DV‑WRKG erfülle, wurde vom Berufungsgericht auch mit der Begründung verneint, die Beklagte habe in erster Instanz selbst vorgebracht, dass der Kläger (vom 24. 8. 2019 bis 31. 10. 2019) „Einschulungsdienste in der Leitstelle“ absolvierte. Dass er eine „praktische Einschulung“ iSd § 7 Abs 4 DV‑WRKG und dies in der in dieser Bestimmung genannten Stundenanzahl absolvierte, hat die Beklagte aber nicht vorgebracht. Erst recht kann aus ihrem Vorbringen zur Absolvierung von „Einschulungsdiensten“ keine Außerstreitstellung abgeleitet werden, der Kläger verfüge auch über die in § 7 Abs 2 iVm Abs 3 DV‑WRKG umschriebene theoretische Ausbildung bestimmten Ausmaßes. Dass das Berufungsgericht im Verfahren erstmals auch in jener Hinsicht eine Außerstreitstellung annimmt, ist vom Obersten Gerichtshof aufgrund der dies inhaltlich zutreffend rügenden Revision als Verfahrensmangel aufzugreifen (RS0040078 [T7]).

[21] Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts verstieß die Beklagte, als sie das Nichtvorliegen von Feststellungen zur notwendigen Einschulung und Ausbildung des Klägers iSd § 7 DV‑WRKG rügte, auch nicht gegen das Neuerungsverbot. Die Beklagte war nicht gehalten, selbst ein (weiteres) Vorbringen zu diesem Themenbereich zu erstatten, obliegt es doch grundsätzlich einem Anspruchswerber, die für seinen Anspruch – hier: auf eine bessere Einstufung – erforderlichen Voraussetzungen zu behaupten und zu beweisen (vgl RS0106638; RS0037797). Es wäre damit am Kläger gelegen gewesen, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs 2 (iVm Abs 3 und 4) DV‑WRKG zu behaupten und zu beweisen.

[22] Dieses Manko des klägerischen Vorbringens wurde in erster Instanz entgegen § 182a Abs 1 ZPO nicht erörtert. Das Verbot von Überraschungsentscheidungen gilt auch für den Obersten Gerichtshof (RS0037300 [T60]). Zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung ist die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[23] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO iVm § 2 ASGG.

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