European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0040OB00165.13P.1217.000
Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben, und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung
Der dreijährige Markus M***** leidet an einer Störung des Schädelwachstums (Mikrozephalie), die mit Verzögerungen in der körperlichen und geistigen Entwicklung verbunden ist. Seine obsorgeberechtigte Mutter, die nach Auffassung der Vorinstanzen über „eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten“ verfügt, wurde daher bei der Betreuung vom Jugendwohlfahrtsträger unterstützt. Es fanden wöchentliche Besuche bei der Elternberatung und regelmäßige Hausbesuche statt, die Einhaltung der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen wurde überwacht. Dabei zeigten sich die Mutter und die faktisch in die Betreuung eingebundene mütterliche Großmutter von Anfang an wenig kooperativ. Zuletzt hielt die Mutter vereinbarte Besuche bei der Entwicklungsdiagnostik nicht ein; ihr Verständnis für die notwendige Behandlung von Markus ist reduziert. Probleme gab es auch in der Haushaltsführung. Die Mutter lebte mit Markus zeitweise bei der mütterlichen Großmutter, deren Wohnung ein „starkes Ausmaß an Verwahrlosung und Beengtheit“ zeigte. Zwischen Mutter und Sohn besteht jedoch eine enge, liebevolle Bindung.
In der Nacht vom 20. zum 21. Februar 2013 hatte Markus, wie schon die Tage davor, hohes Fieber. Er befand sich in der Wohnung seiner Großmutter; die Mutter trug mit ihrem Lebensgefährten Zeitungen aus. Am Abend begann Markus zu krampfen. Die Großmutter verständigte nach einiger Zeit mit Hilfe der Nachbarin die Rettung. Im Spital stellte man einen „auffällig schmutzigen und ungepflegten Allgemeinzustand“ fest. Ein Drogenscreening zeigte zunächst einen positiven Befund auf Opiate, weswegen das Spital eine Gefährdungsmeldung an den Jugendwohlfahrtsträger erstattete. Eine genauere Analyse ergab dann aber nur einen positiven Befund von Codein und Paracetamol, wobei sich beide Werte im therapeutischen Bereich befanden.
Aufgrund der Gefährdungsmeldung entzog der Jugendwohlfahrtsträger der Mutter vorläufig Pflege und Entziehung, brachte Markus nach dessen Entlassung aus dem Krankenhaus bei einer Krisenpflegefamilie unter, und beantragte beim Erstgericht, ihm die Pflege und Erziehung von Markus endgültig zu übertragen. Durch das Verhalten der Mutter und der Großmutter, insbesondere die fehlende Einsicht in den Förderbedarf und die mangelnde Kooperationsbereitschaft, sei das Kindeswohl gefährdet.
Die Mutter sprach sich gegen die Obsorgeübertragung aus. Sie halte sich nicht mehr bei ihrer Mutter auf, sondern bewohne wieder die eigene Mietwohnung. Es sei ihr bewusst, dass sie mit dem Jugendwohlfahrtsträger zusammenarbeiten müsse. Sie habe mit ihm eine diesbezügliche Vereinbarung geschlossen und werde sich nun streng daran halten.
Das Erstgericht holte eine Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe ein. Diese kam zum Ergebnis, dass die Mutter aufgrund ihrer „Mangelbegabung“ nicht imstande sei, die Bedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen. Sie sei mit ihm überfordert gewesen und habe die Bedürfnisse ihres Partners und ihrer fordernden Mutter in den Vordergrund gestellt. Das habe zu einer Vernachlässigung von Markus geführt, die dessen Wohl gefährde. Die Mutter sichere jetzt zwar zu, mit dem Jugendwohlfahrtsträger zusammenzuarbeiten, in der Vergangenheit sei sie dazu aber nicht bereit gewesen.
Auf dieser Grundlage übertrug das Erstgericht Pflege und Erziehung dem Jugendwohlfahrtsträger. Es liege eine nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls vor. Markus habe sich bei seiner Aufnahme ins Spital in einem auffällig verschmutzten und ungepflegten Zustand befunden. Die Mutter sei mit Pflege, Erziehung und Förderung des Kindes überfordert, insbesondere erkenne sie den dringenden Förderbedarf nicht.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der Revisionsrekurs nicht zulässig sei.
Voraussetzung für die Aufhebung einer Obsorgeübertragung sei, dass eine Gefahr für das Wohl der Kinder nicht mehr bestehe. Während die Entziehung oder Einschränkung elterlicher Rechte und Pflichten nur als äußerste Notmaßnahme gerechtfertigt werden könne und das Gericht nur einzuschreiten habe, wenn ihm Missbrauch oder Vernachlässigung der Erziehung angezeigt oder amtlich bekannt würden und eine konkrete ernste Gefahr für die Entwicklung der Kinder bestehe, sei dann, wenn eine Einschränkung der mit der Obsorge verbundenen Rechte und Pflichten bereits stattgefunden habe, bei einem Antrag auf Rückführung eines Kindes in die Obsorge der leiblichen Eltern oder Verwandten ein anderer Maßstab anzulegen. Es müsse mit großer Wahrscheinlichkeit klargestellt sein, dass nunmehr die ordnungsgemäße Pflege und Erziehung durch die ursprüngliche Obsorgeberechtigten gewährleistet sei. Da das Kindeswohl auch bei der Aufhebung von Maßnahmen dem Elternrecht vorgehe, müsse eindeutig feststehen, dass die Wiederherstellung der Obsorge dem Kindeswohl diene. Dabei sei nicht nur von der aktuellen Situation auszugehen, sondern auch eine Zukunftsprognose anzustellen. Ein (neuerlicher) Obsorgewechsel habe zu unterbleiben, wenn keine sichere Prognose über dessen Einfluss auf das Kind vorliege. Das treffe hier zu, weil der Mutter die Erziehungskompetenz weiterhin fehle. Dies zeige sich insbesondere darin, dass sie am 20. Februar 2013 nicht für eine ärztliche Kontrolle und Versorgung des Kindes gesorgt, sondern die Betreuung ihrer ebenfalls überforderten Mutter überlassen habe. Die Einlieferung ins Spital sei erst aufgrund des Eingreifens einer zu Hilfe gerufenen Nachbarin erfolgt. Zusammengefasst gelinge es der Mutter in ihrem Rekurs nicht, Umstände aufzuzeigen, die eine Rückführung des Kindes in ihre Pflege und Erziehung als dem Wohl des Kindes entsprechend erscheinen ließen.
Der gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig, weil das Rekursgericht zu Unrecht angenommen hat, es habe über die Rückübertragung einer (nicht bloß vorläufig) entzogenen Obsorge zu entscheiden; tatsächlich hatte es deren (endgültige) Übertragung an den Jugendwohlfahrtsträger zu beurteilen. Der Revisionsrekurs ist im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Das Rekursgericht hat zu Unrecht angenommen, es habe im vorliegenden Fall eine „Rückübertragung“ der Obsorge an die Mutter zu beurteilen. Der Jugendwohlfahrtsträger ist zwar nach § 211 Abs 1 letzter Satz ABGB (entspricht § 215 Abs 1 ABGB idF vor dem KindNamRÄG 2013) aufgrund der von ihm getroffenen Maßnahme von Gesetzes wegen vorläufig mit der Pflege und Erziehung betraut. Die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme ist hier aber nicht zu prüfen. Gegenstand des Verfahrens ist vielmehr die endgültige Übertragung dieser Teilbereiche der Obsorge von der Mutter an den Jugendwohlfahrtsträger. Die vom Rekursgericht zitierten Entscheidungen (RIS-Justiz RS0009676 [T2, T3, T6]) betreffen demgegenüber die Änderung einer vom Gericht (nicht bloß vorläufig) verfügten Obsorgeregelung und sind daher nicht einschlägig.
2. Die vom Jugendwohlfahrtsträger beantragte Übertragung von Pflege und Erziehung ist nach § 181 Abs 1 ABGB (entspricht § 176 Abs 1 ABGB idF vor dem KindNamRÄG 2013) zu beurteilen.
2.1. Eine solche Maßnahme darf nach ständiger Rechtsprechung nur angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab angelegt werden muss (RIS-Justiz RS0048699; RS0047841). Wegen des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) darf sie nur das letzte Mittel sein und nur soweit angeordnet werden, als das zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (RIS-Justiz RS0048712; RS0085168 [T5]; 8 Ob 304/00i; 3 Ob 155/11g; 5 Ob 63/13w). Dass ein Kind in sozialen Einrichtungen oder bei Dritten besser versorgt, betreut oder erzogen würde als bei seinen Eltern, rechtfertigt für sich allein noch keinen Eingriff in die elterliche Obsorge (RIS-Justiz RS0048704; zuletzt 5 Ob 63/13w).
2.2. Bei der Entscheidung ist ausschließlich das Wohl des Kindes maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS-Justiz RS0048632). Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls ist nicht geradezu ein Missbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt, dass die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (RIS-Justiz RS0048633 [T3]; RS0048684); ob dies zutrifft hängt im Allgemeinen von den Umständen des Einzelfalls ab (RIS‑Justiz RS0048699 [T18]).
3. Im konkreten Fall reichen die Feststellungen des Erstgerichts für die Annahme einer nicht anders abwendbaren Gefährdung des Kindeswohls nicht aus.
3.1. Es trifft zwar zu, dass Markus in schwierigen Verhältnissen aufwächst. Auch nach Auffassung der Vorinstanzen besteht aber eine „enge, liebevolle Bindung“ zwischen ihm und seiner Mutter. Dieser ‑ auch in „besseren“ Verhältnissen nicht selbstverständliche ‑ Umstand ist jedenfalls in die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung einzubeziehen. Eine liebevolle Eltern-Kind-Beziehung ist ein Wert, der auch bei objektivem Fehlverhalten der Eltern nicht außer Betracht bleiben darf.
3.2. Der unmittelbare Anlass für die Gefährdungsmeldung durch das Krankenhaus (positiver Befund auf Opiate) hat sich nachträglich als gegenstandslos erwiesen. Der Umgang der Grußmutter mit der (akuten) Krankheit von Markus war zwar von einer gewissen Hilflosigkeit gekennzeichnet. Letztlich hat aber auch sie erkannt, dass etwas unternommen werden muss, und durch die Kontaktaufnahme mit einer Nachbarin die ärztliche Versorgung in die Wege geleitet. Konkrete Feststellungen zum im Spital bemerkten „schmutzigen und ungepflegten Allgemeinzustand“ hat das Erstgericht nicht getroffen. Daher kann nicht beurteilt werden, ob insofern schon eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen war oder nicht.
3.3. Überhaupt hat ein einzelner Vorfall bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung nur geringes Gewicht. Schwerer wiegen der von den Vorinstanzen angenommene negative Einfluss der Großmutter auf die Mutter und die fehlende Einsicht der Mutter in die Notwendigkeit einer besonderen Förderung von Markus und (damit zusammenhängend) einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Jugendwohlfahrtsträger. Hier bringt die Mutter aber vor, dass sie nicht mehr bei der Großmutter wohne und dass sie in Zukunft die Vereinbarungen mit dem Jugendwohlfahrtsträger einhalten werde. In diesem Zusammenhang kann die vorläufige Kindesabnahme durchaus ein Anlass für ein grundlegendes Umdenken gewesen sein. Gerade wenn „eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten“ vorliegen, kann unter Umständen eine drastische Maßnahme erforderlich sein, um dem Betroffenen den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Der bloße Hinweis auf mangelnde Kooperationsbereitschaft in der Vergangenheit reicht daher nicht aus, um eine tragfähige Zukunftsprognose zu treffen. Da den Feststellungen nicht zu entnehmen ist, dass die Mutter Markus bewusst vernachlässigt hätte, und auch kein Grund zur Annahme besteht, dass sie nicht ‑ auf ihre Weise ‑ sein Bestes will, bleibt allein fraglich, ob sie aufgrund ihrer Persönlichkeit in der Lage ist, sich in Zukunft ihrer nunmehrigen Einsicht gemäß zu verhalten. Dazu sind weitere Feststellungen erforderlich, die im konkreten Fall wohl nicht ohne Einholung eines psychologischen Gutachtens getroffen werden können. Einfache Verhältnisse und ein in der Vergangenheit unglückliches Verhalten gegenüber dem Jugendwohlfahrtsträger sind nicht jedenfalls Grund, eine so einschneidende Maßnahme wie den Entzug von Pflege und Erziehung ohne gründliche Prüfung ihrer Notwendigkeit zu treffen.
4. Aus diesen Gründen sind die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben, und dem Erstgericht ist die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)