European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00162.23M.1121.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
I. Soweit sich das Rechtsmittel gegen die Aufhebung des erstgerichtlichen Urteils richtet, wird es als jedenfalls unzulässiger Rekurs zurückgewiesen.
II. Im Übrigen wird der außerordentliche Revisionsrekurs mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Der Kläger und die Beklagte hatten mit weiteren Vertragsparteien eine Vereinbarung über eine Zusammenarbeit bei der Durchführung von Antigen-Schnelltestungen in Apotheken abgeschlossen.
[2] Der Kläger begehrte von der Beklagten die Rückzahlung von 174.160,54 EUR zunächst mit der Begründung, dass die Beklagte ihre Leistungen nicht oder nicht ordnungsgemäß erbracht habe.
[3] Obwohl er nach der vorbereitenden Tagsatzung zwei Schriftsätze mit Vorbringen einbrachte, berief er sich erstmals zu Beginn der ersten Beweisaufnahmetagsatzung darauf, dass die Vereinbarung unwirksam sei. Er erstattete weitere Beweisanbote, auch beim letzten Verhandlungstermin stellte er noch einen Beweisantrag.
[4] Die Beklagte bestritt jede Schlechterfüllung. Sie rügte das Vorbringen zur Unwirksamkeit des Vertrags und die Beweisanbote als grob schuldhaft verspätet, und sprach sich auch gegen die Klagsänderung aus. Dennoch bestritt sie die Vorwürfe zu den Wurzelmängeln auch inhaltlich.
[5] Das Erstgericht wies die Klage mit Urteil ab. Im Urteil fasste es auch einen Beschluss nach § 275 Abs 1 ZPO über die Zurückweisung zahlreicher Beweisanträge wegen Verschleppungsabsicht. Über die Klagsänderung und drei Anträge der Beklagten, Vorbringen nach § 179 ZPO zurückzuweisen, fasste es keine ausdrücklichen Beschlüsse, jedoch führte es in der Urteilsbegründung aus, dass die Klagsänderung unzulässig und diverse Vorbringen und Beweisanträge nach § 179 ZPO verspätet seien.
[6] Das Gericht zweiter Instanz ließ die Klagsänderung zu, hob den Präklusionsbeschluss nach § 275 Abs 1 ZPO ersatzlos auf, und wies die Anträge der Beklagten ab, Vorbringen und Beweisanbote des Klägers nach § 179 ZPO zurückzuweisen. Außerdem hob es das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an dieses zurück. Es ließ weder die ordentlichen Revisionsrekurse zu den beiden verfahrensleitenden Beschlüssen noch den Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss zu.
[7] Dagegen wendet sich das als außerordentlicher Revisionsrekurs bezeichnete Rechtsmittel der Beklagten. Sie beantragt, den Beschluss der zweiten Instanz abzuändern, sodass der Berufung des Klägers nicht Folge gegeben und die Entscheidung erster Instanz bestätigt wird.
Rechtliche Beurteilung
[8] Das Rechtsmittel ist, soweit es sich gegen den Aufhebungsbeschluss richtet, absolut unzulässig. Im Übrigen ist der außerordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.
[9] I. Soweit sich die Beklagte gegen den Aufhebungsbeschluss wendet, handelt es sich um einen jedenfalls unzulässigen Rekurs.
[10] I.1. Die Beklagte bekämpft in ihrem „außerordentlichen Revisionsrekurs“ ausdrücklich den gesamten Spruchpunkt II. der zweitinstanzlichen Entscheidung, also auch Pkt II.4., mit dem das Ersturteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung ans Erstgericht zurückverwiesen wird.
[11] I.2. Gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO ist gegen berufungsgerichtliche Beschlüsse, soweit dadurch das erstgerichtliche Urteil aufgehoben und dem Gericht erster Instanz eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufgetragen wird, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof nur dann zulässig, wenn das Berufungsgericht dies ausgesprochen hat; die Zulässigkeit des Rekurses ist daher an einen ausdrücklichen Zulassungsausspruch des Gerichts zweiter Instanz gebunden.
[12] Fehlt, wie hier, ein solcher Ausspruch, ist ein Rekurs – auch wenn er anders, zB wie hier als „außerordentlicher Revisionsrekurs“ bezeichnet wird – ausgeschlossen (vgl RS0043880; RS0043898, 4 Ob 116/22w Rz 4).
[13] II.1. Die Beklagte zeigt in Zusammenhang mit der Klagsänderung keine erhebliche Rechtsfrage auf.
[14] II.1.1. Der Revisionsrekurs gegen die abändernde Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz über die Klagsänderung istnicht jedenfalls unzulässig (RS0044046 [T24, T26]).
[15] II.1.2. Ob eine Klageänderung im Interesse der erwünschten endgültigen und erschöpfenden Beendigung des Streites zuzulassen ist, hängt aber von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0039525 [T4, T6]; RS0039441 [T11]; RS0039428 [T2]) und bildet deshalb nur dann eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung, wenn den Vorinstanzen eine im Interesse der Rechtssicherheit korrekturbedürftige Fehlbeurteilung unterlaufen ist (RS0115548).
[16] II.1.3. Die Beklagte argumentiert, dass wegen der Klagsänderung zu Beginn der ersten Beweisaufnahmetagsatzung die für diesen Tag geplanten Beweisaufnahmen zum Thema der Leistungsstörung keinen Sinn mehr gemacht hätten. Eine Zulassung der Klagsänderung hätte die Verhandlung deshalb erheblich erschwert und verzögert.
[17] II.1.4. Gemäß § 235 Abs 3 ZPO kann das Gericht eine Änderung des Klagegrundes selbst nach Eintritt der Streitanhängigkeit und ungeachtet der Einwendungen des Gegners zulassen, wenn durch die Änderung die Zuständigkeit des Prozessgerichtes nicht überschritten wird und aus ihr eine erhebliche Erschwerung oder Verzögerung der Verhandlung nicht zu besorgen ist.
[18] II.1.5. Nach ständiger Rechtsprechung ist dieKlagsänderung tunlichst zuzulassen (RS0039441). Sie ist insbesondere zu bewilligen, wenn sie den Parteien einen zweiten Prozess erspart, um das zwischen ihnen streitige Rechtsverhältnis zu klären, ohne den ersten unbillig zu erschweren oder zu verzögern (vgl RS0039518, RS0039428).
[19] Klagsänderungen, die am Anfang des Rechtsstreits beantragt werden, dürfen keinesfalls deshalb verwehrt werden, weil das ursprüngliche Klagebegehren ohne jede weitere Beweisaufnahme abgewiesen werden könnte (RS0039505; vgl RS0039529). Auch die Frage, ob der Kläger sein Vorbringen zur Klageänderung früher erstatten hätte können und ob Prozessverschleppung vorliegt, hat das Gericht nach § 179 ZPO zu beurteilen, ist aber nach § 235 Abs 3 ZPO kein gesondertes Prüfkriterium (RS0036873 [T1]).
[20] Sogar wenn schon nach Durchführung eines Beweisverfahrens abschließend geklärt ist, dass der ursprünglich geltend gemachte Anspruch nicht zu Recht besteht, kann dem Kläger aus Gründen der Prozessökonomie im Einzelfall die Möglichkeit geboten werden, durch Änderung seines Begehrens den Prozess auf neuer Grundlage mit völlig neuen Beweismitteln fortzusetzen (vgl 6 Ob 171/17s mwN zu diesem Ausnahmefall von RS0039525 [insbes T2, T3]; RS0039594 [T1]).
[21] II.1.6. Im Lichte dieser Judikatur belegt die von der Beklagten behauptete Zwecklosigkeit einer Beweisaufnahme zu Leistungsstörungen bei strittigem Bestehen eines Vertragsverhältnisses keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Rekursgerichts. Die Möglichkeit zur Klagsänderung gemäß § 235 Abs 3 ZPO soll im Interesse beider Parteien gerade solchen unnötigen Prozessaufwand zur Klärung (derzeit) nicht relevanter Fragen vermeiden.
[22] Dies gilt auch dann, wenn die bereits geladenen Personen zum geänderten Klagsgrund (hier: Wirksamkeit des Vertrags statt Leistungsstörung) nicht befragt werden können – sei es, weil sie keine Wahrnehmungen zu nun relevanten Themen haben; sei es, weil sie selbst, Gericht oder Parteienvertreter sich erst für die Einvernahmen zu den neuen Themen vorbereiten müssen. In diesen Fällen ist die Tagsatzung zu vertagen und der Kläger allenfalls nach § 48 ZPO zum Ersatz der dadurch frustrierten Kosten unabhängig vom Ausgang des Rechtsstreits zu verpflichten (Kostenseparation).
[23] II.2. Auch in Hinblick auf die Präklusion von Vorbringen und Beweisanboten zeigt der Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage auf.
[24] II.2.1. Das Berufungsgericht hat die (teils impliziten) Präklusionsbeschlüsse des Erstgerichts aufgehoben bzw abgeändert.In diesem Fall ist § 519 Abs 1 Z 1 ZPO unanwendbar; ein Revisionsrekurs ist daher nicht jedenfalls unzulässig (RS0036822; RS0036875; vgl 8 ObA 14/20x; 4 Ob 50/06s; 7 Ob 253/04p).
[25] II.2.2. Ob Vorbringen oder Beweisanbote einer Partei zu präkludieren sind, stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dar, weil es ganz von den Umständen des Einzelfalls abhängt, ob die Voraussetzungen nach § 179 Abs 1 ZPO bzw § 275 Abs 2 ZPO als gegeben angesehen werden können (vgl RS0036739 [T1] bzw RS0114446).Ob der Kläger sein Vorbringen zur Klageänderung früher erstatten hätte können und ob Prozessverschleppung vorliegt, hat das Gericht nach § 179 ZPO zu beurteilen, ist aber nach § 235 Abs 3 ZPO kein gesondertes Prüfungskriterium (6 Ob 168/17z).
[26] II.2.3. Mit der Behauptung, dem Kläger sei grobes Verschulden bzw sogar Verschleppungsabsicht vorzuwerfen, zeigt die Beklagte keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung auf, zumal sie auf die kumulativ erforderliche Voraussetzung der Verzögerung nicht eingeht, die vom Gericht zweiter Instanz verneint wurde.
[27] Auch die Frage, ob das Erstgericht gewisse Beweisanträge wegen Irrelevanz der Beweisthemen oder in vorgreifender Beweiswürdigung zurückwies, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden.
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