OGH 2Ob79/89

OGH2Ob79/896.6.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Werner L***, zeitverpflichteter Soldat, Untere Hauptstraße 3, 2424 Zurndorf, vertreten durch Dr. Rudolf Tobler und Dr. Karl-Heinz Götz, Rechtsanwälte in Neusiedl am See, wider die beklagte Partei I*** UNFALL- UND S***-AG, p.Adr.

Neusiedlerstraße 24-26, 7000 Eisenstadt, vertreten durch Dr. Raimund Mittag, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 47.081,- s.A., infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 1.Dezember 1988, GZ 15 R 228/88-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom 15.Juli 1988, GZ 3 Cg 143/88-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt wie folgt zu lauten hat:

1) Die eingeklagte Forderung besteht mit S 23.540,50 zu Recht und mit S 23.540,50 nicht zu Recht.

2) Die eingewendete Gegenforderung besteht bis zur Höhe der als berechtigt erkannten Klagsforderung zu Recht.

3) Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 47.081,- samt 4 % Zinsen seit 1.2.1986 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen, wird daher abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 20.144,30 bestimmten Kosten des Verfahrens in erster Instanz (darin Barauslagen von S 4.103,- und Umsatzsteuer von S 1.458,30), die mit S 6.753,70 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin Barauslagen von S 2.038,- und Umsatzsteuer von S 428,70) und die mit S 5.587,- bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Barauslagen von S 2.500,- und Umsatzsteuer von S 514,50) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 29.12.1985 ereignete sich gegen 5 Uhr im Ortsgebiet von Pama im Bereich der Kreuzung der Unteren Hauptstraße mit einer unbenannten Gemeindestraße ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Halter und Lenker des PKW mit dem Kennzeichen B 232.030 und Joachim B*** als Halter und Lenker des PKW mit dem Kennzeichen B 302.092 beteiligt waren. Die Beklagte ist der Haftpflichtversicherer des letztgenannten Kraftfahrzeuges. Der auf der Unteren Hauptstraße in Richtung Deutsch Jahrndorf fahrende PKW des B*** kollidierte im Kreuzungsbereich mit dem aus der Gemeindestraße (für B*** von rechts kommend) in die Untere Hauptstraße nach links einbiegenden PKW des Klägers. Dabei wurden im PKW des Klägers mitfahrende Personen verletzt; beide Fahrzeuge wurden beschädigt. Wegen dieses Verkehrsunfalles wurde gegen die beiden beteiligten Lenker zu U 100/86 des Bezirksgerichtes Neusiedl am See ein Strafverfahren eingeleitet. Mit rechtskräftigem Urteil vom 22.4.1986 wurde in diesem Strafverfahren der Kläger von dem gegen ihn erhobenen Strafantrag gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Hingegen wurde Joachim B*** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 (erster Fall) StGB schuldig erkannt. Wie dem im Strafakt befindlichen Protokolls- und Urteilsvermerk zu entnehmen ist, wurde ihm im Schuldspruch zur Last gelegt, durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr notwendigen Sorgfalt und Aufmerksamkeit, insbesondere durch Einhaltung einer absolut überhöhten Geschwindigkeit, sodaß sein Fahrzeug gegen den von rechts kommenden bevorrangten vom Kläger gelenkten PKW stieß, den Unfall verschuldet zu haben. Bezüglich der als erwiesen angenommenen Tatsachen wird im Protokolls- und Urteilsvermerk des Strafgerichts auf den Spruch und das im Akt befindliche Gutachten des Sachverständigen Helmut W*** verwiesen.

Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte der Kläger aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von S 47.081,- sA (Fahrzeugschaden). Der Höhe nach ist der Klagsbetrag nicht strittig. Dem Grunde nach stützte der Kläger sein Begehren im wesentlichen auf die Behauptung, daß Joachim B*** den Verkehrsunfall durch Einhaltung einer überhöhten Fahrgeschwindigkeit und Mißachtung des dem Kläger zukommenden Rechtsvorrangs allein verschuldet habe. Die Beklagte wendete dem Grunde nach im wesentlichen ein, daß den Kläger ein mit 50 % zu bewertendes Mitverschulden treffe. Er habe sein Fahrzeug zunächst vor der Kreuzung angehalten und dann trotz des damit zum Ausdruck gebrachten Vorrangverzichts seine Fahrt derart fortgesetzt, daß er damit den herankommenden PKW des B*** behindert habe. Schließlich wendete die Beklagte eine Gegenforderung in der Höhe von S 80.944,- aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung bis zu deren Höhe ein. Diese Gegenforderung beinhaltet je zur Hälfte Leistungen der Beklagten an bei diesem Unfall geschädigte Dritte und ihr abgetretene Ersatzansprüche des B*** und ist der Höhe nach gleichfalls nicht mehr strittig. Das Erstgericht entschied im ersten Rechtsgang mit Urteil vom 22.12.1987 (ON 12), daß die Klagsforderung mit S 15.693,66 zu Recht besteht (Punkt 1 des Urteilsspruches) und die eingewendete Gegenforderung bis zu dieser Höhe (Punkt 2 des Urteilsspruchs). Es wies daher das Klagebegehren ab (Punkt 3 des Urteilsspruchs). Dabei ging das Erstgericht im wesentlichen davon aus, daß der Kläger vor dem Einfahren in die Kreuzung angehalten und daher auf seinen Rechtsvorrang verzichtet habe. Durch sein späteres Einfahren in die Kreuzung unter Behinderung des herankommenden PKW des B*** habe er die Vorrangregel des § 19 StVO verletzt. Dem stehe ein Verstoß des B*** gegen § 20 Abs 2 StVO gegenüber, weil er im Ortsgebiet mit 78 km/h gefahren sei. Unter diesen Umständen erscheine eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des Klägers angemessen.

Diese Entscheidung des Erstgerichts wurde vom Kläger mit Berufung bekämpft und mit Beschluß des Berufungsgerichts vom 12.4.1988 (ON 17) in ihren Punkten 2 und 3 (und im Kostenpunkt) ohne Rechtskraftvorbehalt aufgehoben. In diesem Umfang verwies das Berufungsgericht die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. In diesem Aufhebungsbeschluß führte das Berufungsgericht im wesentlichen aus, in dem bindenden rechtskräftigen Straferkenntnis des Bezirksgerichtes Neusiedl am See werde ausgesprochen, daß B*** durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr notwendigen Sorgfalt und Aufmerksamkeit, insbesondere durch Einhalten einer absolut überhöhten Geschwindigkeit, sodaß sein Fahrzeug gegen den von rechts kommenden bevorrangten vom Kläger gelenkten PKW gestoßen sei, den Unfall verschuldet habe. Aus dem Strafakt sei erkennbar, daß die Frage des Vorrangverzichts Gegenstand des Strafverfahrens gewesen sei, sodaß nicht nur eine das Zivilgericht bindende rechtliche Beurteilung durch das Strafgericht vorliege, sondern auch ein tatsächliches Substrat, nämlich die Nichtabgabe eines Vorrangverzichts. Danach sei die Vorrangverletzung des B*** auch für das vorliegende Verfahren bindend festgestellt. Das Erstgericht werde unter Zugrundelegung der Bindungswirkung des verurteilenden Straferkenntnisses, wonach es zu keinem Vorrangverzicht des Klägers gekommen sei, ergänzende Feststellungen zu treffen haben. Dann werde zu prüfen sein, ob den Kläger überhaupt ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls treffe.

Im zweiten Rechtsgang entschied das Erstgericht mit Urteil vom 15.7.1988 (ON 21), daß die eingeklagte Forderung mit S 47.081,- sA zu Recht und die eingewendete Gegenforderung nicht zu Recht besteht. Es gab daher dem Klagebegehren statt.

Das Erstgericht stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Die Unfallstelle befindet sich im Ortsgebiet von Pama an der Kreuzung der Unteren Hauptstraße mit einer unbenannten Gemeindestraße, die zum Bahnhof führt und dort endet. Im Kreuzungsbereich befinden sich keine Verkehrszeichen oder Bodenmarkierungen. Die Asphaltfahrbahn der Unteren Hauptstraße ist (von Asphaltrand zu Asphaltrand gemessen) 5,5 m breit; beiderseits schließen niveaugleiche geschotterte bzw sandige Parkflächen an. Die Apshaltfahrbahn der Gemeindestraße ist 4,5 m breit und erweitert sich bei der Einmündung in die Untere Hauptstraße auf etwa 10 m. Zur Unfallszeit herrschte Dunkelheit. Die Fahrbahn war durch die öffentliche Beleuchtung gut ausgeleuchtet und naß. Vor dem Gasthaus B***, das sich an der Ecke der Unteren Hauptstraße und der Gemeindestraße befindet, war knapp vor der Gemeindestraße ein PKW auf der Parkfläche schräg abgestellt.

B*** fuhr mit seinem PKW durch die Untere Hauptstraße aus Richtung Ortsmitte kommend in Richtung Bahnübergang. Er hatte an seinem Fahrzeug das Abblendlicht eingeschaltet und hielt zunächst eine Geschwindigkeit von rund 80 km/h ein. Der Kläger näherte sich mit seinem PKW, vom Bahnhof kommend, der Kreuzung auf der unbenannten Gemeindestraße; er wollte in die Untere Hauptstraße nach links in Richtung Ortsmitte einbiegen. Bereits beim Einfahren in den Einmündungstrichter der Gemeindestraße nahm der Kläger bei einem Blick nach links zwischen der Ecke des Gasthauses B*** und dem davor schräg abgestellten PKW auf größere Entfernung die Scheinwerfer des herankommenden PKW des B*** wahr. Der Kläger hielt sodann seinen PKW im Einmündungstrichter in einer leichten Schrägstellung nach links an, wobei in dieser Position die Front seines Fahrzeuges über die gedachte Fluchtlinie des geparkten PKW geringfügig hinausragte.

B*** nahm das Anhalten des PKW des Klägers aus einer Entfernung von 60 bis 70 m wahr. Er nahm an, daß dieses Fahrzeug stehenbleiben und der Kläger ihn passieren lassen werde, und unternahm vorerst keinerlei Abwehrhandlung. Im Zuge der weiteren Annäherung fiel B*** aber plötzlich auf, daß der PKW des Klägers für ihn überraschend losfuhr. Er leitete daraufhin 40,2 m vor der Kollisionsstelle aus einer Geschwindigkeit von 78 km/h eine Vollbremsung ein, konnte aber die Kollision mit dem PKW des Klägers im Kreuzungsbereich nicht mehr vermeiden.

Der Zeitraum, für den der PKW des Klägers vor dem Einfahren in die Kreuzung angehalten wurde, ist ziffernmäßig nicht feststellbar, dauerte aber jedenfalls so lange, wie man üblicherweise benötigt, um sich durch einen Blick nach links und nach rechts vom Querverkehr zu überzeugen.

Der PKW des Klägers legte aus der Anhalteposition bis zum Kontakt eine Strecke von rund 4 m zurück und erreichte eine Kollisionsgeschwindigkeit von etwa 10 km/h. Die Anprallgeschwindigkeit des PKW des B*** betrug etwa 56 km/h. Der Anstoß erfolgte mit der linken Frontseite des PKW des B*** gegen die linke Fahrzeugmitte des PKW des Klägers.

Hätte B*** die im Ortsgebiet zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingehalten, wäre die Kollision unterblieben. Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß es an die vom Berufungsgericht in seinem Aufhebungsbeschluß bindend geäußerte Rechtsansicht gebunden sei. Es habe daher davon auszugehen, daß B*** nicht nur eine Geschwindigkeitsüberschreitung, sondern auch eine Vorrangverletzung anzulasten sei. Diese Verstöße gegen die §§ 19 ud 20 StVO seien so gravierend, daß ein allenfalls vorhandenes Mitverschulden des Klägers als geringfügig unbeachtet bleiben könne. B*** treffe somit das Alleinverschulden an diesem Unfall. Der gegen diese Entscheidung des Erstgerichts gerichteten Berufung der Beklagten gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil keine Folge. Es sprach aus, daß die Revision nicht zulässig sei.

Das Berufungsgericht führte, ausgehend von den unbekämpft gebliebenen Feststellungen des Erstgerichts, rechtlich im wesentlichen aus, das Wort "bevorrangt" im Protokolls- und Urteilsvermerk stelle an sich keine Tatsachenfeststellung, sondern eine rechtliche Beurteilung dar. Diesem Protokolls- und Urteilsvermerk sei aber ein aufwendiges strafgerichtliches Verfahren vorangegangen, in dem die Frage des Vorrangverzichts wesentlicher Gegenstand gewesen sei. Grundlage des verurteilenden Erkenntnisses sei somit auch ein tatsächliches Substrat gewesen, nämlich die Nichtabgabe eines Vorrangverzichts durch Anhalten. Auf der Grundlage der vom Strafgericht bei seinem Schuldspruch angenommenen tatsächlichen Fahrweise der beiden Fahrzeuglenker folge rechtlich, daß B*** den Vorrang des Klägers verletzt habe, weil er dem Rechtskommenden die Vorfahrt nicht gewährt habe. Danach sei aber die Vorrangverletzung durch B*** auch für das vorliegende Zivilverfahren bindend festgestellt.

Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision begründete das Berufungsgericht sinngemäß damit, daß seine Rechtsansicht über die Bindungswirkung des gegen B*** ergangenen strafgerichtlichen Erkenntnisses durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gedeckt sei.

Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten. Sie bekämpft sie aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Der Kläger, dem im Sinne des § 508a Abs 2 ZPO die Beantwortung der Revision freigestellt wurde, hat eine Revisionsbeantwortung mit dem (erkennbaren) Antrag erstattet, die Revision der Beklagten als unzulässig zurückzuweisen, allenfalls ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen der vom Kläger in seiner Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht zulässig. Ein Rechtsmittelausschluß im Sinne des § 502 Abs 3 ZPO liegt nicht vor, weil die im zweiten Satz dieser Gesetzesstelle normierten Voraussetzungen gegeben sind. Auch die im § 502 Abs 4 Z 1 ZPO normierte Zulässigkeitsvoraussetzung liegt vor, weil, wie noch darzustellen sein wird, die vom Berufungsgericht vertretene Rechtsansicht über die Bindungswirkung des gegen B*** ergangenen strafgerichtlichen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abweicht.

Auch sachlich ist die Revision der Beklagten berechtigt. Gemäß § 268 ZPO ist der Zivilrichter, wenn die Entscheidung vom Beweis und der Zurechnung einer strafbaren Handlung abhängt, an den Inhalt eines hierüber ergangenen rechtskräftigen verurteilenden Erkenntnisses des Strafgerichts gebunden. Das bedeutet, daß der Zivilrichter zwar bei seiner rechtlichen Beurteilung von einem zivilrechtlichen Verschulden des Verurteilten ausgehen muß, weil eine strafbare Handlung oder Unterlassung Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraussetzt und bei einer strafgerichtlichen Verurteilung somit im Sinne des § 1294 ABGB ein zivilrechtliches Verschulden an der schädigenden Handlung oder Unterlassung feststeht. Die Frage, wie der vom Strafgericht festgestellte Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt der Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung rechtlich zu qualifizieren ist, unterliegt jedoch als Rechtsfrage der selbständigen rechtlichen Beurteilung des Zivilrichters. Der Zivilrichter ist damit auch an die rechtliche Beurteilung des Strafgerichts, daß sich der Verurteilte im Nachrang befunden hat, nicht gebunden, wohl aber an Tatsachenfeststellungen des Strafgerichts, die eine solche rechtliche Beurteilung rechtfertigen (SZ 55/154; 8 Ob 68/85; ZVR 1988/26; 2 Ob 95/88 uva). Diese Bindungswirkung eines strafgerichtlichen Erkenntnisses erstreckt sich auch auf Protokolls- und Urteilsvermerke (2 Ob 43/85; 7 Ob 39/85; 2 Ob 95/88 uva); sie kann sich dann aber nur auf jene Tatumstände beziehen, die sich aus der in derartigen Protokolls- und Urteilsvermerken enthaltenen Sachverhaltsdarstellung ergeben (6 Ob 818/77; 2 Ob 95/88 ua).

Wendet man diese in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vertretenen rechtlichen Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, dann zeigt sich, daß der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, infolge der Bindungswirkung des gegen Joachim B*** ergangenen strafgerichtlichen Erkenntnisses könne nicht von einem durch Anhalten ausgedrückten Vorrangverzicht des Klägers im Sinne des § 19 Abs 8 StVO ausgegangen werden, nicht gefolgt werden kann. Denn die - das Zivilgericht nicht bindende - rechtliche Qualifikation des Strafgerichts, der Kläger sei gegenüber B*** bevorrangt gewesen, ist nicht durch - das Zivilgericht bindende - Tatsachenfeststellungen gedeckt. Aus dem Protokolls- und Urteilsvermerk im Strafakt und den dort angeführten tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen ergibt sich nicht, daß das Strafgericht ein Anhalten des PKW des Klägers vor dem Einfahren in die Untere Hauptstraße verneint hätte. Im Gegenteil hat das Strafgericht hinsichtlich der von ihm als erwiesen angenommenen Tatsachen auf den Spruch seiner Entscheidung und das Gutachten des Sachverständigen Helmut W*** verwiesen. Im Spruch der Entscheidung des Strafgerichts wurde ein Anhalten des PKW des Klägers vor dem Einfahren in die Untere Hauptstraße in keiner Weise ausgeschlossen. Aus dem Gutachten des genannten Sachverständigen ergibt sich aber eindeutig (ON 6 S 62 des Strafaktes), daß dieser ausdrücklich davon ausging, daß der PKW des Klägers vor dem Einfahren in die Untere Hauptstraße angehalten wurde. Es läßt sich also aus den vom Strafgericht seinem verurteilenden Erkenntnis erkennbar zugrundegelegten Tatsachenfeststellungen in keiner Weise ableiten, daß das Strafgericht ein Anhalten des PKW des Klägers vor dem Einfahren in die Kreuzung negiert hätte. Damit steht aber dem Einwand der Beklagten, der Kläger habe durch Anhalten seines PKW vor der Einfahrt in die Kreuzung auf seinen Rechtsvorrang im Sinne des § 19 Abs 8 StVO verzichtet, die Bindungswirkung des gegen B*** ergangenen rechtskräftigen Straferkenntnisses ebensowenig entgegen wie den diesbezüglichen, vom Erstgericht getroffenen Feststellungen. Geht man von den Feststellungen des Erstgerichts (die, abgesehen von dem unzutreffenden Einwand, daß sie zum Teil der Bindungswirkung des gegen B*** ergangenen Strafurteils widersprächen, unbekämpft geblieben sind) aus, dann erscheint nach den Umständen des vorliegenden Falles eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 1 gerechtfertigt.

Nach § 19 Abs 8 StVO gilt das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges aus welchem Grund immer, sei es freiwillig oder gesetzlich oder im Hinblick auf die Verkehrslage geboten oder erzwungen, als Verzicht auf den Vorrang. Kein Vorrangverzicht ist in solchen Fällen nur dann anzunehmen, wenn der nachrangige Fahrer das bevorrangte Fahrzeug erst wahrnehmen konnte, als es sich nach dem Anhalten schon wieder in Bewegung befand. Wer sein Fahrzeug an einer Kreuzung in einer Weise zum Stillstand bringt, daß dies im Sichtbereich befindliche Verkehrsteilnehmer wahrnehmen können, muß sein weiteres Fahrverhalten darauf einstellen, daß andere Verkehrsteilnehmer dies als Vorrangverzicht auffassen. Der anhaltende Lenker darf dann seine Fahrt erst fortsetzen, wenn er sich die Gewißheit verschafft hat, daß er kein anderes Fahrzeug in seiner Bewegung behindert. Daß das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges nur dann als Vorrangverzicht zu qualifizieren wäre, wenn das Fahrzeug über einen bestimmten längeren Zeitraum angehalten wird, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Es genügt, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer den durch das Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges zum Ausdruck gebrachten Vorrangverzicht zweifelsfrei zur Kenntnis nehmen kann (ZVR 1984/339 mwN ua).

Geht man davon aus, dann liegt in dem festgestellten Anhalten des PKW des Klägers vor dem Einfahren in die Kreuzung eindeutig ein Vorrangverzicht im Sinne des § 19 Abs 8 StVO. Der Kläger durfte daher, wie dargestellt, seine Fahrt nach dem Anhalten vor der Kreuzung erst fortsetzen, nachdem er sich die Gewißheit verschafft hatte, damit kein anderes Fahrzeug in seiner Bewegung zu behindern. Dieser Verpflichtung ist er, wie sich aus getroffenen Feststellungen über den Unfallsablauf ergibt, nicht nachgekommen. Daß B*** mit wesentlich überhöhter Geschwindigkeit fuhr, begründet dessen Verschulden, vermag aber den Kläger nicht zu entlasten, weil dieser nach seinem Anhalten vor der Kreuzung den Verkehr auf der Unteren Hauptstraße in seiner tatsächlichen Gestaltung zu beachten und seine Weiterfahrt danach einzurichten hatte.

Da unter den im vorliegenden Fall festgestellten Umständen das Verschulden keines der beiden beteiligten Lenker das des anderen in seinem Gewicht wesentlich übersteigt, ist mit einer gleichteiligen Schadensteilung vorzugehen.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher in Stattgebung der außerordentlichen Revision der Beklagten wie im Spruch ersichtlich abzuändern.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens in erster Instanz beruht auf § 41 ZPO, die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens auf den §§ 41, 50 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte