OGH 2Ob113/11y

OGH2Ob113/11y15.5.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** M*****, vertreten durch Dr. Gerolf Haßlinger und andere Rechtsanwälte in Deutschlandsberg, gegen die beklagten Parteien 1. R***** S*****, und 2. A*****-AG, *****, beide vertreten durch Dr. Karin Prutsch, Rechtsanwältin in Graz, wegen 13.841,78 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse: 1.000 EUR), über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 25. März 2011, GZ 2 R 50/11g-36, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 22. Dezember 2010, GZ 16 Cg 35/10t-29, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 612,70 EUR (darin 102,12 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Am 9. 6. 2008 wurde ein vom Erstbeklagten gelenkter und bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherter Pkw auf einem Bahnübergang in Voitsberg von einer Eisenbahn erfasst. Das Alleinverschulden an dem Unfall trifft den Erstbeklagten, der ein rotes Signallicht missachtet hatte.

Der 1956 geborene Kläger, der als Triebwagenführer an dem Unfall beteiligt war, stand seit 1976 im Dienst der GKB und befuhr regelmäßig die Strecke von Graz nach Köflach bzw Eibiswald. In den Jahren 1984, 1991 und 1997 war er jeweils als Triebwagenführer an ähnlichen Kollisionen, allerdings mit Todesfolge, beteiligt gewesen. Im Jahr 2004 hatte eine Person auf den Schienen Selbstmord verübt. Nach diesen Unfällen war der Kläger nie in professioneller nervenfachärztlicher Behandlung gewesen. Das „psychische Belastungsgefühl“ stieg jedoch von Unfall zu Unfall.

Nach dem Unfall vom 9. 6. 2008, bei dem er den „erschreckten Blick“ des Erstbeklagten wahrgenommen hatte, befand sich der Kläger zunächst vom 10. 6. bis 25. 6. 2008 im Krankenstand. Danach nahm er seine Tätigkeit wieder auf, erlitt aber schon wenige Tage später eine Panikattacke, sodass er den Triebwagen nur mit Mühe in den Zielbahnhof bringen konnte. Ab 1. 7. 2008 war der Kläger wieder im Krankenstand. Mit Bescheid der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau vom 23. 2. 2009 wurde sein Anspruch auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension für den Zeitraum vom 1. 10. 2008 bis 31. 3. 2010 anerkannt.

Durch die Vorunfälle war zwar die „psychische Belastungsschwelle“ des Klägers sukzessive angestiegen, erst als Folge des Unfalls vom 9. 6. 2008 entwickelte er aber eine psychopathologische Symptomatik mit Krankheitswert, die ohne diesen (oder einen ähnlichen) Unfall nicht eingetreten wäre. Er hätte diese Symptomatik trotz des Unfalls vom 9. 6. 2008 mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch dann nicht entwickelt, wenn es die Vorunfälle nicht gegeben hätte. Ob er sie ohne den Unfall vom 9. 6. 2008 irgendwann einmal in der Zukunft entwickelt hätte, ist nicht feststellbar. Am Tag vor dem Unfall waren beim Kläger keine psychischen Auffälligkeiten mit Krankheitswert vorhanden, er war also „psychisch gesund“. Die psychische Erkrankung verursachte beim Kläger 2 Tage starke, 16 Tage mittelstarke und 60 Tage leichte (seelische) Schmerzen.

Der Kläger hat zwar jenes Niveau der psychischen Befindlickeit, wie es vor dem 9. 6. 2008 bestanden hat, nicht wieder erreicht und wird es auch bei günstigstem Heilungsverlauf mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr zur Gänze erreichen. Die als Folgen des Unfalls vom 9. 6. 2008 aufgetretenen psychischen Folgen mit Krankheitswert sind aber insofern zur Gänze ausgeheilt, als der Kläger einen Dauerzustand erreicht hat, bei dem kein psychischer Krankheitswert mehr besteht und der sich allein als Folge des Ereignisses vom 9. 6. 2008 auch nicht mehr verschlechtern wird. Spätschäden allein aus dem Ereignis vom 9. 6. 2008 sind daher ausgeschlossen. Für künftige Ereignisse liegt beim Kläger aber - im Vergleich zum Zustand unmittelbar vor dem 9. 6. 2008 - eine schlechtere Ausgangslage, nämlich eine „erhöhte psychische Belastungsschwelle“ vor.

Der Kläger begehrte die Zahlung von zuletzt 13.841,78 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle künftigen Schadensfolgen aus dem Unfall vom 9. 6. 2008. Das Leistungsbegehren umfasste 10.000 EUR an Schmerzengeld.

Die beklagten Parteien wandten ein, allfällige psychische Leiden des Klägers seien nicht auf den Unfall vom 9. 6. 2008 zurückzuführen.

Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren im Umfang von 8.341,78 EUR (davon 5.500 EUR Schmerzengeld) sA statt. Das Leistungsmehrbegehren von 5.500 EUR sA und das Feststellungsbegehren wies es ab. Hiebei ging das Erstgericht im Wesentlichen vom eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt aus. Das Feststellungsinteresse verneinte es, weil keine Symptomatik mit Krankheitswert, also keine Gesundheitsschädigung mehr vorliege und allein auf das Unfallereignis vom 9. 6. 2008 zurückzuführende Spätfolgen nicht zu erwarten seien.

Das nur vom Kläger hinsichtlich der Abweisung von 4.500 EUR (restliches Schmerzengeld) und des Feststellungsbegehrens angerufene Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es dem Leistungsbegehren insgesamt im Umfang von 12.841,78 EUR sA und auch dem Feststellungsbegehren stattgab. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Rechtlich erörterte es, die beklagten Parteien hätten für den gesamten Schaden des Klägers einzustehen. Unter Berücksichtigung der festgestellten Schmerzperioden und der unfallskausalen Dauerfolge einer verminderten psychischen Belastbarkeit sei ein Globalschmerzengeld von 10.000 EUR angemessen. Aufgrund der erwähnten Dauerfolge sei auch das Feststellungsinteresse ungeachtet des Umstands, dass beim Kläger kein psychischer Krankheitswert mehr bestehe, zu bejahen.

Die Revision sei zulässig, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung dazu fehle, inwieweit bei psychischen Dauerfolgen ohne Krankheitswert ein Feststellungsinteresse bestehe und weil hier ein solches allenfalls mit der Begründung verneint werden könnte, dass es für den Kläger von keiner „rechtlich-praktischen“ Bedeutung sei.

Die von den beklagten Parteien gegen das Berufungsurteil erhobene Revision ist jedoch entgegen dem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Weder in der Begründung des zweitinstanzlichen Zulassungsausspruchs noch in der Revision wird eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan:

Rechtliche Beurteilung

I. Zum Schmerzengeld:

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist das Schmerzengeld nach freier Überzeugung (§ 273 ZPO) unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für alles Ungemach, das der Verletzte bereits erduldet hat und voraussichtlich noch zu erdulden haben wird, grundsätzlich global festzusetzen (RIS-Justiz RS0031415, RS0031307). Die Bemessung hat nicht nach starren Regeln, etwa nach Tagessätzen oder Schmerzperioden, zu erfolgen. Es ist vielmehr jede Verletzung in ihrer Gesamtauswirkung nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zu betrachten und auf dieser Basis eine Bemessung vorzunehmen (RIS-Justiz RS0031415 [T7 und T8]). Auch psychische Beeinträchtigungen sind nach diesen Kriterien unter der Voraussetzung ersatzfähig, dass sie krankheitswertige Gesundheitsschäden hervorriefen (vgl 2 Ob 58/07d mwN; RIS-Justiz RS0030778).

Im vorliegenden Fall erlitt der Kläger eine psychopathologische Symptomatik mit Krankheitswert. Die beklagten Parteien, die keine einzige Vergleichsentscheidung zitieren, bleiben jegliche Begründung dafür schuldig, dass der ausgemessene Betrag über den von der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen zuerkannten Ersatzbeträgen liegt (vgl 2 Ob 63/11w). Unter diesen Umständen vermögen sie keine korrekturbedürftige Fehlbemessung des Schmerzengelds durch das Berufungsgericht aufzuzeigen. Eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO liegt insoweit nicht vor.

II. Zum Feststellungsinteresse:

1. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein schadenersatzrechtliches Feststellungsbegehren stets zulässig, solange der Eintritt künftiger Schäden nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann (2 Ob 150/08k; 2 Ob 184/08k; RIS-Justiz RS0039018 [T28]). Schon die Möglichkeit künftiger Schäden rechtfertigt die Erhebung einer Feststellungsklage, die nicht nur den Ausschluss der Gefahr der Verjährung, sondern auch der Vermeidung späterer Beweisschwierigkeiten und der Klarstellung der Haftungsfrage dem Grunde und dem Umfang nach dient (2 Ob 184/08k; RIS-Justiz RS0038976). Diese Voraussetzung wird insbesondere dann bejaht, wenn die Unfallfolgen noch nicht abgeklungen sind und eine weitere ärztliche Behandlung notwendig ist, Dauerfolgen bestehen oder wenn die Möglichkeit von Spätfolgen nicht gänzlich mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden kann (2 Ob 58/07d mwN; RIS-Justiz RS0038976 [T20]; Danzl in Danzl/Gutiérrez-Lobos/Müller, Schmerzengeld9 302).

2. Im vorliegenden Fall sind die als Folge des Unfalls vom 9. 6. 2008 aufgetretenen psychischen Beeinträchtigungen mit Krankheitswert zwar zur Gänze ausgeheilt, weshalb „allein“ aus diesem Ereignis eine Verschlechterung des Zustands des Klägers oder das Auftreten von Spätschäden ausgeschlossen ist. Für „künftige Ereignisse“ hat der Kläger aber eine „schlechtere Ausgangslage“, nämlich eine „erhöhte psychische Belastungsschwelle“.

Das Berufungsgericht hat diese erstinstanzlichen Feststellungen in vertretbarer Weise dahin interpretiert, dass beim Kläger als unfallskausale Dauerfolge eine geringere psychische Belastbarkeit, als sie vor dem Unfall gegeben war, verblieb. Mag dieser Dauerfolge für sich allein die Eignung zur Herbeiführung künftiger Schadensfolgen aus dem Unfall fehlen, so könnte sie im Zusammenwirken mit (in den Feststellungen nicht näher eingegrenzten) künftigen Ereignissen von ähnlicher Bedeutung dennoch ursächlicher Beitrag für das Entstehen einer neuerlichen psychischen Erkrankung sein. Derartige Spätfolgen sind auch nach den Feststellungen des Erstgerichts nicht mit Sicherheit auszuschließen.

3. Können mehrere Ereignisse (Ursachen) für sich genommen einen bestimmten Schaden nicht allein, sondern nur durch ihr Zusammenwirken herbeiführen, liegt ein Fall „summierter Einwirkungen“ vor (vgl 4 Ob 75/08w mwN; 1 Ob 1/09t; Koziol, Haftpflichtrecht I³ Rz 3/85). Mehrere Nebentäter (§ 1301 ABGB) haften bei Unbestimmbarkeit der Verursachungsanteile solidarisch (1 Ob 1/09t; Karner in KBB³ § 1302 Rz 3), wobei schon die Beteiligung an der Kausalkette genügt (vgl 6 Ob 255/06b; RIS-Justiz RS0026610; Reischauer in Rummel, ABGB³ II/2a § 1302 Rz 2). In der Entscheidung 4 Ob 75/08w wurde auch das Zusammentreffen eines schadensstiftenden Verhaltens mit einem aus der Sphäre des Geschädigten stammenden Zufall als Anwendungsfall „summierter Einwirkungen“ angesehen (krit Kletecka in Zak 2008/541, 314 f).

Angesichts dieser Rechtsprechung erscheint es zumindest möglich, dass die beklagten Parteien für künftige psychische Schäden des Klägers einzustehen haben. Die „rechtlich-praktische“ Bedeutung eines Feststellungsurteils kann somit nicht wirklich zweifelhaft sein (vgl RIS-Justiz RS0039265). Die Bejahung auch dieser Voraussetzung des Feststellungsinteresses lässt jedenfalls keine Fehlbeurteilung erkennen, die vom Obersten Gerichtshof iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgegriffen werden müsste.

4. Die beklagten Parteien weisen zwar zutreffend darauf hin, dass die Grenze der psychischen Belastbarkeit des Klägers auch schon durch die Vorunfälle sukzessive herabgesetzt worden ist. Inwieweit diesem Umstand bei allfälligen künftigen psychischen Schäden des Klägers Rechnung zu tragen wäre, ist für die hier vorzunehmende Beurteilung des Feststellungsinteresses jedoch nicht relevant. Dies gilt ebenso für die in der Revision angeschnittene Frage, ob und in welchem Ausmaß die beklagten Parteien bei späteren psychischen Beeinträchtigungen des Klägers tatsächlich zu haften hätten:

In jedem Fall, in dem die Ersatzpflicht für künftige Schäden festgestellt wird, bezieht sich die Feststellung notwendigerweise nur auf die des haftungsbegründenden Verhaltens, nicht aber auf die eines in Zukunft mit Sicherheit konkret zu erwartenden Schadens und des Bestehens eines Kausalzusammenhangs (2 Ob 184/08k mwN; RIS-Justiz RS0038915). Mit einem Feststellungsurteil wird daher wohl die Ersatzpflicht des Haftenden festgelegt, nicht aber welche künftige Schäden von ihm zu ersetzen sind. Auch bei Vorliegen eines positiven Feststellungsurteils muss im folgenden Leistungsprozess geprüft werden, ob der geltend gemachte Schaden von der Ersatzpflicht umfasst ist, insbesondere also, ob - und in welchem Ausmaß - das haftungsbegründende Verhalten für den Schaden ursächlich war (vgl 2 Ob 184/08k mwN; 2 Ob 167/10p; RIS-Justiz RS0111722). Das Feststellungsurteil entfaltet für die Unfallskausalität der in einem (späteren) Leistungsprozess geltend gemachten Schäden somit noch keine Bindungswirkung (2 Ob 167/10p).

5. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Bejahung des Feststellungsinteresses des Klägers durch das Berufungsgericht mit der erörterten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Einklang steht. Sie wirft daher ebenfalls keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

III. Ergebnis:

Da es der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, ist die Revision der beklagten Parteien zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Der Kläger hat in seiner Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen.

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