OGH 20Ds15/21t

OGH20Ds15/21t1.3.2022

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 1. März 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als weiteren Richter und die Rechtsanwälte Dr. Hofer und Dr. Mitterlehner als Anwaltsrichter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Socher als Schriftführer in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwalt in *, wegen des Disziplinarvergehens der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes über die Berufungen des Disziplinarbeschuldigten und des Kammeranwalts (je wegen Nichtigkeit und Strafe) gegen das Erkenntnis des Disziplinarrats der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer vom 8. Februar 2021, AZ D 17/20, 4 DV 40/20, TZ 28, nach mündlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Mag. Leitner und des Kammeranwalts Mag. Kammler zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0200DS00015.21T.0301.000

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Berufung des Beschuldigten wegen Nichtigkeit wird das angefochtene Erkenntnis aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:

* wird von dem wider ihn erhobenen Vorwurf, er habe die ihm obliegende Treuepflicht gegenüber seinem Mandanten * verletzt und das ihm von diesem anvertraute Wissen über dessen berufliche Tätigkeit gegen diesen verwendet, indem er am 16. Dezember 2019 als bestellter Verfahrenshelfer im Verfahren * Hv * einen Antrag auf Entziehung der Verfahrenshilfe mit der Begründung stellte, * habe ihm mitgeteilt, berufstätig zu sein, gemäß §§ 38 Abs 1 erster Fall, 54 Abs 3 DSt

freigesprochen.

Mit seiner Berufung wegen Strafe wird der Beschuldigte ebenso wie der Kammeranwalt mit seinem Rechtsmittel auf die Kassation verwiesen.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Beschuldigte des Disziplinarvergehens der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes nach § 1 Abs 1 zweiter Fall DSt schuldig erkannt und zu einer Geldbuße von 1.500 Euro mit bedingter Nachsicht des Vollzugs unter Setzung einer Probezeit von 24 Monaten verurteilt.

[2] Demnach hat er die ihm obliegende Treuepflicht gegenüber seinem Mandanten * verletzt und das ihm von diesem anvertraute Wissen über dessen berufliche Tätigkeit gegen diesen verwendet, indem er am 16. Dezember 2019 als bestellter Verfahrenshelfer im Verfahren * Hv * einen Antrag auf Entziehung der Verfahrenshilfe mit der Begründung stellte, * habe ihm mitgeteilt berufstätig zu sein.

Rechtliche Beurteilung

[3] Gegen dieses Erkenntnis richten sich die auch Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO relevierende Berufung des Beschuldigten sowie die ua Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 11 StPO geltend machende Berufung des Kammeranwalts (vgl RIS‑Justiz RS0128656 [T1]).

[4] Zutreffend zeigt dabei die Rechtsrüge (nominell Z 9 lit a, der Sache nach Z 9 lit b) des Beschuldigten auf, dass die Bekanntgabe einer beruflichen Tätigkeit des Verfahrensbeholfenen an das Gericht zwecks Überprüfung des (weiteren) Vorliegens der Voraussetzungen für die Gewährung von Verfahrenshilfe gemäß § 61 Abs 2 StPO fallbezogen gerechtfertigt war:

[5] Nach § 9 Abs 2 RAO ist ein Rechtsanwalt zur Verschwiegenheit über die ihm anvertrauten Angelegenheiten und die ihm sonst in seiner beruflichen Eigenschaft bekannt gewordenen Tatsachen, deren Geheimhaltung im Interesse seiner Partei gelegen ist, verpflichtet.

[6] Neben gesetzlichen Ausnahmen von dieser Verschwiegenheitspflicht ergeben sich hievon auch Ausnahmen in jenen Fällen, in denen Parteiinteressen nicht (mehr) betroffen sind oder eine Interessenabwägung den Ausschlag zugunsten eines höherwertigen Rechtsguts bewirkt und eine Durchbrechung rechtfertigt (Lehner in Engelhart et al, RAO10 § 9 RAO Rz 35; 26 Os 11/15k; vgl auch 20 Ds 15/17m).

[7] Nach gefestigter Auffassung findet die Verschwiegenheitspflicht zudem dort ihre Grenze, wo ihre Durchbrechung zur Wahrung berechtigter Interessen des Rechtsanwalts erforderlich ist, wobei sich die Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht in solchen Fällen aus dem Grundsatz des rechtfertigenden Notstands bzw der Zulässigkeit der Wahrnehmung berechtigter Interessen ableiten lässt (vgl Lehner aaO Rz 46; 10 Ob 91/00f; RIS‑Justiz RS0114273).

[8] Jede Durchbrechung des Verschwiegenheitsgebots als Regelfall ist restriktiv auszulegen (RIS‑Justiz RS0055168 [T4]). Da die Verschwiegenheitspflicht insoweit nicht besteht, als die Offenlegung von Geheimnissen zur Durchsetzung eines Anspruchs erforderlich ist, hat sich ein Rechtsanwalt auf das zur Wahrung seiner berechtigten Interessen Notwendige zu beschränken und die Verhältnismäßigkeit zu wahren (vgl Lehner aaO Rz 48).

[9] Aufgrund der aus einer Verfahrenshilfeverteidigung resultierenden Pflichten eines Rechtsanwalts, insbesondere der Pflicht zur Vertretung ohne Honoraranspruch, steht dem im Ermittlungsverfahren nach § 45 RAO bestellten Verfahrenshilfeverteidiger das Beschwerderecht gegen den Beigebungsbeschluss gemäß § 61 Abs 2 StPO zu (Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 87 Rz 1/1; Tipold, WK‑StPO § 87 Rz 15; RIS‑Justiz RS0125078, zur StPO alt: RIS‑Justiz RS0113952). Kommt das Strafgericht zur Auffassung, dass die Verfahrenshilfevoraussetzungen von Anfang an nicht vorlagen oder zufolge der verbesserten Einkommens- und Vermögenssituation des Beschuldigten/Angeklagten nicht mehr gegeben sind, ist die Beigebung im Sinn des § 61 Abs 2 StPO zu widerrufen, also die Verfahrenshilfe zu entziehen und der beigestellte Verfahrenshilfeverteidiger (ex nunc) zu entheben (RIS‑Justiz RS0097478; RS0119765 [T1], RS0097849; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 61 Rz 14).

[10] Mit Blick auf die für einen Rechtsanwalt allenfalls drohende Vermögensminderung (Scheuba in Csoklich/Scheuba, Standesrecht der Rechtsanwälte3, 60) muss die für die Durchsetzung und Abwehr von Ansprüchen aus dem Mandatsverhältnis grundsätzlich zulässige Durchbrechung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht (vgl Lehner aaO Rz 47; RIS‑Justiz RS0114273) somit auch im Zusammenhang mit der Abwehr (künftiger) unberechtigter Inanspruchnahme des sonst als Verfahrenshilfeverteidiger zur ausnahmslos kostenlosen (vgl Soyer/Schumann, WK‑StPO § 61 Rz 87 f; Vitek in Engelhart et al, RAO10 § 45 RAO Rz 16) Vertretung verpflichteten Rechtsanwalts durch den verfahrensbeholfenen Mandanten gelten – soweit sich der Anwalt mit seinem auf Entziehung der Verfahrenshilfe gerichteten Vorbringen auf das Notwendige beschränkt und die Verhältnismäßigkeit wahrt.

[11] Neben diesem Individualinteresse besteht überdies das nicht minder bedeutsame Interesse des (die finanzielle Basis dieses Rechtsinstituts beistellenden) Staates, dass Verfahrenshilfe lediglich in den im Gesetz vorgesehenen Fällen (hier § 61 Abs 2 StPO) gewährt wird (Grundsatz der Sparsamkeit jeglicher Vollziehung – vgl Art 126b Abs 5 B‑VG). Eine uneingeschränkte Anwendung von § 9 Abs 2 RAO könnte ein in diesem Sinn erforderliches Vorgehen des Strafgerichts weitgehend verunmöglichen und kommt daher bei einer Gesamtbetrachtung nicht in Frage. Eine andere Sicht würde den Gesetzen widerstreiten (§ 9 Abs 1 RAO) und wäre mit dem Selbstverständnis der Rechtsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege (dazu jüngst 20 Ds 18/21h) nicht vereinbar.

[12] Im vorliegenden Fall brachte der Beschuldigte in seinem „Antrag auf Entziehung der Verfahrenshilfe“ an das zuständige Landesgericht Steyr und in seiner gegen dessen zurückweisenden Beschluss gerichteten Beschwerde lediglich wahrheitsgemäß vor, dass der Verfahrensbeholfene ihm anlässlich eines Telefonats am 12. Dezember 2019 mitgeteilt habe, (wieder) berufstätig zu sein (ES 4 f). Da eine Überprüfung des weiteren Bestehens der Voraussetzungen der Verfahrenshilfe ohne diese Mitteilung nicht hätte veranlasst werden können, entsprach das vom Beschuldigten gewählte Vorgehen den dargelegten Grundsätzen (vgl 24 Ds 1/20m; vom zeitlichen Ablauf und den subjektiven Komponenten her nicht vergleichbar 22 Os 8/15i).

[13] Wie bereits die Generalprokuratur zutreffend ausführte, stand die inkriminierte Mitteilung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht nicht entgegen.

[14] Das erfordert die Aufhebung des vorliegenden Schuldspruchs sowie den Freispruch vom erhobenen Vorwurf.

[15] Dementsprechend waren der Beschuldigte und der Kammeranwalt mit ihrem jeweiligen (sonstigen) Berufungsvorbringen darauf zu verweisen.

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