European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0010OB00109.13F.0718.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 978,84 EUR (darin 163,14 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die Beklagte ist Trägerin einer Krankenanstalt (im Folgenden auch: Spital). Der Sohn der Klägerin wurde vom 19. 3. 2010 bis 12. 5. 2010 im Rahmen eines stationären Aufenthalts in diesem Spital behandelt. Konkret wurde er am 19. 3. 2010 wegen paranoider Schizophrenie eingeliefert und sodann gemäß § 8 Unterbringungsgesetz (UbG) im Psychiatrischen Zentrum der Krankenanstalt untergebracht. Nach vorläufiger Zulässigerklärung am 23. 3. 2010 wurde die Unterbringung mit Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 7. 4. 2010 bis zum 21. 5. 2010 für zulässig erklärt. Nach dem eingeholten Gutachten bestand aufgrund der akuten Exacerbation einer paranoiden Schizophrenie die Gefahr von Selbst‑ und Fremdgefährdung.
Die Krankenanstalt liegt in einer ausgedehnten Grünanlage und besteht aus zahlreichen einzelnen Pavillons, die jeweils von einer Parkfläche umgeben sind. Es bestehen mehrere Eingänge, wobei ‑ jedenfalls während des Tages ‑ keine Zutritts‑ oder Zufahrtskontrollen stattfinden. Bei sämtlichen psychiatrischen Abteilungen des Spitals handelt es sich um offene Abteilungen.
Am 20. 4. 2010 wurde der Sohn der Klägerin, der ab 2. 4. 2010 seine Medikamente oral eingenommen hatte, von der Akutstation auf die ebenfalls offen geführte Subakutstation verlegt. Deren Eingangsbereich ist weder vom Arzt‑ noch vom Pflegepersonalzimmer aus einsehbar und es ist auch niemand im Eingangsbereich zur Station oder zum Pavillon durchgehend anwesend, der ein allfälliges unbefugtes Verlassen verhindern würde. Das Pflegepersonal kontrolliert im Zuge ihrer Durchgänge durch die Station zwei bis drei Mal täglich den Patientenstand auf Vollständigkeit.
Ab 21. 4. 2010 wurden dem Sohn der Klägerin über fachärztliche Anordnung unbegleitete Spaziergänge im Spitalsgelände erlaubt. Das Verlassen des Spitalsareals war ihm jedoch weiterhin nicht gestattet. Bei den Spaziergängen meldete er sich auf der Station beim Pflegepersonal ab und kehrte nach einer kleinen Runde im Spitalsgelände wieder auf die Station zurück. Bis zum 12. 5. 2010 kam es dabei zu keinen Zwischenfällen.
Die behandelnden Ärzte gingen zwar von einer weiter bestehenden Fremdgefährdung (insbesondere in Bezug auf die Klägerin) aus, gestatteten aber die Spaziergänge, um den Sohn, der sich zu diesem Zeitpunkt passiv und zurückgezogen verhielt und hauptsächlich im Zimmer oder Bett aufhielt, zu motivieren und zu aktivieren. Er war nach Ansicht der Ärzte fähig zu Vereinbarungen. Durch die unbegleiteten Spaziergänge sollte seine Selbständigkeit gefördert werden. Für die Ärzte bestanden während der Unterbringung keine Hinweise auf eine bestehende Suizidalität. Selbstschädigende Handlungen setzte der Sohn der Klägerin nicht.
Wahnideen und eine wahnhafte Veränderung der Realität waren bei ihm bis zuletzt vorhanden. Bei einem derartigen psychischen Zustandsbild im Sinne einer Psychose mit Wahnideen sind aufgrund des desorganisierten Denkens, des Fehlens des Realitätsbezugs und auch des durch Wahnideen geleiteten und gesteuerten Handelns selbstschädigende und fremdgefährdende Handlungen möglich. Es ist das Wesen des wahnhaften Handelns in der Psychose, dass Handlungen gesetzt werden, die selbst‑ oder fremdschädigend und völlig unüberlegt und ziellos sind. Solche selbst‑ oder fremdschädigenden Handlungen können auch in den letzten Tagen vor dem 12. 5. 2010 als möglich angenommen werden, zumal seine Wahnidee, eine andere Person zu sein und seine Eltern nicht als solche anzuerkennen, bis zuletzt bestand. Insofern lag jedenfalls eine Fremdgefährdung vor. Bei schon gebesserten psychotischen Patienten ‑ wie es der Sohn der Klägerin in den letzten Tagen war ‑ kann es beim Verlassen der Anstalt zu selbstschädigendem Verhalten durch eine Reizüberflutung kommen. Aus medizinischer Sicht waren bei ihm die unbegleiteten Ausgänge innerhalb des Anstaltsareals aufgrund der Besserung seines Zustands, seiner Paktfähigkeit und der Tatsache, dass er immer von den Ausgängen zurückkehrte, unter Abwägung der Vorteile von Ausgängen gegenüber deren Nachteilen möglich. Zur Hintanhaltung der Gefährdung wäre aber im Zuge der Unterbringung das Verhindern des Verlassens des Krankenhauses erforderlich gewesen.
Am 12. 5. 2010 entwich der Sohn der Klägerin aus dem Gelände der Krankenanstalt, wobei der genaue Zeitpunkt nicht festgestellt werden kann. Ebenso kann nicht festgestellt werden, ob er im Rahmen eines erlaubten Spaziergangs entwich oder direkt von der Station. Er nahm sich an diesem Tag durch einen Sprung vor die U‑Bahn das Leben, wobei er weder stolperte noch aus einem anderen Grund unabsichtlich zu Sturz kam. Inwieweit es sich beim tödlichen Sprung um einen beabsichtigten Suizid handelte oder ob diese Handlung ‑ wie es bei psychotischen Zustandsbildern auch möglich ist ‑ im Sinn eines Wahneinfalls, einer wahnhaft gelenkten Handlung, einer völligen Verkennung der Realität oder aus einem plötzlichen Impuls heraus entstand, kann nicht festgestellt werden. Das Auftreten von selbstschädigenden Handlungen im Rahmen eines psychotischen Bildes bei Entweichen aus der Anstalt kommt zwar vor, ist aber nicht häufig.
Als Folge des Todes ihres Sohnes traten bei der Klägerin psychische Beeinträchtigungen im Sinne einer pathologischen Trauerreaktion ein, wobei an psychiatrischer Symptomatik eine leicht‑ bis mittelgradige depressive Episode im Zeitraum von etwa zwölf Monaten vorlag.
Die Klägerin begehrte zuletzt mit ihrer Amtshaftungsklage 15.000 EUR sA an Trauerschmerzengeld von der Beklagten. Die Unterbringung ihres Sohnes sei wegen Selbst‑ und Fremdgefährdung erfolgt. Er sei weder krankheits‑ noch behandlungseinsichtig gewesen. Die Behandlung ihres untergebrachten Sohnes hätte im Rahmen einer geschlossenen Station erfolgen müssen. Er sei sowohl am 25. 3. als auch am 29. 3. 2010 aus der Krankenanstalt entwichen und in beiden Fällen nur durch Suchaktionen der Polizei und des Pflegepersonals wieder aufgegriffen und auf die Station zurückgebracht worden. Am 12. 5. 2010 sei er ein weiteres Mal entwichen und habe sich kurz darauf das Leben genommen. Das Pflegepersonal habe grob fahrlässig die Aufsichtspflicht verletzt. In der Krankenanstalt der Beklagten sei die erforderliche Sorgfalt nicht eingehalten worden, um den Schutz einer Selbstschädigung zu gewährleisten. Trotz des wiederholten Entfliehens habe das Personal keinerlei Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Entweichungen gesetzt. Die Beklagte hafte für die von ihr dadurch erlittene Gesundheitsschädigung. Sie leide seit dem Tod ihres Sohnes an psychischen Beeinträchtigungen wie Depressionen und Schlafstörungen.
Die Beklagte wendete im Wesentlichen ein, die Unterbringung des Sohnes der Klägerin sei am 19. 3. 2010 mangels Krankheits‑ und Behandlungseinsicht erfolgt. Beginnend mit 2. 4. 2010 habe sich der Untergebrachte bereit gezeigt, orale Medikation einzunehmen. Sein Zustand habe sich in weiterer Folge bedeutend verbessert, sodass er am 20. 4. 2010 von der Akut‑ auf die Subakutstation verlegt worden sei. Seit diesem Zeitpunkt seien auch keine körpernahen Beschränkungen mehr vorgenommen worden. Es sei bei ihm eine sogenannte dynamische Entleerung aufgetreten, die sich in einem auffälligen Antriebsverlust und Ruhebedürfnis geäußert habe, sodass das Pflegepersonal versucht habe, ihn durch Ergotherapie und Spaziergänge im Spitalsareal, die er zum Teil alleine durchgeführt habe, zu aktivieren. Ihm seien keine Spaziergänge außerhalb des Areals der Krankenanstalt genehmigt worden. Der Untergebrachte sei ab 20. 4. 2010 paktfähig gewesen und habe sich an Vereinbarungen gehalten. Es habe zu keinem Zeitpunkt Hinweise auf eine mögliche Suizidalität gegeben. Am 12. 5. 2010 sei dem diensthabenden Oberarzt vom Pflegepersonal gemeldet worden, dass der Sohn der Klägerin von einem erlaubten Spaziergang auf dem Krankenanstaltsareal nicht zurückgekommen sei. Die Suche nach ihm sei umgehend veranlasst worden. Abends sei die behandelnde Abteilung davon informiert worden, dass der Untergebrachte gegen 16:00 Uhr verunglückt sei. Bestritten werde, dass der Sohn der Klägerin durch einen Suizid ums Leben gekommen sei, der auf einer psychischen Erkrankung beruhe.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Unterbringungen nach dem UbG seien der Hoheitsverwaltung zuzurechnen. Der Vollzug der Unterbringung unterliege demnach der Amtshaftung. Die Beklagte als Trägerin der Krankenanstalt müsse daher gemäß § 1 Abs 3 AHG für rechtswidriges und schuldhaftes Handeln der Organe der Krankenanstalt, die ihr organisationsrechtlich zugehörten, einstehen. Die Unterbringung des Sohnes der Klägerin sei nach dem Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 17. 4. 2010 zulässig gewesen.
Aus den §§ 3, 33 UbG ergebe sich eine Pflicht des Rechtsträgers zum Schutz vor Schaden durch Selbst‑ und/oder Fremdgefährdung. Wenn nämlich ‑ zur Abwehr einer bestehenden Gefährdung ‑ die Beschränkung auf bestimmte räumliche Bereiche zulässig sei, sei sie ‑ zur Hintanhaltung der Gefährdung ‑ auch erforderlich. Für die Verantwortlichen der Krankenanstalt bestehe demnach die Verpflichtung, die Einhaltung der angeordneten Beschränkung zu überwachen und zu gewährleisten, um den angestrebten Schutz vor einer Verletzung oder Schädigung zu erreichen. Dem Sohn der Klägerin seien weitreichende Freiheiten eingeräumt worden. Diese seien zwar aus medizinischer Sicht grundsätzlich zulässig und per se nicht zu beanstanden. Jedoch seien keinerlei Vorkehrungen getroffen worden, um die Einhaltung der dennoch bestehenden Beschränkung (grundsätzlich auf die Station, für Spaziergänge auf das Anstaltsareal) sicherzustellen. Eine wirksame Überwachung des Stationsausgangs habe nicht stattgefunden. Ebenso sei keine Kontrolle der Dauer und der Länge der Spaziergänge erfolgt. Mit Ausnahme der Standeskontrollen während des Tages hätte nicht ohne weiteres festgestellt werden können, wo sich der Sohn der Klägerin konkret aufhalte. In dieser weitreichenden Außerachtlassung der Aufsichtspflichten sei eine Rechtswidrigkeit bei Vollziehung des Unterbringungsrechts zu sehen. Schon die allgemeine, mit jeder Unterbringung verbundene Freiheitsbeschränkung sei nicht gesetzeskonform vollzogen worden, indem die Einhaltung der Bewegungsbeschränkung nicht ausreichend überwacht worden sei. Es könne auch nicht darauf ankommen, ob es noch konkrete Anzeichen einer Suizidgefahr oder einer Selbstgefährdung gegeben habe. Die Unterbringung sei ursprünglich sowohl wegen Fremd‑ wie auch Selbstgefährdung erfolgt. Möge auch die Selbstgefährdung nicht mehr bestanden haben und die Aufrechterhaltung der Unterbringung nur wegen verbleibender Fremdgefährdung erfolgt sein, so liege die verwirklichte Selbstschädigung keineswegs außerhalb des Schutzzwecks der Unterbringungsregeln. Eine Bewegungsbeschränkung zum Schutz Dritter müsse implizit auch den Schutz des Untergebrachten selbst umfassen, vor allem, wenn eine solche Selbstgefährdung ‑ wie festgestellt ‑ immer noch möglich gewesen sei. Den Organen der Beklagten sei die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt möglich und zumutbar gewesen, weshalb ein schuldhaftes Verhalten vorliege.
Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Rechtlich führte es aus, dass der Sohn der Klägerin aufgrund eines Gerichtsbeschlusses zulässigerweise wegen Selbst‑ und Fremdgefährdung in der Krankenanstalt der Beklagten untergebracht gewesen sei. Am 12. 5. 2010 sei die Unterbringung nur noch wegen Fremdgefährdung (insbesondere in Bezug auf die Klägerin) angezeigt gewesen. Dies sei auch der Grund für die Aufrechterhaltung der Unterbringung und die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf Ausgänge innerhalb des Spitalsareals gewesen. Diese Ausgänge seien angesichts der Besserung der Symptomatik beim Untergebrachten zur Erzielung eines therapeutischen Effekts nicht unüblich gewesen. Konkrete Hinweise auf Selbstgefährdung habe es während des gesamten Aufenthalts des Untergebrachten bis zu seinem Tod nicht gegeben. Suizidgedanken habe er nicht geäußert und auch keine Suizidhandlungen getätigt. Nicht feststellbar sei gewesen, ob der Sprung des Untergebrachten vor die U‑Bahn, der zu seinem Tod geführt habe, eine gezielte Suizidhandlung gewesen sei, die beim Entweichen bereits geplant gewesen sei, oder ob es eine aus der Situation und dem noch vorhandenen psychotischen, realitätsfernen, wahnhaft gelenkten Denken und Handeln resultierende selbstgefährdende Handlung gewesen sei. Sofern dem Untergebrachten das Entweichen aus dem Krankenhausareal nicht möglich gewesen wäre, wäre ihm naturgemäß auch der todbringende Sprung nicht möglich gewesen. Auch bei gebesserten psychotischen Patienten könne es immer wieder auftreten, dass sie durch das Verlassen der Anstalt in eine Situation mit Reizüberflutung kämen, wogegen bei Ausgängen innerhalb des Krankenhausareals meistens eine derartige Situation mit Reizüberflutung nicht bestehe und auch die Chance, dass es zu einer derartigen komme, um ein Vielfaches geringer sei. § 3 Z 1 UbG nenne nur das Leben und die Gesundheit des Geisteskranken sowie das Leben und die Gesundheit Dritter als geschützte Rechtsgüter. Insofern werde der Schutzzweck des UbG, soweit er sich auf die Unterbringungsvoraussetzungen beziehe, auf die Verhinderung der Selbst‑ und Fremdgefährdung beschränkt. Sei aber zum Zeitpunkt des Entweichens des Untergebrachten nur noch Fremdgefährdung vorgelegen und seien keine Anzeichen für Selbstgefährdung vorhanden gewesen, so sei dieses Verhalten des Untergebrachten unter Bedachtnahme „auf die zur Lehre vom Schutzzweck der Norm entwickelte Rechtsprechung der Beklagten nicht zurechenbar“. Daran ändere nichts, dass bei Patienten mit einem psychotischen Zustandsbild ‑ wie beim Untergebrachten ‑ ganz allgemein eine Selbstgefährdung nie auszuschließen sei.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil der Oberste Gerichtshof bisher zu einem vergleichbaren Fall der Zurechenbarkeit allfälligen Organfehlverhaltens nach dem UbG nicht Stellung genommen habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Begehren, dem Klagebegehren stattzugeben.
Die Beklagte begehrt, das Rechtsmittel der Prozessgegnerin zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
1. Die Klägerin leitet den behaupteten Amtshaftungsanspruch aus einer pflichtwidrigen Unterlassung von Organen der Beklagten als nach organisatorischen Gesichtspunkten haftender Rechtsträger gemäß § 1 Abs 3 AHG ab. Der Amtshaftung unterliegen unter anderem Entscheidungen der Anstaltsorgane über die Aufhebung oder Unterlassung der Unterbringung sowie der Vollzug der Unterbringung, insbesondere Beschränkungen und Behandlungen ( Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts³ Rz 767 mwN zur oberstgerichtlichen Judikatur; Schragel , AHG³ [2003] Rz 110).
2. Ein Organverhalten durch Unterlassung ist nach ständiger Rechtsprechung dann rechtswidrig, wenn und soweit eine Handlungspflicht bestand und pflichtgemäßes Handeln den Schadenseintritt ‑ zumindest teilweise ‑ verhindert hätte (1 Ob 247/98z mwN = SZ 71/196).
3. Das Unterbringungsgesetz gilt gemäß § 2 UbG (in der hier anzuwendenden Stammfassung nach BGBl 1990/155; die Ub‑HeimAuf‑Nov 2010 trat gemäß § 42 Abs 3 UbG erst mit 1. 7. 2010 in Kraft) für Krankenanstalten und Abteilungen für Psychiatrie, in denen Personen in einem geschlossenen Bereich angehalten oder sonst Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden. „Für den Anwendungsbereich des Unterbringungsgesetzes kommt es nicht mehr ausschließlich darauf an, ob der (psychisch) Kranke in einem geschlossenen Bereich angehalten wird, sondern ob er Beschränkungen seiner Bewegungsfreiheit unterworfen wird. […] Das Gesetz ist daher auch auf Kranke anzuwenden, die sich zwar in einem offenen Bereich aufhalten, dort aber ‑ weil auf sie die Unterbringungsvoraussetzungen zutreffen ‑ bestimmte Räume nicht verlassen können“ (JAB 1202 BlgNR XVII. GP 3 f). Der Anhaltung in einem geschlossenen Bereich gleichzuhalten sind jene Fälle, in denen Personen außerhalb eines geschlossenen Bereichs „sonst Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden“ (§ 2 UbG). Im Gegensatz zum „geschlossenen Bereich“, bei dem sich die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in generellen und äußerlich erkennbaren Organisationsstrukturen niederschlagen, geht es hier um individuell personenbezogene Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, die auf andere Weise als durch die Anhaltung in einem ständig geschlossenen räumlichen Bereich realisiert werden ( Kopetzki aaO Rz 48).
Die gesetzeskonforme Umsetzung des UbG in Anstalten (psychiatrischen Abteilungen) ist damit sowohl mit als auch ohne die Einrichtung von geschlossen geführten Bereichen möglich (vgl zur Diskussion über die Vor‑ und Nachteile dieser Modelle Jelem/Stuppäck , Unterbringung: offen versus geschlossen, ÖZPR 2011/46, 52). Dass die Subakutstation in der Krankenanstalt der Beklagten, in der der Sohn der Klägerin seit 20. 4. 2010 untergebracht war, als offene Station geführt wurde, entspricht durchaus auch der Möglichkeit, die der Gesetzgeber bei der Durchführung der Unterbringung in Betracht zieht. Der Vollzug der Unterbringung war daher nicht aus dem Grund rechtswidrig, weil er in einer offenen Variante stattfand.
4. Mit (rechtskräftigem) Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 7. 4. 2010 wurde die Unterbringung des Sohnes der Klägerin bis zum 21. 5. 2010 für zulässig erklärt. Damit steht fest, dass bei dem psychisch Kranken die Voraussetzungen der Unterbringung gemäß § 3 UbG für die festgesetzte Frist (§ 26 Abs 2 UbG) vorlagen. Entgegen der Ansicht der Klägerin traf die Organe der Beklagten aber aufgrund dieses Beschlusses nicht die Pflicht, diesen so „umzusetzen“ und auf dessen „Einhaltung zu achten“, dass die Beschränkung der Bewegungsfreiheit ihres Sohnes gewährleistet sein musste. Das ergibt sich schon aus § 32 (jederzeitige Aufhebung der Unterbringung durch Abteilungsleiter) und § 33 UbG (Beschränkungen der Bewegungsfreiheit nur eingeschränkt zulässig). Die Art, der Umfang und die Dauer der konkreten Bewegungsbeschränkung innerhalb des festgesetzten Zeitraums wurden durch diesen Beschluss grundsätzlich nicht festgelegt (vgl § 26 Abs 1 und 2, § 33 Abs 1 und 3 UbG).
5. In § 33 UbG ist der „Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs“ verankert (ErläutRV 464 BlgNR XVII. GP 28). Gemäß § 33 Abs 1 UbG sind Beschränkungen des Kranken in seiner Bewegungsfreiheit nach Art, Umfang und Dauer nur insoweit zulässig, als sie im Einzelfall zur Abwehr einer Gefahr im Sinn des § 3 Z 1 sowie zur ärztlichen Behandlung oder Betreuung unerlässlich sind und zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehen. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit dürfen nur „subsidiär“, also nur als letztes Mittel in Betracht kommen (JAB 1202 BlgNR XVII. GP 11; 2 Ob 605/92). Art 3 EMRK (JAB aaO 11), Art 5 Abs 1 lit e EMRK, Art 2 Abs 2 Z 5 PersFrSchG (1 Ob 235/06z) und weitere Grundrechte (siehe ErläutRV aaO 19) beschränken jede Absonderung eines psychisch Kranken und Eingriffe in dessen Persönlichkeitsrechte. Als legitime Zielsetzungen nennt § 33 Abs 1 UbG einerseits die Abwehr einer ernstlichen und erheblichen Gefährdung des (eigenen oder fremden) Lebens oder der (eigenen oder fremden) Gesundheit, andererseits die ärztliche Behandlung oder Betreuung. Diese Zielsetzungen sind teils alternativ (Behandlung oder Betreuung), teils kumulativ (Gefahrenabwehr sowie Behandlung oder Betreuung) verknüpft. Bewegungsbeschränkungen müssen also gleichzeitig eine gefahrenabwehrende und therapeutische bzw betreuende Zielsetzung aufweisen. Lediglich innerhalb der beiden kumulativ erforderlichen Ziele genügt die Verfolgung eines der durch „oder“ verbundenen Teilzwecke (Behandlung oder Betreuung, Abwehr von Selbst‑ oder Fremdgefährdung) ( Kopetzki aaO Rz 550).
Gemäß § 33 Abs 2 UbG darf im Allgemeinen die Bewegungsfreiheit des Kranken nur auf mehrere Räume oder auf bestimmte räumliche Bereiche beschränkt werden. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit auf einen Raum oder innerhalb eines Raums sind vom behandelnden Arzt jeweils besonders anzuordnen, in der Krankengeschichte unter Angabe des Grundes zu beurkunden und unverzüglich dem Vertreter des Kranken mitzuteilen. Auf Verlangen des Kranken oder seines Vertreters hat das Gericht über die Zulässigkeit einer solchen Beschränkung unverzüglich zu entscheiden (§ 33 Abs 3 UbG). Für die Beschränkung der Bewegungsfreiheit gelten die Prinzipien der Unerlässlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Die allgemeinen Bewegungsbeschränkungen des § 33 Abs 2 UbG (auf mehrere Räume oder auf bestimmte räumliche Bereiche) konstituieren den freiheitsentziehenden Charakter der Unterbringung; sie bedürfen daher ‑ weil der Unterbringung begrifflich immanent ‑ weder einer besonderen Anordnung noch unterliegen sie besonderen Zulässigkeitsbedingungen. Ihr Rechtstitel ist die Unterbringung selbst. Typische Erscheinungsformen dieser allgemeinen Bewegungsbeschränkung sind die Beschränkung auf einzelne Abteilungen oder Stationen, zum Beispiel auf einen geschlossenen Bereich. Die Bestimmung des § 33 Abs 2 UbG soll gewährleisten, dass dem psychisch Kranken auch innerhalb des geschlossenen Bereichs ein möglichst großes Maß an Freizügigkeit und Freiheit der Bewegung gesichert ist. Wenngleich der allgemeine Bewegungsspielraum in Anwendung der Kriterien des § 33 Abs 1 UbG individuell festzulegen ist und dabei auch vielfältige Abstufungen hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Dimensionen sowie der dabei eingeräumten Freiheit möglich und geboten sind, unterliegen lediglich weitergehende Beschränkungen im Sinn des § 33 Abs 3 UbG einer gerichtlichen Überprüfung. Nur sie sind durch die gerichtliche Zulässigerklärung der Unterbringung als solche nicht gedeckt. Dadurch, dass der Gesetzgeber lediglich bei weitergehenden Maßnahmen im Sinn des § 33 Abs 3 UbG eine besondere Anordnung und die Möglichkeit der Überprüfung durch das Gericht vorgesehen hat, hat er auch zum Ausdruck gebracht, dass Beschränkungen der Bewegungsfreiheit auf mehrere Räume oder auf bestimmte räumliche Bereiche keiner besonderen Anordnung bedürfen und auch die Einhaltung der Grundsätze des § 33 Abs 1 UbG nicht der weiteren gerichtlichen Überprüfung unterliegt (2 Ob 2320/96g mwN).
6. Beim Sohn der Klägerin bestand bis zuletzt eine Psychose mit Wahnideen, wodurch aufgrund seines desorientierten Denkens, des Fehlens des Realitätsbezugs und auch des durch Wahnideen geleiteten und gesteuerten Handelns selbstschädigende und fremdgefährdende Handlungen möglich waren. Konkret fassbar für die Organe der Beklagten war jedoch nur die Fremdgefährdung (insbesondere der Klägerin, die ihr Sohn nicht als seine Mutter anerkannte). Die zwar an sich gegebene, aber nicht häufige Gefahr einer selbstschädigenden Handlung bestand erst bei Verlassen der Krankenanstalt durch eine Reizüberflutung. Ihm war jedoch das Verlassen des Spitalsareals nicht gestattet. Aus medizinischer Sicht waren die unbegleiteten Ausgänge innerhalb des Krankenanstaltsareals aufgrund der Besserung seines Zustands, seiner „Paktfähigkeit“ und der Tatsache, dass er seit der Erlaubnis dieser Ausgänge am 21. 4. 2010 immer von diesen zurückkehrte, zulässig. Daraus leitet sich aber auch ab, dass die Einräumung dieser Form der Bewegungsfreiheit auch in der Subakutstation nicht sorgfaltswidrig war. Da die Bewegungsfreiheit nach § 33 Abs 1 UbG nur insoweit eingeschränkt werden darf, als dies im Hinblick auf die dort festgelegten Kriterien (Gefahrenabwehr, Behandlung, Betreuung) unerlässlich ist, muss sie insoweit auch wiederhergestellt werden, als die Notwendigkeit ihrer Beschränkung wegfällt. Diese schrittweise Wiederherstellung der Freiheit kann unter anderem durch Gewährung eines erhöhten Bewegungsspielraums innerhalb der Anstalt erfolgen ( Kopetzki aaO Rz 576, 577/5; vgl nunmehr § 34a UbG: Ausgang ins Freie). Der Sohn der Klägerin nahm ab Anfang April 2010 seine Medikamente oral ein. Die unbegleiteten Ausgänge innerhalb des Spitalsgeländes wurden ihm aus therapeutischen Gründen erlaubt, um seine Selbständigkeit zu fördern, ihn zu motivieren und zu aktivieren, nachdem er sich passiv und zurückgezogen verhielt und hauptsächlich in seinem Zimmer oder Bett aufhielt. Diese fachärztlich angeordnete Maßnahme ist daher unter Zugrundelegung der Kriterien des § 33 Abs 1 UbG geboten und verhältnismäßig gewesen.
7. In der medizinischen Fachliteratur wird zwar ausgeführt, dass Entweichungen in der offen geführten Akut‑Psychiatrie ‑ wie hier in der Krankenanstalt der Beklagten ‑ häufiger sind als in der geschlossenen Variante. Zudem „erscheint“ es im geschlossenen Bereich auch besser möglich zu verhindern, dass es zu einem suizidalen Verhalten kommt ( Jelem/Stuppäck aaO 53 f). Nach den erstgerichtlichen Feststellungen wäre zur (gemeint offenbar: sicheren) Hintanhaltung der Selbst‑ und Fremdgefährdung im Zuge der Unterbringung das Verhindern des Verlassens der Krankenanstalt erforderlich gewesen. Dazu ist darauf zu verweisen, dass das UbG für die erforderliche Anhaltung keine ausdrückliche Zwangsermächtigung enthält. Eine solche ist jedoch aus dem systematischen Kontext mehrerer Bestimmungen des UbG als unverzichtbares Erfordernis seiner Vollziehung abzuleiten (1 Ob 247/98z = SZ 71/196 = JBl 1999, 325 [zust Pfersmann ], dazu Schwamberger , Praxisfälle im Zusammenhang mit dem UbG, RdM 2001, 3 [4 f]). Im Hinblick auf die anzustrebende Wiederherstellung der Freiheit und die dargelegte Subsidiarität der Freiheitsbeschränkung (oben 6. und 5.) ergibt sich daraus aber keine Verpflichtung zu einer ein Entweichen mit Sicherheit ausschließenden Verwahrung.
Der Sohn der Klägerin hielt sich nach der Verlegung auf die Subakutstation an die Anordnung der Organe der Beklagten, das Spitalsareal nicht zu verlassen. Nachdem er am 21. 4. 2010 die Erlaubnis zu unbegleiteten Spaziergängen im Areal der Krankenanstalt bekommen hatte, kehrte er bis zum 12. 5. 2010 jedes Mal zurück, ohne dass es dabei zu Zwischenfällen gekommen wäre. Die behandelnden Ärzte durften mit guten Gründen davon ausgehen, dass infolge der graduellen Besserung seines Gesundheitszustands und des gezeigten Verhaltens seine „Paktfähigkeit“ (im Sinn des Einhaltens der Anordnung, das Spitalsgelände nicht zu verlassen) gegeben und demzufolge das Risiko des Entfernens nunmehr minimal war. Die Organe der Beklagten hatten keine konkreten Anhaltspunkte für die Absicht des sich passiv verhaltenden Untergebrachten, auf einmal doch das Gelände zu verlassen, sodass es ihnen nicht als Fahrlässigkeit angelastet werden kann, wenn sie ‑ außer den Standeskontrollen ‑ die Einhaltung der angeordneten Beschränkungen nicht durch weitere geeignete organisatorische Maßnahmen durchgehend kontrollierten. Mangels Verschuldens der Organe der Beklagten ist daher der Amtshaftungsanspruch nicht berechtigt.
8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 und § 50 ZPO.
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