OGH 2Ob605/92

OGH2Ob605/9225.2.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Griß als weitere Richter in der Unterbringungssache des Gerhard F*****, vertreten durch 1. den Sachwalter Dr.Franz Amler, Rechtsanwalt in 3100 St.Pölten, Herrengasse 1/3, und 2. die Patientenanwältin Mag.Silvia K*****, Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft, Geschäftsstelle Niederösterreich, Landesnervenklinik West, 3362 Mauer bei Amstetten, infolge Revisionrekurses der Patientenanwältin gegen den Beschluß des Landesgerichtes St.Pölten vom 18.November 1992, GZ R 837/92-35, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Amstetten vom 3.November 1992, GZ Ub 357/92-23, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Text

Begründung

Gerhard F***** wurde am 20.10.1992 mit der Diagnose "manisches Zustandsbild mit Fremd- und Selbstgefährdung" in der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Mauer untergebracht. Gerhard F*****leidet seit 1990 an einer psychischen Erkrankung; er ist intellektuell grenzbegabt. Bisher war Gerhard F***** dreimal wegen eines manischen Zustandsbildes in Behandlung. Am 18.10.1992 wurde er vom Krankenhaus St.Pölten nach Mauer überwiesen. Gerhard F***** blieb zuerst freiwillig; am 20.10.1992 widerrief er jedoch seine diesbezügliche Erklärung. Er wurde daher vorerst entlassen. Noch am selben Tag versuchte Gerhard F*****, in ein Haus einzubrechen. Er wurde von der Gendarmerie festgenommen und wieder nach Mauer gebracht. Bei der Aufnahme wurde Selbstgefährdung durch Impulshaftigkeit, Antriebssteigerung und durch "verrückte" Handlungen festgestellt.

Gerhard F***** wurde vom ersten Tag an massiv beschränkt. Am 21.10.1992 (6.30 bis 10.00 Uhr, 17.00 bis 22.00 Uhr) und am 22.10.1992 (12.00 bis 16.30 Uhr) wurden die Beschränkungen (Anlegen des Bauchgurts) (zumindest teilweise) wegen Mißbrauches der Alarmglocke verfügt.

Mit Schriftsatz vom 30.10.1992 stellte die Patientenanwältin den Antrag, die Zulässigkeit weitergehender Beschränkgungen der Bewegungsfreiheit gemäß § 33 iVm § 38 Abs 1 iVm § 3 UbG zu überprüfen (ON 19). Diesen Antrag hielt die Patientenanwältin in der Folge nur insoweit aufrecht, als er sich auf Beschränkungen wegen Mißbrauches der Alarmglocke bezog. Das Betätigen der Alarmglocke führe nicht unmittelbar zu einer ernstlichen Gefährdung von Gesundheit oder Leben. Mit dieser Handlung wolle der Patient nur auf sich aufmerksam machen. Er wolle weder sich selbst noch andere gefährden. Es sei Aufgabe der Anstalt, Vorkehrungen zu treffen, um den Mißbrauch der Alarmanlage weitestgehend auszuschalten. Die Beschränkung der Anlegung des Bauchgurts wegen Mißbrauches der Alarmglocke erscheine unverhältnismäßig.

Das Erstgericht erklärte die Beschränkungsmaßen mit der Begründung "wiederholter Mißbrauch der Alarmglocke" für unzulässig. Schwerwiegende Beschränkungen der Bewegungsfreiheit wegen Mißbrauches der Alarmglocke, noch dazu von Menschen, bei welchen ohnehin nur eine "Grenzbegabung" vorliege, seien unzulässig. Da sich mindestens ein Pfleger im Raum aufhalten solle, wäre es, wenn auch mit erhöhter Aufmerksamkeit des Personals, zu vermeiden gewesen, daß Gerhard F***** wiederholt die Alarmglocke mißbrauchte. Hätte der wiederholte Mißbrauch nicht verhindert werden können, so hätte der jeweils anwesende Pfleger für eine rechtzeitige Entwarnung sorgen können. Die Beschränkung durch Bauchgurt wegen Mißbrauches der Alarmglocke sei unverhältnismäßig.

Dem gegen diesen Beschluß erhobenen Rekurs des Abteilungsleiters des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie gab das Rekursgericht Folge. Es änderte den angefochtenen Beschluß dahin ab, daß es Beschränkungsmaßnahmen mit der Begründung "wiederholter Mißbrauch der Alarmglocke" für zulässig erklärte. Das Rekursgericht sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.

Der Rekurswerber sei beschwert, obwohl bereits eine elektronische Alarmsicherung für das Haus bestellt worden sei. Nach deren Installierung werde die Beschwer für Patienten und Personal weggefallen sein.

Die Beschränkung müsse sowohl qualitativ als auch quantitativ geeignet sein, den Schutzzweck zu erreichen. Sie müsse "unerläßlich" und im Einzelfall angemessen sein. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sollten nur subsidiär, als letztes Mittel, in Betracht kommen dürfen. Die Beschränkungen müßten der Abwehr von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit des Patienten oder dritter Personen sowie der ärztlichen Behandlung oder Betreuung dienen. Dies sei für jede Beschränkung im Einzelfall zu prüfen. Beschränkungen müßten offenbar gleichzeitig eine gefahrenabwehrende und eine therapeutisch-betreuende Funktion aufweisen, um zulässig zu sein.

Mit Ausnahme der Beschränkungen am 21.10.1992 von 6.30 Uhr bis 10.00 Uhr bzw von 17.00 Uhr bis 18.00 Uhr seien alle weiteren streitgegenständlichen Beschränkungen zusätzlich begründet worden, Insoweit sei der "Mißbrauch der Alarmglocke" nur ein nicht ausschlaggebender Teilaspekt. Angesichts des Krankheitsbildes und der Aggressivität des Patienten könne nicht gesagt werden, daß der Mißbrauch durch "einfaches Einschreiten" vermieden werden könnte. Es müßte sicherlich körperliche Gewalt - unter Umständen von mehreren - angewendet werden, um den Patienten von der Glocke wegzubringen. Dies würde für die problematischen Mitpatienten negative Eindrücke und Folgerungen bewirken. So hätten sich Mitpatienten Gerhard F***** genähert und seien von ihm attackiert worden. In einem Fall habe er eine Mitpatientin an ihrem Pullover ergriffen, wodurch sich der Pullover so eng um den Hals der Patientin zusammengezogen habe, daß man schon fast von einem Würgeeffekt sprechen habe können. Damit sei sowohl die gefahrenabwehrende als auch die therapeutisch-betreuende Funktion (störungsfreier Behandlungs- und Pflegeverlauf bei Gerhard F***** und seinen Mitpatienten) der Beschränkungen dargetan. Die Beschränkungen seien auch verhältnismäßig. Der Gefahrensituation könne nicht anders entgegengewirkt werden.

Der gegen diesen Beschluß von der Patientenanwältin erhobene Revisionsrekurs ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Beschränkungen des Kranken in seiner Bewegungsfreiheit sind nach Art, Umfang und Dauer nur insoweit zulässig, als sie im Einzelfall zur Abwehr einer Gefahr im Sinn des § 3 Z 1 sowie zur ärztlichen Behandlung oder Betreuung unerläßlich sind und zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehen (§ 33 Abs 1 UbG). Beschränkungen der Bewegungsfreiheit dürfen, so wie die Unterbringung selbst, nur "subsidiär", also nur als letztes Mittel in Betracht kommen (AB 1202 BlgNR 17. GP 11). Die größere "Eingriffsintensität" erfordert allerdings eine strengere Beurteilung. Eine Beschränkung nach § 33 Abs 3 darf jedenfalls nur verfügt werden, wenn sie das gelindeste gerade noch zum Ziel führende Mittel ist (Kopetzki, UbG Rz 498).

Die Rekurswerberin ist der Auffassung, das Betätigen der Alarmglocke gefährde nicht unmittelbar Gesundheit oder Leben ernstlich und erheblich. Der Patient wolle damit auf sich aufmerksam machen, er wolle nicht gefährden. Es sei Aufgabe der Anstalt, Vorkehrungen zu treffen, den Mißbrauch der Alarmanlage weitestgehend auszuschalten. Die Beschränkung mit Bauchgurt sei unverhältnismäßig. Bei technisch ungenügender Ausstattung einer Akutstation eines psychiatrischen Krankenhauses werde es notwendig sein, diesen Mangel durch vermehrte therapeutische Betreuung der dort gegen ihren Willen festgehaltenen Patienten auszugleichen.

Ein wiederholter Mißbrauch der Alarmglocke legt, wie der Abteilungsleiter des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie dargelegt hat, den Normalbetrieb im Krankenhaus praktisch lahm; die Arbeit wird immer wieder unterbrochen, um auf die Station zu eilen, auf welcher der Alarm ausgelöst wurde. Wiederholte Fehlalarme können durch den Gewöhnungseffekt zu verspäteten Reaktionen im Ernstfall führen. Es wird dadurch aber, wie die Rechtsmittelwerberin zutreffend ausführt, unmittelbar weder das Leben noch die Gesundheit des Kranken noch Leben oder Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet.

Zu prüfen ist, ob auch eine mittelbare Gefährdung von Gesundheit und Leben ausreicht, um eine Beschränkung nach § 33 UbG zulässig zu machen. § 33 UbG verweist zur Gefahr auf § 3 Z 1 leg cit. Nach dieser Bestimmung darf in einer Anstalt nur untergebracht werden, wer an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit das Leben oder seine Gesundheit oder durch Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet.

Bei den bedrohten Rechtsgütern im Sinne des § 3 Z 1 UbG muß es sich um das Leben oder die Gesundheit handeln. Die Unterbringung psychisch Kranker wegen bloßer Behandlungsbedürftigkeit oder Verwahrlosungsgefahr ist ebensowenig zulässig wie eine Unterbringung als "Maßnahme der Fürsorge".

Die Gefährdung muß "ernstlich" sein. Darunter ist eine hohe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu verstehen. Darüber hinaus hat die Schädigung direkt aus der Krankheit zu folgen (JUS extra 1992, 1142). Schließlich muß die Gefährdung "erheblich" sein. Es ist also eine besondere Schwere der drohenden Schädigung erforderlich (Kopetzki aaO Rz 67).

Diese Voraussetzungen sind bei einer mittelbaren Gefährdung, wie sie durch den Mißbrauch der Alarmglocke hervorgerufen wird, nicht erfüllt. Weder ist der Eintritt eines Schadens in hohem Maß wahrscheinlich - die vom Rekursgericht erwähnte Gefährdung einer Mitpatientin wurde nicht durch den Mißbrauch der Alarmglocke, sondern durch aggressives Verhalten des Kranken hervorgerufen -, noch folgt eine allfällige Schädigung direkt aus der Krankheit.

Um zulässig zu sein, muß die Beschränkung darüber hinaus zur ärztlichen Behandlung oder Betreuung unerläßlich sein. Dieses Erfordernis ist nicht schon dann erfüllt, wenn die Beschränkung einen störungsfreien Behandlungs- und Pflegeverlauf beim Kranken und seinen Mitpatienten ermöglicht; sie muß das letzte Mittel sein, das in Betracht kommt. Im vorliegenden Fall kann die mit einem Mißbrauch der Alarmanlage verbundene Störung des Krankenhausbetriebes durch eine elektronische Alarmsicherung ausgeschaltet werden. Ist eine solche Sicherung nicht vorhanden, so müssen therapeutische Mittel ergriffen werden, um den Kranken am Mißbrauch der Alarmglocke zu hindern. Der mit solchen Mitteln, wie der Einzelbetreuung durch einen Pfleger, verbundene Aufwand mag hoch sein. Dies ändert aber nichts daran, daß eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit zur Verhinderung eines Mißbrauches der Alarmglocke nicht unerläßlich ist.

Ihr fehlt auch die Verhältnismäßigkeit. Die Beschränkung der Bewegungsfreiheit durch Bauchgurt ist ein so schwerwiegender Eingriff, daß sie nicht schon dann angewandt werden kann, wenn der Kranke den Krankenhausbetrieb stört, ohne sein Leben oder seine Gesundheit oder Leben oder Gesundheit anderer unmittelbar zu gefährden. Dabei wird nicht verkannt, daß derartige Störungen des Krankenhausbetriebes den Behandlungsverlauf empfindlich negativ beeinflussen können. Zu berücksichtigen ist aber, daß Disziplinierungsmaßnahmen jedenfalls unzulässig sind (s. RV 464 BlgNR 17. GP 28). Daraus ist ersichtlich, daß Störungen durch unangepaßtes Verhalten durch andere Maßnahmen als durch Beschränkungen begegnet werden muß. Beschränkungen im Sinne des § 33 UbG dürfen nur verfügt werden, wenn der Eingriff in die Bewegungsfreiheit des Patienten nicht außer Verhältnis zur Gefährdung im Sinne des § 3 Z 1 UbG steht (s. Kopetzki aaO Rz 68). Eine Beschränkung durch Bauchgurt ist der Störung des Krankenhausbetriebes und der damit allenfalls verbundenen mittelbaren Gefährdung von Gesundheit oder Leben, wie sie durch den Mißbrauch der Alarmglocke hervorgerufen wird, jedenfalls unangemessen.

Dem Rekurs war Folge zu geben.

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