OGH 15Os193/15v

OGH15Os193/15v17.2.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Februar 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jukic als Schriftführerin in der Strafsache gegen Aime M***** wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 erster und zweiter Fall FPG und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Schöffengericht vom 16. Oktober 2015, GZ 7 Hv 134/15p‑51, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0150OS00193.15V.0217.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil, das auch einen in Rechtskraft erwachsenen Freispruch enthält, wurde Aime M***** „der Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 erster und zweiter Fall FPG“ (im Zusammenhang mit dem Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 1 StPO erkennbar gemeint: mehrerer Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 erster Fall FPG [1.1. und 1.2.; idF vor BGBl I 2015/121] und eines Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 erster und zweiter Fall FPG [1.3.]), der Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs 1 erster Fall StGB (2.), des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83, 84 Abs 2 Z 4 StGB (3.) sowie des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (4.) schuldig erkannt.

Danach hat er in E***** und andernorts

1.) im bewussten und gewollten Zusammenwirken (§ 12 StGB) mit Mittätern in zumindest zehn Angriffen zwischen 11. Juli und 12. August 2015 gewerbsmäßig (§ 70 StGB) und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung die rechtswidrige Einreise und Durchreise einer größeren Zahl an Fremden in und/oder durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union mit dem Vorsatz gefördert, sich durch ein hiefür geleistetes Entgelt in der Höhe von mindestens 10.000 Euro unrechtmäßig zu bereichern, indem er diese nicht rechtmäßig in die Europäische Union eingereisten Personen von Budapest nach Deutschland beförderte bzw befördern wollte, und zwar:

1.1.) zwischen 11. und 20. Juli 2015 eine unbekannte Anzahl, jedoch mindestens fünf namentlich nicht bekannte Fremde;

1.2.) zwischen 4. und 11. August 2015 insgesamt zumindest 90 (in mehreren Fahrten jeweils zwölf, US 10) namentlich nicht bekannte Fremde sowie

1.3.) am 12. August 2015 zwölf, im Urteil namentlich genannte Fremde, wobei der Transport zum Teil auf eine Art und Weise erfolgte, durch die das Leben der Fremden während der Beförderung gefährdet wurde, und zwar dadurch, „dass Aime M***** im Fahrzeug mehr Personen als erlaubt auf beengte Weise transportierte sowie zumindest zwei Fremde gezwungen waren, während der mehrstündigen Fahrt ohne Sitzplätze und Sicherheitsgurte im Kofferraum des PKW zu verweilen, wobei es auch zu einer Verfolgungsjagd mit der Polizei gekommen ist, im Rahmen derer Aime M***** zum Teil mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h in der Fahrbahnmitte durch verschiedene Ortsgebiete gefahren ist, mehrfach ins Schleudern geriet, Kurven geschnitten und ein Polizeifahrzeug touchiert hat, bevor die Fahrt aufgrund Anhaltung durch Polizeibeamte in E***** geendet hat“;

2.) am 12. August 2015 Polizeibeamte durch nachstehende Handlungen jeweils mit Gewalt an einer Amtshandlung gehindert, und zwar,

2.1.) die deutschen Polizeibeamten Michael Br***** und N. E***** an der im Zusammenwirken mit den Beamten der PI E***** versuchten Anhaltung des von Aime M***** gelenkten Fahrzeugs, indem er eine seitliche Kollision mit der von Michael Br***** unter Einsatz des Blaulichts und teils mit aktiviertem Folgetonhorn gelenkten deutschen Zivilstreife verursacht hat, wodurch das Dienstfahrzeug beschädigt wurde;

2.3.) Hannes A***** an der Durchsetzung der Festnahme, indem er diesem Fußtritte und Schläge versetzte;

3.) am 12. August 2015 durch die unter 2.3.) genannte Tathandlung den Polizeibeamten Hannes A***** während der Vollziehung seiner Aufgaben vorsätzlich am Körper verletzt, wobei dieser eine Zerrung des linken Daumens und des rechten Knies erlitt;

4.) am 12. August 2015 durch die unter 2.1.) genannte Tathandlung den zivilen Streifenwagen der deutschen Polizei mit dem (Tarn‑)Kennzeichen ***** beschädigt.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf Z 3, 4, 5, 5a, 9 lit a und 11 des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten. Diese verfehlt ihr Ziel.

Die Verfahrensrüge (Z 3 iVm § 252 Abs 4 StPO) kritisiert die Verlesung des Protokolls über die polizeiliche Vernehmung des Zeugen B***** in der Hauptverhandlung am 16. Oktober 2015 mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 252 Abs 1 Z 1 StPO als nichtig, übersieht aber, dass die gerügte Verlesung ‑ zulässigerweise ‑ nach § 252 Abs 1 Z 4 StPO mit Einverständnis der Parteien erfolgte (ON 50 S 19).

Durch Abweisung des in der Hauptverhandlung am 16. Oktober 2015 gestellten Antrags auf Vernehmung des Mbongo B***** zum Beweis dafür, dass „zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen B***** keinerlei ‑ wie auch immer geartete ‑ kriminelle Verbindung besteht (außer die Fahrten zwischen Deutschland, Belgien und Frankreich)“ (ON 50 S 18) wurden ‑ entgegen der Kritik der Verfahrensrüge (Z 4) ‑ keine Verteidigungsrechte verletzt, ließ der Antrag doch nicht erkennen, weshalb der Zeuge über seine Angaben im Ermittlungsverfahren hinaus, wonach er den Angeklagten zwar kenne, aber nicht wisse woher (ON 36 S 9), Wahrnehmungen zu dem Beweisthema haben sollte (§ 55 Abs 1 StPO).

Soweit die Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) die Erwägungen des Erstgerichts zur Tatsachengrundlage für die Beurteilung der Unangemessenheit des Fuhrlohns mit eigenen Erwägungen bekämpft, zeigt sie keinen formalen Begründungsmangel auf, sondern kritisiert bloß die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht zulässigen Berufung wegen Schuld. Die vom Angeklagten vorgelegten Internetangebote über eine Taxifahrt von Budapest nach Passau (Beilage ./III. und ./IV. zu ON 50) wurden von den Tatrichtern in ihre Erörterungen einbezogen (US 13; Z 5 zweiter Fall). Dass vom Erstgericht aus einer weiteren Urkunde (Beilage ./II.; Internetangebote für Mitfahrgelegenheiten Köln ‑ Paris) andere als die vom Beschwerdeführer angestrebten Schlüsse gezogen wurden, stellt ebenfalls kein nichtigkeitsbewehrtes Begründungsdefizit dar (RIS‑Justiz RS0098400).

Den die Qualifikation nach § 114 Abs 4 zweiter Fall FPG erfüllenden Umstand, dass der Transport auf eine Art und Weise erfolgte, durch die das Leben der Fremden gefährdet wurde, hat das Erstgericht erkennbar nur hinsichtlich der Fahrt am 12. August 2015 angenommen (1.3.), weshalb die in diesem Zusammenhang zu den Schuldspruchpunkten 1.1.) und 1.2.) angestellten Erwägungen der Nichtigkeitsbeschwerde auf sich beruhen können. Zudem stellte die im Urteil erwähnte Lebensgefahr der Geschleppten bei der Beförderung erkennbar keine notwendige Bedingung für die Feststellungen zum auf unrechtmäßige Bereicherung gerichteten Vorsatz dar (RIS‑Justiz RS0116737).

Die vom Beschwerdeführer vermisste Konstatierung, dass die kriminelle Vereinigung aus mehr als zwei Personen bestand (der Sache nach Z 10), befindet sich auf US 6. Sie wurde ‑ logisch und empirisch mängelfrei ‑ aus den ‑ insofern geständigen ‑ Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren, dem Umstand, dass der Angeklagte andere Schlepper kannte, sowie aus der Anmietung der Fahrzeuge in Deutschland, der Geldübergabe durch Mittelsmänner und der Anrufe unbekannter Personen auf dem Mobiltelefon abgeleitet (US 11; Z 5 vierter Fall).

Indem der Beschwerdeführer die zur Mängelrüge vorgebrachten Argumente auch im Rahmen der Tatsachenrüge (Z 5a) wiederholt, gelingt es ihm nicht, beim Obersten Gerichtshof erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Schuldspruch zugrunde liegenden entscheidenden Tatsachen zu erwecken. Gleiches gilt für die von der Beschwerde als aktenwidrig (vgl aber zum Begriff RIS‑Justiz RS0099547) bezeichneten Schlüsse der Tatrichter aus den Kosten eines vom Angeklagten angemieteten Fahrzeugs (Mietvertrag ON 15 S 49; die von der Beschwerde zitierten Belege ON 15 S 57 über je 1.000 Euro betreffen im Übrigen einerseits die Reservierung, andererseits die Bezahlung desselben Mietwagens).

Die Ausführungen der Rechtsrüge (Z 9 lit a), die einen Vorsatz des Angeklagten auf unrechtmäßige Bereicherung bestreiten, vernachlässigen ‑ entgegen den Anforderungen an die Geltendmachung materiell‑rechtlicher Nichtigkeit (RIS‑Justiz RS0099810) ‑ die gegenteiligen Konstatierungen (US 7). Gleiches gilt für die Erwägungen zur Berechnung eines „angemessenen Kilometergelds“.

Dass das sichergestellte Mobiltelefon und das Navigationsgerät bei Begehung der Taten verwendet wurden (§ 19a StGB), hat das Erstgericht konstatiert (US 7). Weshalb es darüber hinaus Feststellungen dazu bedurft hätte, „wann, wo und wie“ die konfiszierten, im Eigentum des Angeklagten stehenden Gegenstände verwendet wurden, vermag die Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall) nicht darzulegen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus sich die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung ergibt (§ 285i StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Bleibt mit Blick auf § 290 Abs 1 StPO anzumerken, dass das Erstgericht zu Unrecht auch die zu 1.1. angeführte Tat einem Verbrechen nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und Z 2, Abs 4 erster Fall FPG idgF unterstellt hat. Zu Abs 3 Z 2 idF vor BGBl I 2015/121 (größere Zahl von Fremden) wie auch in der geltenden Fassung (mindestens drei Fremde) ist eine Zusammenrechnung mehrerer selbständiger Taten (nicht in tatbestandlicher Handlungseinheit begangener Schlepperfahrten) nicht vorzunehmen. Eine § 29 StGB (für „Werte“ und „Schadensbeträge“) vergleichbare Anordnung zur Zusammenrechnung (der geschleppten Personen) und Bildung einer

rechtlichen Subsumtionseinheit findet sich im FPG nämlich nicht. Aus der einleitenden Wortfolge des § 114 Abs 3 FPG, die auf „die Tat nach Abs 1“ verweist, ist vielmehr abzuleiten, dass die Bestimmung des § 114 Abs 3 Z 2 FPG darauf abstellt, dass die vom Tatbestand geforderte Personenanzahl durch eine Tat (auch in Gestalt einer tatbestandlichen Handlungseinheit) erreicht wird (vgl dazu die ähnliche Sachlage bei § 153e Abs 1 Z 2 StGB; RIS‑Justiz RS0127943).

In diese Richtung weist auch die Genese dieser Bestimmung, die zeigt, dass der Gesetzgeber mit der angesprochenen Qualifikation auf den höheren Unrechtsgehalt von Schleppungen abstellen wollte, die nicht bloß Einzelpersonen, sondern gleichzeitig mehrere Fremde oder gar größere Gruppen betreffen (ErläutRV 330 BlgNR 24. GP 35 f).

Als Richtwert sah der Gesetzgeber damals „eine größere Zahl von Fremden“ im Sinn der bisherigen Rechtsprechung bei etwa zehn Personen jedenfalls als gegeben an, wollte diese Schwelle aber nicht starr verstanden wissen, sondern im Sinn eines beweglichen Systems das Gefahrenpotential der konkreten Schleppung unter Berücksichtigung der Anzahl der Geschleppten und der Professionalität der agierenden Täter für das Rechtsgut im Einzelfall bewertet sehen. Feststellungen, dass einzelne der Schlepperfahrten vom Angeklagten im Rahmen einer tatbestandlichen Handlungseinheit begangen worden wären, sind dem Urteil nicht zu entnehmen.

Über den bloßen Subsumtionsirrtum hinausgehende konkrete Nachteile für den Angeklagten sind jedoch nicht ersichtlich, daher sah sich der Oberste Gerichtshof nicht zu amtswegigem Vorgehen veranlasst. Bei der Entscheidung über die Berufung besteht insoweit auch keine Bindung an den Ausspruch des Erstgerichts über das anzuwendende Strafgesetz (RIS‑Justiz RS0118870).

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