European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0150OS00156.17F.0117.000
Spruch:
In der Strafsache gegen Armen Y*****, AZ 115 Hv 76/14k des Landesgerichts für Strafsachen Wien, verletzt das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 8. April 2015, AZ 19 Bs 32/15t, in der Annahme des Erfordernisses der Geltendmachung eines Feststellungsmangels im Fall einer Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld § 464 Z 2 erster Fall und § 467 Abs 2 erster Satz StPO iVm § 489 Abs 1 StPO.
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15. September 2014, GZ 115 Hv 76/14k‑18, das auch einen unangefochten in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch wegen mehrerer Vergehen nach dem WaffenG enthält, wurde Armen Y***** vom Vorwurf, er habe am 25. Mai 2014 [in Wien] Elijio B***** durch gefährliche Drohung zu einer Handlung zu nötigen versucht, indem er eine Pistole durch den geöffneten Türspalt auf ihn richtete und ihn durch die Äußerung „Give me my money back, motherfucker. If not, I am gonna kill you, motherfucker“ zumindest mit einer Verletzung am Körper bedrohte, um sein zuvor bezahltes Honorar für sexuelle Dienste zurück zu erhalten, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Nach den – für den Freispruch – wesentlichen Urteilsannahmen konnte nicht festgestellt werden, dass der Angeklagte am 25. Mai 2014 gegen 6:30 Uhr – nachdem er das Rotlichtlokal „E*****“ zuvor mit Polizeibeamten verlassen hatte – Elijio B***** noch einmal im Lokal aufsuchte, eine Pistole durch den geöffneten Türspalt auf ihn richtete und diesen durch die oben angeführte Äußerung dazu bewegen wollte, sein zuvor bezahltes Honorar für in Anspruch genommene sexuelle Dienste zurück zu geben (US 4). In subjektiver Hinsicht wurde konstatiert, dass weder festgestellt werden konnte, dass „der Angeklagte Elijo B***** durch gefährliche Drohung zu einer Handlung nötigen wollte, noch dass er einen Vorsatz in Bezug auf das Nötigen zu einer Handlung hatte“ (US 9).
Der von der Staatsanwaltschaft Wien gegen diesen Freispruch erhobenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (ON 23) gab das Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 8. April 2015, AZ 19 Bs 32/15t (ON 31 des Hv‑Aktes), nicht Folge.
Begründend führte es dazu aus, dass mit Blick auf die nicht ausreichenden erstgerichtlichen Konstatierungen zur subjektiven Tatseite (siehe aber die oben referierten Negativfeststellungen auch in subjektiver Hinsicht) eine Verurteilung (selbst bei erfolgreicher Berufung wegen Schuld) nur dann hätte erfolgen können, wenn die Staatsanwaltschaft anlässlich der Rechtsmittelanmeldung oder in der schriftlichen Berufungsausführung gemäß § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO mit dem konkreten Hinweis auf in der Hauptverhandlung vorgekommene Verfahrensergebnisse ein Vorbringen erstattet hätte, wonach das Erstgericht Indizien nicht gewürdigt habe, auf deren Grundlage Feststellungen zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen hinsichtlich des in Rede stehenden Delikts zu treffen gewesen wären. Dies habe die Staatsanwaltschaft, indem sie das Urteil allein im Punkt des Ausspruchs über die Schuld bekämpfte, ohne mit Nichtigkeitsberufung Feststellungsmängel gemäß § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO geltend zu machen, verabsäumt (S 6 f des Berufungsurteils).
Rechtliche Beurteilung
Das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 8. April 2015 steht – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:
1./ Gegen die vom Landesgericht als Einzelrichter ausgesprochenen Urteile sieht § 464 StPO (iVm § 489 Abs 1 StPO) neben der Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe, des Ausspruchs über die Strafe und über die privatrechtlichen Ansprüche – als von den übrigen unabhängigen, eigenständigen Anfechtungspunkt – die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld vor, die die Bekämpfung des Ergebnisses der Beweiswürdigung in der Schuld‑ und Subsumtionsfrage ermöglicht (vgl Ratz, WK‑StPO § 464 Rz 1).
Während sich die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe stets gegen behauptete Fehler des angefochtenen Urteils (oder Unzulänglichkeiten des dazu führenden Verfahrens) richten, deren Bezugspunkt daher das angefochtene Urteil ist (vgl 13 Os 19/12m), ist Anfechtungsgegenstand der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (wie auch über die Strafe oder die privatrechtlichen Ansprüche) der in einer Ermessensentscheidung bestehende Inhalt des (jeweiligen) Ausspruchs, nicht aber ein Fehler des Erstgerichts (Ratz, WK‑StPO Vor §§ 280–296a Rz 12 f).
Die in den Entscheidungsgründen festgestellten, den ergangenen Schuld‑ oder Freispruch (nach Maßgabe rechtsrichtiger Subsumtion) tragenden Tatsachen können mit Schuldberufung bekämpft werden (Ratz, WK‑StPO § 464 Rz 8). Im Gegensatz zur Bekämpfung der Feststellungsgrundlage für die Frage der Schuld bei Kollegialgerichten ist die Anfechtung im Rahmen der Schuldberufung nicht auf formale Begründungsmängel und das Aufzeigen erheblicher Bedenken beschränkt, sondern umfassend, und zwar auch durch neue Tatsachenbehauptungen und neues Beweismittelvorbringen (vgl § 467 Abs 1 StPO) zulässig (Ratz, WK‑StPO § 464 Rz 2; Fabrizy, StPO13 § 464 Rz 4; Lohsing/Serini, Österreichisches Strafprozessrecht4, 582; vgl auch RIS‑Justiz RS0117419).
Da § 467 Abs 2 StPO nur in Betreff der Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe eine über die Angabe der Beschwerdepunkte (§ 464 StPO) hinausgehende Bezeichnungsobliegenheit statuiert, genügt für die Schuldberufung die bloße Erklärung, das Urteil wegen des Ausspruchs über die Schuld anzufechten; zur Begründung des Rechtsmittels ist der Berufungswerber nicht verhalten (vgl RIS‑Justiz RS0101920; Ratz, WK‑StPO Vor §§ 280–296a Rz 13, § 467 Rz 2; Fabrizy, StPO13 § 467 Rz 1a; Hager/Meller/Hetlinger Nichtigkeitbeschwerde und Berufung4, 128 f).
Das Berufungsgericht ist bei der sodann zu treffenden – grundsätzlich meritorischen – Entscheidung (vgl § 474 StPO; Fabrizy, StPO13 § 470 Rz 3) nicht an (bei der Anmeldung der Berufung oder in der Berufungsschrift) – allenfalls – vorgetragene Argumente gebunden. Es hat vielmehr alle für den Standpunkt des Berufungswerbers sprechenden Aspekte – selbst wenn die Berufung zum Nachteil des Angeklagten ergriffen wurde – auch ohne entsprechendes Vorbringen aus Eigenem zu berücksichtigen, es sei denn, die Berufung enthielte deutliche und bestimmte Beschränkungen (RIS‑Justiz RS0117216 [T8]; Ratz, WK‑StPO § 467 Rz 2). Ein Feststellungsmangel hingegen kann mit Schuldberufung nicht releviert werden (RIS‑Justiz RS0122980; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 604).
Die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld zielt auf einen eigenständigen Ausspruch des Berufungsgerichts in der Sache ab. Im Fall von Bedenken gegen die Feststellung entscheidender Tatsachen ist es (Zeugen und Sachverständige betreffend) nach § 473 Abs 2 erster Satz StPO zur Beweiswiederholung verpflichtet. Das Berufungsgericht ist (im Rahmen der Anfechtungsrichtung) gesetzlicher Richter mit voller Kognitionsbefugnis und in der Beweiswürdigung aufgrund einer Schuldberufung völlig frei (Ratz, WK‑StPO § 473 Rz 8/1).
Die Berufungsverhandlung hat den Charakter einer neuen, mit erhöhten Garantien für die Ermittlung der Wahrheit und des Rechts ausgestatteten Hauptverhandlung (RIS‑Justiz RS0101780). Folgerichtig ist ein Neuerungsvorbringen (Vorbringen neuer Tatsachen oder Beweismittel) – bis zum Schluss der Berufungsverhandlung – gestattet (§ 467 Abs 1 StPO), ohne dass es für die Zulässigkeit der Schuldberufung – anders als für die Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe in Betreff deren deutlicher und bestimmter Bezeichnung bei der Anmeldung der Berufung oder in ihrer Ausführung – irgendeiner Begründung der Berufung (etwa in Richtung deren „Schlüssigkeit“) bedürfte (vgl SSt 4/81; Lohsing/Serini, Österreichisches Strafprozessrecht4, 586).
2./ Gegenständlich enthielt das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien – den Freispruch tragende – (Negativ‑)Feststellungen, nämlich zur Rückkehr des Angeklagten in das „E*****“ und Bedrohung des Elijio B***** mit dem Ziel der Rückerlangung des bezahlten Honorars (US 4), eine Anfechtung (allein) mit Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld war somit zulässig.
Eine Verpflichtung der Anklagebehörde, zur „Schlüssigkeit“ der Freispruchsanfechtung (vgl Ratz, WK‑StPO § 288 Rz 1), wie von der Rechtsprechung bei der Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen gefordert (RIS‑Justiz RS0127315), hinsichtlich jener Tatbestandsmerkmale, zu denen das Urteil keine positiven Konstatierungen enthält, (zusätzlich) einen Feststellungsmangel geltend zu machen, ist aus dem Gesetz nicht ableitbar. Eine solche Forderung erweist sich vielmehr angesichts des Anfechtungsziels eines eigenständigen Ausspruchs des Berufungsgerichts als systemwidrig:
§ 467 Abs 2 StPO verlangt vom Rechtsmittelwerber lediglich eine Erklärung, durch welchen Ausspruch (§ 464 StPO) er sich beschwert findet, eine darüber hinausgehende Bezeichnungspflicht besteht nur bei einer Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe.
Dementsprechend ist das Berufungsgericht aufgrund einer Schuldberufung, die auf eine eigenständige Entscheidung in der Sache abzielt, nicht an die (allenfalls) geltend gemachten Argumente gebunden, sondern in der am Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung (§ 3 StPO) ausgerichteten Erfassung des Prozessstoffes und in der Beweiswürdigung völlig frei. Das Berufungsgericht ist selbst Tatsacheninstanz (auch) in der Schuldfrage.
Hegt das Berufungsgericht Bedenken gegen die Richtigkeit der Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen, so ist es zur Beweiswiederholung verpflichtet (vgl § 473 Abs 2 StPO). Derartige Bedenken können jedoch schon durch die einen Freispruch bedingende Negativfeststellung auch nur zu einem von mehreren Deliktsmerkmalen ausgelöst werden, ohne dass es darüber hinaus der Geltendmachung eines Feststellungsmangels bedürfte.
Dass das Rechtsmittelgericht auch zum Nachteil des Angeklagten ausschlagende Bedenken – im Fall einer durch die Anklagebehörde zu dessen Nachteil ergriffenen Schuldberufung – zu berücksichtigen hat, ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut (§ 473 Abs 2 erster Satz StPO), der keine Einschränkungen in Bezug auf allfällige Benachteiligungen des Angeklagten normiert.
Fehlende Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen kann das Berufungsgericht nach Wiederholung bzw Ergänzung des Beweisverfahrens nachholen. Durch diese Neudurchführung des Beweisverfahrens, in dem die Bestimmungen über die Hauptverhandlung im schöffengerichtlichen Verfahren anzuwenden sind (§ 473 Abs 1 erster Satz StPO), das Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung (§ 3 StPO) gilt und (auch) dem Berufungsgegner die Stellung von Beweisanträgen und das Vorbringen von Neuerungen offen steht, wird eine Benachteiligung des (in erster Instanz freigesprochenen) Berufungsgegners hintangehalten.
Insbesondere aber ist die Forderung an den Ankläger, bei Bekämpfung eines Freispruchs mittels Schuldberufung in Bezug auf (für den angestrebten Schuldspruch) fehlende Feststellungen einen Feststellungsmangel geltend zu machen, mit der Zulässigkeit von Neuerungen unvereinbar. Denn die prozessordnungsgemäße Geltendmachung eines Feststellungsmangels erfordert die auf Basis des Urteilssachverhalts vorzunehmende Argumentation, dass sich aus einem nicht durch Feststellungen geklärten, aber durch in der Hauptverhandlung vorgekommene Beweise indizierten Sachverhalt eine vom Erstgericht nicht gezogene rechtliche Konsequenz ergebe (RIS‑Justiz RS0118580 [T15]).
Werden der Anklagebehörde aber erst nach Schluss der Hauptverhandlung in erster Instanz neue, für den angestrebten Schuldspruch relevante Beweismittel zugänglich, so wäre die prozessordnungskonforme Geltendmachung eines darauf bezogenen Feststellungsmangels ausgeschlossen und – folgte man der Ansicht des Oberlandesgerichts Wien – damit die „Schlüssigkeit“ einer gegen den Ausspruch über die Schuld erhobenen Berufung zu verneinen, diese demnach – ohne weitere meritorische Prüfung – zurückzuweisen, wodurch der Anklagebehörde im Ergebnis ein dem klaren Gesetzeswortlaut (§ 467 Abs 1 StPO) widersprechendes Neuerungsverbot auferlegt werden würde.
Indem das Oberlandesgericht Wien sein die Berufung wegen Schuld abweisendes – der Sache nach zurückweisendes (vgl § 474 StPO) – Urteil auf den Umstand gründete, dass die Urteilsanfechtung durch die Staatsanwaltschaft lediglich im Punkt der Schuld erfolgte, ohne dass mit Nichtigkeitsberufung in Bezug auf die zur subjektiven Tatseite (vermeintlich) fehlenden Konstatierungen Feststellungsmängel (gemäß § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO) geltend gemacht wurden, hat es zwei grundsätzlich verschiedene Rechtsinstitute mit unterschiedlichen Anfechtungszielen und ‑kriterien vermengt. Das Urteil verletzt daher § 464 Z 2 erster Fall und § 467 Abs 2 erster Satz StPO iVm § 489 Abs 1 StPO.
Diese dem (insoweit) freigesprochenen Angeklagten nicht zum Nachteil gereichende Gesetzesverletzung war festzustellen.
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