OGH 13Os19/12m

OGH13Os19/12m5.4.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. April 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Linzner als Schriftführerin in der Strafsache gegen Walter M***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB, AZ 7 U 129/10z des Bezirksgerichts Gänserndorf, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 1. September 2011, AZ 901 Bl 33/11t (ON 24), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:0130OS00019.12M.0405.000

 

Spruch:

 

Das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 1. September 2011, AZ 901 Bl 33/11t, verletzt § 61 StGB iVm § 88 Abs 2 Z 3 StGB idF vor BGBl I 2010/111 sowie § 468 Abs 1 Z 4 iVm § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO.

 

Gründe:

Mit Urteil des Bezirksgerichts Gänserndorf vom 3. November 2010, GZ 7 U 129/10z-19, wurde Walter M***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt. Danach hat er am 25. Juli 2009 in G***** Sabine S***** fahrlässig am Körper verletzt, indem ein ihm anvertrauter, weder an der Leine geführter noch mit einem Beißkorb versehener Hund Sabine S***** im Zuge einer Auseinandersetzung mit deren Hund mit den Zähnen ritzte und zu Sturz brachte, wodurch das Opfer im Urteil näher beschriebene Verletzungen erlitt.

Das Erstgericht ging dabei ersichtlich (vgl den Verweis auf das medizinische Sachverständigengutachten [ON 10 S 3] auf US 6) von einer Gesundheitsschädigung und einer Berufsunfähigkeit des Opfers von mehr als drei, nicht jedoch mehr als zehn Tagen aus.

Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil gab das Landesgericht Korneuburg einer vom Angeklagten auf den Grund des § 281 Abs 1 Z 9 lit a iVm § 468 Abs 1 Z 4 StPO gestützten Berufung wegen Nichtigkeit Folge, hob das bezeichnete Urteil des Bezirksgerichts Gänserndorf auf und sprach den Angeklagten gemäß § 259 Z 3 StPO frei. Begründend führte es aus, den Angeklagten treffe kein schweres Verschulden iSd § 88 Abs 2 StGB und aus der Tat resultiere keine Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit einer anderen Person von mehr als 14‑tägiger Dauer. Aufgrund eines Günstigkeitsvergleichs (§ 61 StGB) sei der Strafausschließungsgrund des § 88 Abs 2 Z 3 StGB in der am 1. Jänner 2011 ‑ also nach dem erstinstanzlichen Urteil ‑ in Kraft getretenen Fassung des BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) anzuwenden (ON 24 S 4).

Rechtliche Beurteilung

Dieses Urteil des Berufungsgerichts steht ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt ‑ mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Gemäß § 88 Abs 2 Z 3 StGB idF vor BGBl I 2010/111 war Straflosigkeit des Täters (sofern diesen kein schweres Verschulden traf) vorgesehen, wenn aus der Tat keine Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit einer anderen Person von mehr als dreitägiger Dauer erfolgte. Durch das nach dem erstinstanzlichen Urteil ohne Übergangsbestimmung in Kraft getretene BudgetbegleitG 2011 wurde (unter Beibehaltung der sonstigen Voraussetzungen) die Dauer der für die Straflosigkeit maßgeblichen Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit auf bis zu 14 Tage ausgedehnt.

Gemäß § 61 zweiter Satz StGB sind Strafgesetze auf vor ihrem Inkrafttreten begangene Taten dann anzuwenden, wenn die Gesetze, die zur Zeit der Tat gegolten haben, für den Täter in ihrer Gesamtauswirkung nicht günstiger waren. Auf welchen Zeitpunkt (des Verfahrens) der solcherart angeordnete Günstigkeitsvergleich abstellt, regelt das Gesetz nicht (vgl demgegenüber § 4 Abs 2 FinStrG, der ausdrücklich die Entscheidung erster Instanz nennt).

Bezugspunkt einer Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe ist das angefochtene Urteil. Das Rechtsmittelgericht hat zu prüfen, ob diesem (oder, was hier nicht in Rede steht, dem dazu führenden Verfahren) der behauptete (Nichtigkeit begründende) Rechtsfehler anhaftet (anders übrigens bei der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld, die Strafe oder die privatrechtlichen Ansprüche, die auf einen eigenständigen Ausspruch des Berufungsgerichts zielt [Ratz, WK-StPO Vor § 280 Rz 12 f]). Ob „durch den Ausspruch über die Frage, ob die dem Angeklagten zur Last fallende Tat eine zur Zuständigkeit der Gerichte gehörige strafbare Handlung begründe“, „ein Gesetz verletzt oder unrichtig angewendet wurde“ (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO), kann demnach nur anhand der im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils geltenden Rechtslage beantwortet werden. Nach dieser begründete hier der erstinstanzliche Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB (iVm Abs 2 Z 3 des § 88 StGB idF vor BGBl I 2010/111) keinen Gesetzesverstoß.

Die erst nach dem erstinstanzlichen Urteil in Kraft getretene Gesetzesänderung hätte das Berufungsgericht im Verfahren über die Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe, weil es keinen eigenständigen Ausspruch über die Schuld zu treffen hatte, nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung nicht berücksichtigen dürfen (RIS-Justiz RS0087462, RS0088808 [jeweils insbesondere T1]; vgl SSt 43/9; 11 Os 95/02 [verst Senat], EvBl 2003/182, 852; eingehend: Ratz, WK-StPO § 288 Rz 34 ff). Daran ändert ‑ wie der Vollständigkeit halber angemerkt wird ‑ die in einem solchen Rechtsmittelverfahren bestehende Möglichkeit des Berufungsgerichts, eigene Feststellungen nach Beweisaufnahme zu treffen, nichts, weil diese Vorgangsweise eine begründete Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe oder amtswegiges Vorgehen aus deren Anlass voraussetzt (RIS-Justiz RS0117419; Ratz, WK-StPO § 473 Rz 11 ff).

Zu einer anderen Sicht gibt auch Art 7 Abs 1 MRK keinen Anlass, denn das aus diesem in der jüngeren Rechtsprechung des EGMR (U 17. 9. 2009 [GK], Scoppola, Nr 10.249/03; zur Entwicklung der diesbezüglichen Rsp Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 24 Rz 145) abgeleitete Gebot der Rückwirkung ‑ nach der Tatbegehung in Kraft getretener ‑ milderer Strafgesetze legt den prozessualen Bezugspunkt des in diesem Sinn vorzunehmenden Günstigkeitsvergleichs nicht fest (in dem Fall, welcher der zitierten Entscheidung [vgl ebenda Z 11 ff, 21] zugrunde lag, war die in Rede stehende Gesetzesänderung im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung bereits in Kraft).

Da sich die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Vorteil des freigesprochenen Angeklagten auswirkte, war sie lediglich festzustellen.

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