OGH 15Os112/15g

OGH15Os112/15g11.11.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. November 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Weißnar als Schriftführerin im Verfahren zur Unterbringung des Ezra D***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Betroffenen gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 2. Juni 2015, GZ 27 Hv 21/15x‑61, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0150OS00112.15G.1111.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Ezra D***** gemäß § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen,

weil er am 16. Dezember 2014 in I***** unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, nämlich einer Erberkrankung des Chromosoms 15 („Prader‑Willi‑Syndrom“), seiner Mutter Siobhan D***** eine schwere Körperverletzung absichtlich zuzufügen versucht hat, indem er einen etwa 30 cm langen Maurerhammer mit einem Gewicht von ca zwei Kilogramm gegen ihren Kopf warf, wodurch sie eine leichte Körperverletzung, nämlich eine rund zwei Zentimeter lange Rissquetschwunde am Kopf erlitt, und die Tat daher beim Versuch blieb,

und somit eine Tat begangen hat, die als Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf Z 2, 4 und 11 (iVm Z 5a) des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Betroffenen, der keine Berechtigung zukommt.

Entgegen der Verfahrensrüge (Z 2) wurden durch die ‑ gegen den Widerspruch des Rechtsmittelwerbers (ON 60 S 8) erfolgte ‑ Verlesung der Protokolle über die Vernehmungen des Betroffenen im Ermittlungsverfahren (ON 60 S 10) Verteidigungsrechte nicht verletzt.

Die Verlesung in der Hauptverhandlung am 2. Juni 2015 erfolgte gemäß § 245 Abs 1 StPO (iVm § 429 Abs 1 StPO), weil der Betroffene keine Angaben zur Sache machen wollte (ON 60 S 2; vgl Kirchbacher, WK‑StPO § 245 Rz 48, 58 f). Der Kritik zuwider enthielten die Vernehmungen des Genannten vor der Kriminalpolizei und dem Landesgericht Innsbruck durchaus auch die gebotenen Belehrungen (§ 164 Abs 1 StPO; ON 2 S 8 f, ON 3 S 13 f und 19 f, ON 4 S 5 ff, 9 und 23 f, ON 20 S 16 f, ON 46 S 6 f).

Dass der Betroffene mit Blick auf seine geistige Beeinträchtigung entgegen § 50 Abs 2 StPO nicht in einer ihm verständlichen Sprache und auf eine ebensolche, seine besonderen persönlichen Bedürfnisse berücksichtigende Art und Weise über seine auch im Unterbringungsverfahren sinngemäß anzuwendenden (§ 48 Abs 2 StPO) „Beschuldigten“‑Rechte belehrt worden wäre und seine Befragung daher ‑ wie dies die Beschwerde behauptet ‑ als Umgehung der Bestimmungen über die „Vernehmung des Beschuldigten“ und damit als nichtige Erkundigung (§ 152 Abs 1 zweiter Satzteil StPO) zu werten wäre (Michel‑Kwapinski, WK‑StPO § 166 Rz 22), ist gleichfalls nicht indiziert. Den vom Betroffenen unterfertigten Vernehmungsprotokollen ist zu entnehmen, dass dieser erklärte, die erteilten Belehrungen zur Kenntnis genommen und verstanden zu haben (ON 3 S 13 ff, ON 4 S 5, ON 20 S 17, ON 46 S 6 ff). Dass der Betroffene, der Staatsangehöriger des Vereinigten Königreiches ist, jedoch nach eigenen Angaben in Innsbruck geboren wurde und seither in Tirol lebt (ON 2 S 9), der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig wäre und solcherart die Beiziehung eines Dolmetschers für die englische Sprache erforderlich gewesen wäre, ist nach der Aktenlage nicht anzunehmen und wurde seitens des Betroffenen auch nicht behauptet.

Aus allen Vernehmungsprotokollen ergibt sich vielmehr ein in sich stimmiger und geordneter Frage‑Antwort‑Verlauf, der keine Anhaltspunkte für die relevierten Verständnis‑ oder Kommunikations-schwierigkeiten bietet. Insbesondere die Angaben des Betroffenen vor dem Landesgericht Innsbruck, wonach er „ohne weiteres“ mit der vernehmenden Einzelrichterin rede, „jedoch [...] in weiterer Folge [...] die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers für das weitere Verfahren [beantrage], da [er] nicht die finanziellen Mittel habe, [...] selber einen Anwalt zu bezahlen“ und er weiters seine Angaben vor der Kriminalpolizei aufrecht erhielt und noch weiter präzisierte (ON 4 S 7 ff), lassen nicht auf Verständnis- oder Ausdrucksschwierigkeiten im kritisierten Ausmaß schließen.

Auch nach der schriftlich erstatteten, in der Hauptverhandlung aufrecht erhaltenen Expertise des psychiatrisch-neurologischen Sachverständigen ist beim Betroffenen, der an einer Intelligenzminderung leide, durchaus von einer Verständnisfähigkeit auszugehen und kann diesem mit einfachen Worten auch „einiges“ vermittelt werden. Zwischen den Angaben des Betroffenen vor der Polizei und dem Landesgericht Innsbruck sowie dessen Aussagen gegenüber dem Sachverständigen, der dem Betroffenen auch kontrollierende Gegenfragen stellte, konnte der Experte nämlich keine großen Divergenzen feststellen, dessen Angaben, die der Betroffene teilweise korrigierte, würden „vom Sinn her passen“ (ON 33 S 24 f iVm ON 60 S 4 ff).

Selbst unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen des Sachverständigen, wonach der Betroffene eine (allenfalls bloß vorgelesene) schriftliche Belehrung über seine Rechte vor der Polizei nicht verstehen könne, es zur Erfassung des Inhalts einer einzelnen Erklärung der verwendeten Gesetzesbegriffe und zwecks Überprüfung eines ständigen Rückfragens bedürfe und sogar nicht ausgeschlossen sei, dass der Betroffene den Belehrungstext selbst bei „einfacher Sprache“ nicht verstehe (ON 60 S 6 ff), zeigt das Rechtsmittel nicht auf, dass die dem Betroffenen erteilte Rechtsbelehrung in einer solchen Weise unverständlich gewesen sei, dass dies einem Unterbleiben der vorgesehenen Belehrung gleichkäme.

Die Angaben des Betroffenen im Rahmen seiner Vernehmungen im Ermittlungsverfahren wurden daher nicht durch bloße Erkundigungen im Sinn des § 152 StPO gewonnen, die im Fall der Umgehung der Bestimmungen über die Beschuldigtenvernehmung nichtigkeitsbedroht wären.

Im Übrigen ist nicht jede Erkundigung als Umgehung zu bewerten. Eine solche liegt erst dann vor, wenn eine als Beschuldigter (hier: Betroffener) in Betracht kommende Person über ihre Rechte im Unklaren belassen wird (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 187). Die Bestimmungen über Beweisaufnahmen nach der StPO stellen Verhaltensanordnungen an die verantwortlichen Organwalter, fallbezogen an die die Belehrung und Vernehmung durchführende Person dar. Erkundigungen (und andere Beweisaufnahmen im Ermittlungsverfahren) sind unter diesem Blickwinkel erst dann nichtig, wenn dem verantwortlichen Organwalter jene Tatsachengrundlage offenbar wird, auf die die Rechtsbegriffe der betreffenden Vorschrift abstellen (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 38 f; vgl auch RIS‑Justiz RS0113818, RS0113610; Michel‑Kwapinski, WK‑StPO § 166 Rz 37).

Dass der vom Betroffenen und seinem Verfahrenshilfeverteidiger nach dem Akteninhalt nicht kommunizierte, erstmalig Monate nach den fraglichen Vernehmungen vom Wahlverteidiger relevierte (ON 55) Umstand, der Betroffene hätte ihm erteilte Rechtsbelehrungen nicht verstanden bzw wäre in seiner Verständnis‑ und Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt, den vernehmenden Personen bekannt oder für diese auch nur erkennbar war, wird ‑ zumal sich im Akt auch keine entsprechenden Anhaltspunkte finden ‑ aber von der Beschwerde nicht einmal behauptet.

Bleibt anzumerken, dass auch keine Hinweise für ein unerlaubtes Einwirken der Vernehmenden auf die Willensentschließung oder Willensbetätigung des Betroffenen vorliegen (§ 166 Abs 1 Z 2 StPO), er sohin zu einer Aussage bewogen worden wäre, die er bei richtiger ‑ von ihm verstandener ‑ Belehrung nicht oder nicht in der vorliegenden Form abgelegt hätte (Michel‑Kwapinski, WK‑StPO § 166 Rz 22).

Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch Abweisung (ON 60 S 9 f) der in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträge (ON 60 S 8 f iVm ON 55) Verteidigungsrechte nicht verletzt.

Die zum Beweis, dass der Betroffene geistig behindert sei, beantragte Verlesung der dem schriftlichen Beweisantrag vom 21. April 2015 angeschlossenen (ON 55 S 15 ff) Urkunden über dessen Besuch der allgemeinen Sonderschule bzw einer Sonderschule für Schwerbehinderte (für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf) fand ohnehin statt (ON 60 S 10 Mitte). Im Übrigen gingen die Tatrichter von einer geistigen Behinderung des Betroffenen aus (US 3 ff; § 55 Abs 2 Z 3 StPO).

Inwieweit aus dem zum Beweis mangelnder Aussagefähigkeit des Betroffenen und fehlender Aussagekraft dessen Angaben begehrten aussagepsychologischen Gutachten (ON 60 S 8 f) ein über die bereits in der Hauptverhandlung hiezu (auch über Befragung durch den Verteidiger) erstattete Expertise des psychiatrisch-neurologischen Sachverständigen (ON 33 S 24 f iVm ON 60 S 3 ff) hinausgehender Erkenntniswert zu erwarten wäre, legte der Beweisantrag ebenso wenig dar, wie etwaige (durch Befragung nicht beseitigte) Mängel des Gutachtens im Sinn des § 127 Abs 3 StPO, die dessen Ergänzung oder die Beiziehung eines weiteren Sachverständigen erforderlich gemacht hätten.

Der zum Beweis dafür, dass vor den Vernehmungen des Betroffenen keine Erklärung der Beschuldigtenrechte in „einfacher Sprache“ stattgefunden habe, gestellte Antrag auf Vernehmung der Polizeibeamten C*****, W*****, F***** und K***** als Zeugen, konnte schon deshalb abgewiesen werden, weil Gegenteiliges nie behauptet und vom Erstgericht auch nicht angenommen wurde (US 9 ff; § 55 Abs 2 Z 3 StPO).

Der Antrag legte überdies nicht dar, inwieweit diese Zeugen (trotz aktenkundigen Fehlens entgegenstehender Mitteilungen durch den Betroffenen) Angaben darüber machen könnten, dass der Betroffene die erteilte Rechtsbelehrung tatsächlich nicht verstanden habe.

Sind sinnliche Wahrnehmungen der Vernehmungsorgane über allfällige Verständnis-schwierigkeiten jedoch nicht ersichtlich, bilden deren Mutmaßungen über die Auffassungsgabe des Betroffenen als bloß subjektive Meinungen, Ansichten, Wertungen und Schlussfolgerungen grundsätzlich keinen Gegenstand einer Zeugenaussage (RIS‑Justiz RS0097540).

Das in der Beschwerde als Versuch weiterer Antragsfundierung Nachgetragene ist prozessual verspätet (RIS‑Justiz RS0099117, RS0099618). Indem der Beschwerdeführer überdies die Begründung der abweislichen Entscheidung des Schöffensenates kritisiert, übersieht er, dass deren Richtigkeit nicht unter Nichtigkeitssanktion steht (RIS‑Justiz RS0121628, RS0116749).

Soweit die Sanktionsrüge (Z 11 iVm Z 5a) mit Verweis auf eine ‑ isoliert dargestellte ‑ Äußerung des Sachverständigen, wonach der Betroffene nur dann gefährlich sei, wenn er dauerhaft bei seinen Eltern wohne (ON 60 S 7), erhebliche Bedenken gegen die konstatierte Gefährlichkeitsprognose (US 5 f), erwecken will, macht sie lediglich einen Berufungsgrund geltend.

Denn die Anordnung einer Maßnahme nach § 21 StGB stellt einen Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO dar, der grundsätzlich mit Berufung und nur nach Maßgabe des § 281 Abs 1 Z 11 StPO auch mit Nichtigkeitsbeschwerde bekämpft werden kann. Dabei sind Überschreitung der Anordnungsbefugnis (Z 11 erster Fall) und Ermessensentscheidung innerhalb dieser Befugnis zu unterscheiden. Gegenstand der Nichtigkeitsbeschwerde nach Z 11 erster Fall sind der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades beruhende Zustand und dessen Einfluss auf die Anlasstat sowie die Mindeststrafdrohung für die Anlasstat (Ratz in WK² StGB Vor §§ 21‑25 Rz 8 f). Hinsichtlich dieser für die Sanktionsbefugnis entscheidenden Tatsachen ist neben der Berufung auch die Bekämpfung mit Verfahrens‑, Mängel‑ oder (wie hier intendiert) Tatsachenrüge (§ 281 Abs 1 Z 11 erster Fall iVm Z 2 bis 5a StPO) zulässig.

Bei der Ermessensentscheidung der Gefährlichkeitsprognose hingegen kommt eine Anfechtung mit Nichtigkeitsbeschwerde (§ 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO) lediglich dann in Betracht, wenn deren gesetzlichen Kriterien verkannt werden oder die Prognosetat verfehlt als solche mit schweren Folgen beurteilt wird (RIS‑Justiz RS0118581, RS0113980, RS0090341; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 669, 715 ff). Die rechtsfehlerfreie Gefährlichkeitsprognose indes ist ausschließlich Gegenstand der Berufung.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher ‑ in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung des Verteidigers ‑ bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus sich die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung ergibt (§ 285i StPO).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte