European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00087.23A.0724.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
B e g r ü n d u n g :
[1] Der 1969 geborene Kläger hat in Nordmazedonien eine Fachausbildung abgeschlossen (Bautechniker/Bauwesen), die mit der österreichischen Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf Tiefbauer gemäß § 27a Abs 2 BAG gleichgehalten wird. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1. 8. 2021 hat er 89 Beitragsmonate der Pflichtversicherung sowie – ua – einen Beitragsmonat der Pflichtversicherung (September 2017) infolge des Bezugs von Urlaubsersatzleistung gemäß § 9 BUAG im Zeitraum von 20. 8. 2017 bis 18. 9. 2017 erworben.
[2] Der Kläger ist aufgrund seines eingeschränkten Leistungskalküls nicht mehr in der Lage, eine Tätigkeit als Tiefbauer im Rahmen jeglicher qualifizierten Ausprägung auszuüben. Er ist jedoch noch in der Lage, näher festgestellte Berufstätigkeiten im Hilfskraftbereich, für die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Dienstposten in ausreichender Anzahl vorhanden sind, auszuüben.
[3] Mit Bescheid vom 21. 1. 2022 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 6. 7. 2021 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab. Weder liege dauerhafte noch vorübergehende Invalidität vor, weshalb kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld, auf medizinische oder auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.
[4] Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension, hilfsweise auf Feststellung, dass Anspruch auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation sowie auf Rehabilitationsgeld bestehe, ab. Der Kläger genieße keinen Berufsschutz, weil die Voraussetzungen des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG nicht vorliegen. Der Bezug einer Urlaubsersatzleistung begründe nach der Rechtsprechung und nach dem Wortlaut des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG keinen Berufsschutz im Sinn dieser Bestimmung. Invalidität liege auch gemäß § 255 Abs 3 ASVG nicht vor.
Rechtliche Beurteilung
[5] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
[6] 1. Der Revisionswerber führt aus, dass ihn die Nichtberücksichtigung des Zeitraums des Bezugs der Urlaubsersatzleistung gegenüber einem Dienstnehmer, der seinen Urlaub konsumiert und deshalb einen für den Erhalt des Berufsschutzes beachtlichen Beitragsmonat zur Pflichtversicherung mehr erworben habe, unsachlich schlechter stelle. Anders als beim Krankengeld oder bei der Kündigungsentschädigung bestehe eine zwingende Verbindung des Dienstverhältnisses mit dem Urlaubsanspruch, dessen Abgeltung bei Nichtverbrauch nicht zu Nachteilen beim Berufsschutz führen dürfe. Die vom Berufungsgericht zitierte Rechtsprechung (10 ObS 62/04x SSV‑NF 18/70; 10 ObS 71/14k SSV‑NF 28/44; 10 ObS 158/15f SSV‑NF 30/12; RS0117787 [T3]) sei zu § 255 Abs 4 ASVG ergangen, überzeuge nicht und habe sich mit der gegen sie geäußerten Kritik in der Literatur nicht auseinandergesetzt.
[7] 2. Richtig ist, dass sich die zitierten Entscheidungen mit der besonderen Form des Berufsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG auseinandergesetzt haben (dazu jüngst 10 ObS 135/22h mwH). Der Oberste Gerichtshof hat jedoch bereits in der Entscheidung 10 ObS 85/14v SSV‑NF 28/49 ausgeführt, dass es in der Frage des Berufsschutzes letztlich auf den tatsächlichen Einsatz bestimmter Kenntnisse und Fähigkeiten ankommt (Pkt 1.4). § 255 ASVG regelt (iVm § 273 ASVG) in seiner Gesamtheit das System des Zugangs zu einer Pensionsleistung aus der Minderung der Arbeitsfähigkeit in Form von ausbildungs‑ und altersabhängigen Konstellationen. Dabei setzt der Gesetzgeber das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit als selbstverständlich voraus. Zum Erwerb eines Anspruchs auf Invaliditätspension nach § 255 Abs 3 ASVG ist daher ein Eintritt ins Erwerbsleben und die tatsächliche Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung erforderlich (10 ObS 44/21z SSV‑NF 35/42).
[8] 3. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn das Gesetz selbst eine klare, eindeutige Regelung trifft (RS0042656). Das ist hier, worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat, der Fall. § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG lautet (Unterstreichung durch den Senat): „Eine überwiegende Tätigkeit im Sinne des Abs. 1 liegt vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs. 2) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs. 1 oder als Angestellte/r ausgeübt wurde.“ Der Anspruch auf Urlaubsersatzleistung entsteht gemäß § 10 UrlG mit der Auflösung des Dienstverhältnisses und ist auch in diesem Zeitpunkt fällig (Mayr/Erler, UrlG § 10 Rz 2). Der Umstand, dass die Pflichtversicherung für die Zeit des Bezugs von Urlaubsersatzleistung gemäß § 11 Abs 2 Satz 2 ASVG weiter besteht, ändert nichts daran, dass nach der Beendigung eines Dienstverhältnisses keine Erwerbstätigkeit mehr im Sinn des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG ausgeübt werden kann (10 ObS 62/04x). Mit dem Wortlaut dieser Bestimmung und der darauf gestützten Argumentation des Berufungsgerichts setzt sich die Revision nicht auseinander.
[9] 4.1 Erkennbar behauptet der Revisionswerber (unter Berufung auf Födermayr in SV‑Komm [252. Lfg] § 255 ASVG Rz 191; dieselbe in: Geminderte Arbeitsfähigkeit [2009] 108 f) eine Verletzung des Gleichheitssatzes des Art 7 B‑VG durch die Bestimmung des § 255 Abs 2 ASVG. Eine Regelung ist nicht schon dann gleichheitswidrig, wenn ihr Ergebnis nicht in allen Fällen als befriedigend angesehen wird (RS0053882). Dem Gesetzgeber steht verfassungsrechtlich insoweit ein Gestaltungsspielraum zu, als er in seinen rechts‑ und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Gerade im Sozialversicherungsrecht ist eine durchschnittliche Betrachtungsweise erforderlich, die auf den Regelfall abstellt und damit Härten in Einzelfällen nicht ausschließen kann (RS0053889). Das aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitete Sachlichkeitsgebot wäre nur dann verletzt, wenn der Gesetzgeber zur Zielerreichung völlig ungeeignete Mittel vorsieht oder wenn die vorgesehenen, an sich geeigneten Mittel zu einer sachlich nicht begründbaren Differenzierung führen (RS0058455).
[10] 4.2 Das System des Berufsschutzes bedingt einen leichteren Zugang zur Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, je besser die versicherte Person ausgebildet ist, weil das Verweisungsfeld kleiner ist (Sonntag in Sonntag, ASVG14 § 255 ASVG Rz 2; 10 ObS 44/21z Rz 26). Voraussetzung ist die Ausübung der – qualifizierten – Erwerbstätigkeit in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag. Der Revisionswerber vermag nicht aufzuzeigen, aus welchen Gründen der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum verletzt, wenn dieser einerseits – durchaus zu Gunsten des Versicherten – die Pflichtversicherung für den Zeitraum der Gewährung einer Urlaubsersatzleistung weiter bestehen lässt (§ 11 Abs 2 Satz 2 ASVG), andererseits für die Erhaltung des – privilegierten – Berufsschutzes im Sinn des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG die Ausübung einer qualifizierten Erwerbstätigkeit fordert, die jedoch nach Beendigung des Dienstverhältnisses nicht mehr möglich ist.
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