OGH 10ObS36/18v

OGH10ObS36/18v23.5.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Klaus Oblasser und Mag. Dr. Johanna Biereder (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Puttinger Vogl Rechtsanwälte GmbH in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr. Michael Stögerer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Betriebsrente, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 1. März 2018, GZ 12 Rs 11/18a‑18, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00036.18V.0523.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Im Revisionsverfahren ist allein strittig, ob der Klägerin im Zeitraum ab 1. 1. 2016 aufgrund der Berufskrankheit Nr 43 gemäß Anlage 1 zum ASVG (§ 148e BSVG) eine Betriebsrente zusteht.

Die Klägerin ist Landwirtin und führte bis 31. 12. 2015 einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Rindern/Milchwirtschaft. Bei der Klägerin liegt eine „exogen allergische Alveolitis“ vor, die erstmals 2014 auftrat. Dabei handelt es sich um eine allergisch entzündliche Reaktion des Lungengewebes auf Kontakt mit Schimmelpilzsporen, die hochcharakteristisch für die Exposition im landwirtschaftlichen Betrieb sind. Charakteristikum dieser Krankheit ist das typische Auftreten von Schüben nach entsprechender Exposition.

Eine Besserung der Symptomatik der Klägerin konnte unter Cortison‑Therapie und Schutzmaßnahmen gegen die Exposition (insbesondere das Tragen einer Schutzmaske) teilweise erreicht werden. Aufgrund der völligen Aufgabe der Tätigkeit in der Landwirtschaft ab 1. 1. 2016 ist der Zustand der Klägerin weitgehend normalisiert; bei erneuter Exposition ist jedoch umgehend mit Schüben der Alveolitis bzw Entzündung der kleinen Lungenbläschen zu rechnen. Bei fortgesetzter Exposition besteht die Gefahr einer chronischen Narbenbildung, die dann in Form einer Lungenfibrose einen irreversiblen Zustand und Schaden der Lunge darstellt. Die Erkrankung der Klägerin hat jederzeit das Potential, bei Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit zu schwersten und teilweise irreversiblen Veränderungen im Lungengewebe zu führen.

Ohne Berücksichtigung der potentiellen Krankheitssituation ist seit dem 1. 1. 2016 rein funktionell eine Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin in Höhe von 10 % gegeben. Unter Einbeziehung der potentiellen Erkrankungssituation beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit 20 %.

Mit Bescheid vom 27. 7. 2016 erkannte die beklage Sozialversicherungsanstalt der Bauern die Krankheit der Klägerin, „Exogen allergische Alveolitis vom Typ der Farmerlunge“, als Berufskrankheit an. Der Versicherungsfall sei mit 4. 12. 2014 eingetreten, ein Anspruch auf Betriebsrente bestehe nicht.

Das Erstgericht sprach der Klägerin dem Grund nach eine Betriebsrente vom 28. 10. 2015 bis 4. 12. 2015 im Ausmaß von 40 vH der Vollrente und vom 5. 12. 2015 bis 31. 12. 2015 im Ausmaß von 30 vH der Vollrente für die Folgen der Berufskrankheit Nr 43 gemäß Anlage 1 zum ASVG (§ 148e BSVG) zu und wies das Mehrbegehren der Klägerin auf Zahlung einer Betriebsrente über den 31. 12. 2015 hinaus ab.

Das von der Klägerin und von der Beklagten angerufene Berufungsgericht gab beiden Berufungen Folge. Es erkannte der Klägerin dem Grund nach für die Folgen der Berufskrankheit Nr 43 eine Betriebsrente vom 28. 10. 2015 bis 31. 12. 2015 im Ausmaß von 30 vH der Vollrente, und ab 1. 1. 2016 im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu und trug der Beklagten (ebenso wie bereits das Erstgericht) eine vorläufige Leistung auf. Bei der Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit seien vor allem zwei Faktoren von Bedeutung: Der medizinisch festzustellende Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Folgen des Versicherungsfalls einerseits und der Umfang der der Erkrankten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens andererseits. Zwar hätten erst zukünftig eintretende Schäden unberücksichtigt zu bleiben. Schon aus der Definition der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergebe sich jedoch, dass für deren Bemessung auch jene Arbeitsmöglichkeiten zu berücksichtigen seien, die deshalb ausscheiden, weil sie von der Versicherten angesichts des zu erwartenden neuerlichen Ausbruchs der latent vorhandenen Krankheit nicht mehr ausgeübt werden könnten. Unter Berücksichtigung der potentiellen Erkrankung der Klägerin bestehe nach den unbekämpft gebliebenen Feststellungen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 %. Die medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit bilde im Allgemeinen die Grundlage für deren rechtliche Einschätzung. Besondere Umstände, die ein Abweichen davon im konkreten Fall gebieten würden, lägen nicht vor. Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Mit ihrer gegen dieses Urteil, soweit es der Klägerin eine Betriebsrente ab 1. 1. 2016 dem Grund nach sowie eine vorläufige Leistung zuerkannte, erhobenen außerordentlichen Revision zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

1.1 Die Beklagte macht geltend, dass die vom Berufungsgericht herangezogene Entscheidung 10 ObS 102/02a, SSV‑NF 16/35, nicht auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar sei, weil in dieser eine Berufskrankheit Nr 30 der Anlage 1 zum ASVG zu behandeln gewesen sei, die – anders als die Berufskrankheit Nr 43 – nur vorliege, wenn sie zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten zwinge. Zur Frage, ob eine potentielle Krankheitssituation bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung zu berücksichtigen sei – dies insbesondere in Bezug auf die Berufskrankheit Nr 43 – fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

1.2 Der Oberste Gerichtshof hat jedoch bereits in der Entscheidung 10 ObS 107/88, SSV‑NF 2/104, zur Berufskrankheit Nr 19 der Anlage 1 zum ASVG ausgesprochen, dass der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit eines Menschen im Sinn des § 203 ASVG grundsätzlich abstrakt zu prüfen sei (RIS‑Justiz RS0088972). Dies gilt auch im hier maßgeblichen Anwendungsbereich der bäuerlichen Unfallversicherung (§ 149e BSVG, 10 ObS 63/05w, SSV‑NF 19/62). Die frühere Beschäftigungsart ist nur zur Vermeidung unbilliger Härten im Einzelfall zu berücksichtigen. Eine Anknüpfung an die vom Versicherten zuvor ausgeübte Tätigkeit hat für die Berufskrankheit Nr 19 nur insoweit zu erfolgen, als die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit überhaupt die Voraussetzung für die Anerkennung der Hautkrankheit als Berufskrankheit ist und dann, wenn ein akuter Leidenszustand nicht besteht, die Auswirkungen einer Wiederaufnahme der früheren Tätigkeit auf das (wenn auch derzeit nur latent vorhandene) Leiden zu prüfen sind. Der Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung gilt grundsätzlich für alle Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Liegt (im Anwendungsbereich des § 203 ASVG) drei Monate nach Eintritt des Versicherungsfalls nur mehr eine latente Allergiebereitschaft vor, kommt es bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit darauf an, von welchen Berufen die Versicherte durch die latent verbliebene Krankheit ausgeschlossen ist. Dies können neben dem aufgegebenen Beruf auch andere Berufe sein (10 ObS 1/96, SSV‑NF 10/4, mH auf 10 ObS 107/88, SSV‑NF 2/104 und 10 ObS 352/90, SSV‑NF 4/142; RIS‑Justiz RS0088877; RS0084330 [T1]), weil die unmittelbare Gefahr eines Krankheitsausbruchs bei Wiederaufnahme gesundheitsbedrohlicher Tätigkeiten gleichfalls die Verbotszone umgrenzt ( Binder , Versehrtenrente bei latenter Berufskrankheit [asthma bronchiale], DRdA 2003/9, 139 [142]).

2.1 Die Revisionswerberin begehrt unter Bezugnahme auf die Entscheidungen 10 ObS 26/04b, SSV‑NF 19/26 und 10 ObS 122/00i, SSV‑NF 14/57 (in beiden Fällen ging es um eine Hepatitis‑C‑Infektionserkrankung), die Anwendung eines „dreistufigen Verfahrens“ zur Bestimmung der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die getroffenen Feststellungen seien ungenügend, es fehlten insbesondere Feststellungen über den Umfang der der Klägerin durch die Berufskrankheit verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.

2.2 Das von der Revisionswerberin geforderte „dreistufige Verfahren“ zur Bestimmung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist jedoch nur ausnahmsweise zur Anwendung zu bringen, wenn die Auswirkungen einer Berufskrankheit auf die Einsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht offenkundig sind (10 ObS 122/00i; SSV‑NF 14/57). Die Rechtsprechung misst der medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit im Regelfall eine besondere Bedeutung zu, weil diese auch auf die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Bedacht nimmt. Die aktuellen Richtlinien der Tabellen, die bei der ärztlichen Begutachtung herangezogen werden (und auf die auch der im Verfahren bestellte pulmologische Sachverständige im konkreten Fall im Rahmen der ausführlichen Erörterung der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit verwiesen hat [ON 11, AS 103]), berücksichtigen die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (RIS‑Justiz RS0088964). Die Revisionswerberin weist selbst darauf hin, dass die Beantwortung der Frage, in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit gemindert ist, eine tatsächliche Feststellung ist (10 ObS 122/00i, SSV‑NF 14/57; RIS‑Justiz RS0113678; RS0086443). Das Erstgericht hat, beruhend auf der ausführlichen Erörterung mit dem pulmologischen Sachverständigen, Feststellungen über die rein medizinisch funktionelle Minderung der Erwerbsfähigkeit wie auch über die unter Berücksichtigung der potentiellen Erkrankung und des dadurch bestehenden spezifischen Gefährdungspotentials bestehende Minderung der Erwerbsfähigkeit getroffen, die von der Beklagten (die keine Berufungsbeantwortung erstattet hat) nicht angefochten wurden. Vor diesem Hintergrund zeigt die Revisionswerberin keine Unvertretbarkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts im konkreten Einzelfall auf, das die unter Berücksichtigung der latent bei der Klägerin bestehenden Erkrankung festgestellte medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % auch der rechtlichen Beurteilung zugrunde legte.

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