European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00192.21I.0524.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil zu lauten hat:
„1. Es wird festgestellt, dass die klagende Partei nicht zum Rückersatz des in der Zeit von 18. November 2019 bis 13. Jänner 2020 bezogenen Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von 1.931,16 EUR an die beklagte Partei verpflichtet ist.
Das weitere Begehren, festzustellen, dass die klagende Parteiauch nicht zum Rückersatz des für die Zeit von 14. Jänner 2020 bis 17. Jänner 2020 bezogenen Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von 135,52 EUR an die beklagte Partei verpflichtet ist, wird abgewiesen.
2. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 4 Wochen 135,52 EUR an im Zeitraum von 14. Jänner 2020 bis 17. Jänner 2020 zuviel ausgezahltem Kinderbetreuungsgeld zurückzuzahlen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,80 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger und seine Lebensgefährtin sind die Eltern des am 18. November 2018 geborenen Sohnes B*. Zunächst bezog die Lebensgefährtin des Klägers pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto für B* und im Anschluss daran – aufgrund des Antrags vom 30. August 2019 – der Kläger von 18. November 2019 bis 17. Jänner 2020. Am 14. Jänner 2020 brachte die Lebensgefährtin des Klägers den gemeinsamen Sohn F* zur Welt. Errechneter Geburtstermin für F* wäre der 3. Februar 2020 gewesen.
[2] Bei Antragstellung (am 30. August 2019) konnte der Kläger davon ausgehen, Kinderbetreuungsgeld für seinen Sohn B* in der vollen geplanten Dauer von 61 Tagen beziehen zu können.
[3] Mit Bescheid vom 27. Juli 2020 widerrief die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum von 18. November 2019 bis 17. Jänner 2020 und verpflichtete den Kläger zum Ersatz von 2.066,68 EUR (61 Tage á 33,88 EUR) an unberechtigt empfangenem Kinderbetreuungsgeld.
[4] Mit seiner Klage begehrt der in erster und zweiter Instanz unvertretene Kläger (erkennbar) die Feststellung, dass er nicht verpflichtet sei, das bezogene Kinderbetreuungsgeld zurückzuzahlen. Er brachte vor, dass der Geburtstermin für F* für die zweite Februarwoche 2020 errechnet worden sei; dass sein Sohn früher zur Welt komme, habe er weder beeinflussen noch bei der Antragstellung am 30. August 2019 vorhersehen können.
[5] Die Beklagtehielt dem entgegen, dass aufgrund der Geburt von F* die in § 3 Abs 5 KBGG vorgesehene Mindestbezugsdauer von 61 Tagen für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld für B* nicht eingehalten worden sei. Zudem ende der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nach § 3 Abs 6 KBGG jedenfalls mit Ablauf des der Geburt von F* vorangehenden Tages.
[6] Das Erstgerichtgab dem Klagebegehren statt. Nach der Judikatur zu § 5 Abs 4 KBGG idF BGBl I 2009/116 (künftig: KBGG aF) schade das Unterschreiten der Mindestbezugsdauer von zwei Monaten nach einem Bezugswechsel nicht, wenn sie auf die früher als erwartet erfolgte Geburt eines weiteren Kindes zurückgehe. Diese Rechtsprechung sei auch auf den nunmehr anzuwendenden § 3 Abs 5 KBGG zu übertragen.
[7] Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, dass es das Klagebegehren abwies und den Kläger zum Rückersatz des von ihm bezogenen Kinderbetreuungsgeldes (2.066,68 EUR) verpflichtete. Nach ausführlicher Darstellungder bisherigenRechtsprechung und der Lehre kam es zum Ergebnis, dass die zu § 5 Abs 4 KBGG aF ergangene Rechtsprechung nicht auf den nun einschlägigen § 3 Abs 5 KBGG übertragen werden könne. Da der Kläger die Voraussetzung der Mindestbezugsdauer von 61 Tagen nicht erfüllt habe und unstrittig ein Rückforderungstatbestand nach § 31 KBGG vorliege, sei das Klagebegehren abzuweisen und auszusprechen, dass der Kläger die zu Unrecht bezogenen Beträge zurückzuzahlen habe.
[8] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil der Oberste Gerichtshof noch nicht zu § 3 Abs 5 KBGG und der damit zusammenhängenden Frage Stellung genommen habe, ob diese Bestimmung so wie § 5 Abs 4 KBGG aF teleologisch zu reduzieren sei.
[9] In seiner Revision beantragt der Kläger, das Urteil des Berufungsgerichts dahin abzuändern, dass seiner Klage stattgegeben wird. Hilfsweise stellt er Aufhebungsanträge.
[10] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist großteils auch berechtigt.
[12] In seiner Revision wiederholt der Kläger seinen Standpunkt, dass es dem Zweck des KBGG widerspreche, das Kinderbetreuungsgeld aufgrund der verfrühten Geburt eines weiteren Kindes zur Gänze zurückzufordern. Da bei einem außerhalb der Sphäre des Antragstellers liegenden Grund für das Unterschreiten der Mindestbezugsdauer kein Missbrauch vorliege, wäre es sozial- und gleichheitswidrig, in diesem Fall keine Ausnahme anzunehmen. Die maßgeblichen Erwägungen der Rechtsprechung zu § 5 Abs 4 KBGG aF seien daher auch auf § 3 Abs 5 KBGG anzuwenden. Diese Bestimmung sei teleologisch zu reduzieren.
[13] Mit dieser Ansicht ist der Kläger (großteils) im Recht.
1. Historische Entwicklung
1.1. In der Stammfassung des KBGG (BGBl I 2001/103) sah dessen § 5 (Abs 3 und 4) vor:
„§ 5. (3) Der Bezug von Kinderbetreuungsgeld kann abwechselnd durch beide Elternteile erfolgen, wobei ein zweimaliger Wechsel pro Kind zulässig ist.
(4) Das Kinderbetreuungsgeld kann jeweils nur in Blöcken von mindestens drei Monaten beansprucht werden, es sei denn, dass der beziehende Elternteil durch ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis für eine nicht bloß verhältnismäßig kurze Zeit verhindert ist, das Kind zu betreuen. In diesem Fall kann ein Wechsel über das in Abs. 3 angeführte Ausmaß erfolgen.“
[14] Nach den Gesetzesmaterialien sollte unabhängig vom Vorliegen eines unabwendbaren oder unvorhergesehenen Ereignisses aber „ebenfalls […] von der Mindestbezugsdauer von drei Monaten abgesehen werden [können], wenn dies unmöglich ist, wenn zB eine Adoption im Laufe des 34. Monats erfolgt und nur eine unter drei Monaten liegende Gesamtrestzeit besteht“ (ErläutRV 620 BlgNR 21. GP 60).
[15] 1.2. Mit der Novelle BGBl I 2009/116 wurde § 5 Abs 4 KBGG (bloß) insofern geändert, als die Mindestbezugsdauer von drei auf zwei Monate verkürzt wurde. Motiv für die Herabsetzung war, Eltern eine flexiblere Handhabung zu ermöglichen und ihnen den abwechselnden Bezug von Kinderbetreuungsgeld zu erleichtern, womit auch positive Auswirkungen (vor allem) auf die Väterbeteiligung erwartet wurden (ErläutRV 340 BlgNR 24. GP 4 und 10). Zudem wurde in § 5 Abs 2 KBGG der Satz: „Als beansprucht gelten ausschließlich Zeiträume des tatsächlichen Bezuges der Leistung.“ angefügt. Damit sollte klargestellt werden, dass eine Verlängerung des Bezugs nur dann erfolgt, wenn die Eltern Kinderbetreuungsgeld abwechselnd tatsächlich beziehen, also eine Verlängerung um Zeiträume ohne tatsächlichen Bezug (Verzicht oder Ruhen) ausscheidet (ErläutRV 340 BlgNR 24. GP 9).
[16] 1.3. Zuletzt wurden mit der Novelle BGBl I 2016/53 für Geburten nach dem 28. Februar 2017 (§ 50 Abs 14 KBGG) die vormals bestehenden Pauschalvarianten in ein Kinderbetreuungsgeld-Konto umgewandelt. § 3 KBGG lautet seither auszugsweise:
„ § 3. (2) Der Bezug von Kinderbetreuungsgeld nach Abs. 1 kann abwechselnd durch beide Elternteile erfolgen [...]. Jedem Elternteil ist hierbei eine Anspruchsdauer von 91 Tagen unübertragbar vorbehalten. Pro Kind ist nur ein zweimaliger Wechsel zwischen den Elternteilen zulässig.
(3) Ist der beziehende Elternteil durch ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis für eine nicht bloß verhältnismäßig kurze Zeit verhindert, das Kind im gemeinsamen Haushalt (§ 2 Abs. 6) zu betreuen, kann ein Wechsel über das in Abs. 2 angeführte Ausmaß erfolgen.
[...]
(5) Das Kinderbetreuungsgeld kann stets, also unabhängig von einem Wechsel, jeweils nur in Blöcken von mindestens 61 Tagen beansprucht werden. Als beansprucht gelten ausschließlich Zeiträume des tatsächlichen Bezuges der Leistung.“
[17] Die Gesetzesmaterialien führen dazu (nur) aus, die Mindestbezugsdauer betrage „jeweils (ununterbrochen) 61 Tage pro Bezugsblock, wie bisher unabhängig davon, ob ein Elternteil [...] alleine bezieht oder ein abwechselnder Bezug erfolgt bzw in Zukunft erfolgen wird, womit auch weiterhin gewährleistet ist, dass zumindest ein Zuverdienstmonat (Anspruchsmonat) in jedem einzelnen Bezugsblock jedes Elternteiles enthalten ist und kein Elternteil die Zuverdienstregelungen umgehen kann“. Zudem wird darauf hingewiesen, dass (auch) durch den neu geschaffenen § 5d KBGG (gleichzeitiger Bezug) „keine Ausnahme von der Mindestbezugsdauer [besteht], diese darf von keinem Elternteil unterschritten werden“ (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 5 bzw 10 [zu § 24b]).
2. Rechtsprechung zu § 5 Abs 4 KBGG aF
[18] 2.1. Zunächst leitete der Oberste Gerichtshof aus dem Wortlaut des § 5 Abs 4 KBGG aF ab, dass das darin normierte Erfordernis einer Mindestbezugsdauer nur den Bezugswechsel zwischen den Eltern regle. Die Annahme, aus § 5 Abs 4 KBGG aF gehe eine generelle Mindestbezugsdauer für alle Eltern hervor, lehnte der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung ab (RIS‑Justiz RS0128640 [insb T3, T4]; 10 ObS 73/17h ua). Zum Zweck der Mindestdauer führte er aus, dass damit eine unangemessen kurze Bezugsdauer eines Elternteils verhindert werden soll, weil der Aufwand einer neuerlichen Prüfung nur dann gerechtfertigt ist, wenn diese Person die Leistung zumindest zwei Monate lang beansprucht (10 ObS 73/17h; 10 ObS 3/13h SSV‑NF 27/12; 10 ObS 106/13f SSV‑NF 27/63; RS0128640 [T2]).
[19] 2.2. Zur Konstellation, die auch dem Anlassfall zugrunde liegt, verwies der Oberste Gerichtshof darauf, dass § 5 Abs 4 KBGG aF eine Verkürzung der Mindestbezugsdauer zwar nur im Fall einer (durch ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis verursachten) Verhinderung vorsehe. Wie sich aus den Materialien zur Stammfassung des § 5 Abs 4 KBGG aF ergebe, sei der Gesetzgeber aber offensichtlich davon ausgegangen, dass ein kürzerer Bezug auch dann möglich sei, wenn nach einem Wechsel der Anspruch ohne Einflussmöglichkeit der beziehenden Person vorzeitig endet. Es würde auch dem Ziel, einen Anreiz für eine abwechselnde Betreuung des Kindes durch die Eltern zu geben, zuwiderlaufen, wenn von der Mindestbezugsdauer (unter anderem) auch der Fall nicht ausgenommen wäre, dass diese wegen der Geburt eines weiteren Kindes nicht eingehalten werden konnte. Da der Gesetzgeber eine Ausnahme (auch) für derartige Fälle für notwendig angesehen, jedoch eine ausdrückliche Normierung unterlassen habe, liege eine Lücke vor, die durch teleologische Reduktion des § 5 Abs 4 KBGG aF zu schließen sei. Wenn ein Antragsteller daher begründet davon ausgehen könne, dass er das Kinderbetreuungsgeld für die Mindestdauer beziehen werde können, greife die formulierte Ausnahme von der Mindestbezugsdauer auch dann, wenn entgegen den Erwartungen vor deren Ablauf ein weiteres Kind geboren wird (10 ObS 177/13x; 10 ObS 85/13t SSV-NF 27/84).
3. Judikatur und Lehre zu § 3 Abs 5 KBGG
[20] 3.1. Eine inhaltliche Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs zur Unterschreitung der Mindestbezugsdauer des § 3 Abs 5 KBGG liegt noch nicht vor.
[21] 3.2. Die Auffassungen in der Lehre dazu sind geteilt.
[22] Nach Burger-Ehrnhofer (Die versteckten Probleme der Neuregelung des Kinderbetreuungsgeldes, ASoK 2016, 412 [414]; KBGG und FamZeitbG3 § 3 KBGG Rz 38) und Weißenböck (in Holzmann‑Windhofer/Weißenböck, KBGG § 3 Anm 5 [60]) hat der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 3 Abs 5 KBGG der bisherigen Judikatur (zu § 5 Abs 4 KBGG aF) den Boden entzogen, weil keine Möglichkeit (mehr) vorgesehen sei, die Mindestdauer wegen eines unvorhersehbaren und unabwendbaren Ereignisses zu unterschreiten. Burger-Ehrnhofer verweist dazu auch darauf, dass dem Gesetzgeber in dieser Hinsicht kein Versehen unterlaufen sei. Im Begutachtungsverfahren sei er nämlich auf die Möglichkeit hingewiesen worden, dass bei Inanspruchnahme einer (zulässigen) Karenz von zwei Monaten (§ 15 Abs 2 MSchG und § 2 Abs 4 VKG) die Mindestbezugsdauer des § 3 Abs 5 KBGG unter Umständen nicht eingehalten werden könne, was aber trotzdem nicht zu einer Ausnahme geführt habe (ASoK 2016, 412 [414 FN 18]).
[23] Sonntag (in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG3 § 3Rz 12) hält die bisherige Rechtsprechung zu § 5 Abs 4 KBGG aF hingegen weiterhin für anwendbar, weil sie sich nicht auf das (in § 3 Abs 5 KBGG nicht mehr enthaltene) unvorhersehbare und unabwendbare Ereignis gestützt habe.
[24] 4. Der Ansicht von Sonntag ist beizutreten.
[25] 4.1. Zunächst betrifft der erste Satz des § 3 Abs 5 KBGG, wonach Kinderbetreuungsgeld „stets“ nur in Blöcken von mindestens 61 Tagen beansprucht werden kann, nicht die hier zu beurteilende Frage. Erklärtermaßen soll damit bloß klargestellt werden, dass – entgegen der dargestellten Judikatur zu § 5 Abs 4 KBGG aF – die Mindestbezugsdauer auch ohne Bezugswechsel einzuhalten ist.
[26] 4.2. Richtig ist demgegenüber der (auch) von der Beklagten vorgetragene Einwand, dass der Wortlaut des § 3 Abs 5 KBGG im Gegensatz zu den Vorgängerbestimmungen keine Möglichkeit der Verkürzung der Mindestdauer infolge eines unvorhersehbaren und unabwendbaren Ereignisses (mehr) vorsieht. Das darauf aufbauende Argument, die vom Obersten Gerichtshof zu § 5 Abs 4 KBGG aF vertretene Auffassung sei deshalb nicht mehr einschlägig, sodass ein Unterschreiten der Mindestdauer generell ausscheide, ist aber nicht stichhältig. Denn die zu § 5 Abs 4 KBGG aF ergangene Rechtsprechung stützte sich im Kern nicht auf ein (schon in § 5 Abs 4a KBGG aF [BGBl I 2009/116] legal definiertes, bei einer verfrühten Geburt aber nicht vorliegendes) unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis, sondern den Gesetzeszweck, Anreize für eine abwechselnde Betreuung des Kindes durch beide Eltern zu geben. Der Entfall des unabwendbaren und unvorhergesehenen Ereignisses als Grund für ein zulässiges Unterschreiten der Mindestbezugsdauer ist daher kein entscheidendes Kriterium dafür, an die Auslegung des § 3 Abs 5 KBGG andere Maßstäbe anzulegen als an die Auslegung des § 5 Abs 4 KBGG aF.
[27] 4.3. Auch wenn nach dem Wortlaut des § 3 KBGG keine Ausnahme von der Mindestbezugsdauer vorgesehen ist und diese nach dem Willen des Gesetzgebers in keinem Fall unterschritten werden soll, steht das der Übertragung der zu § 5 Abs 4 KBGG aF angestellten Grundsätze auf § 3 Abs 5 KBGG nicht entgegen, weil im Rahmen der Auslegung der Zweck und der Wertmaßstab einer Regelung aus Sicht des Gesetzgebers selbständig weiter und zu Ende zu denken ist (vgl RS0008836 [T4]). Das Ziel der teleologischen Reduktion liegt auch gerade darin, unverständliche, nicht sachgerechte oder ungerechte Ergebnisse zu vermeiden, die sich bei einer undifferenzierten Gesetzesanwendung ergeben (10 ObS 61/18w SSV‑NF 32/46 ua). Die dafür notwendige Voraussetzung, dass eine nach dem klaren Gesetzeszweck erforderliche Ausnahme fehlt (RS0008979), ist hier gegeben:
[28] 4.3.1. Der Oberste Gerichtshof hat schon klargestellt, dass die Novelle BGBl I 2016/53 nichts am Zweck der Mindestbezugsdauergeändert hat: Wie bisher soll dadurch (vor allem) Vätern der Zugang zum Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld erleichtert und damit ihre Beteiligung an der Kinderbetreuung gefördert werden. Den Eltern soll eine flexible Handhabung ermöglicht und der abwechselnde Bezug erleichtert werden (10 ObS 119/19a SSV‑NF 34/18 [ErwG 5.2.]). Die Beklagte stellt das auch nicht in Abrede.
[29] 4.3.2. Diesem Gesetzeszweck liefe es (weiterhin) zuwider, wenn der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bloß daran scheitert, dass die Mindestbezugsdauer wegen der verfrühten Geburt eines weiteren Kindes nicht eingehalten werden konnte. Das dagegen ins Treffen geführte Argument der Beklagten, nur wenige Kinder kämen tatsächlich am errechneten Geburtstermin zur Welt, sodass dieser kein „verlässliches Faktum“ sei, auf dem die Bezugsplanung aufgebaut werden könne, überzeugt nicht. Es mag sein, dass die Geburt eines (weiteren) Kindes nicht per se unvorhersehbar ist und die erneute Elternschaft bei der Bezugsplanung berücksichtigt werden kann. Das ändert aber nichts daran, dass diese Ansicht Eltern, die während des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld ein weiteres Kind bekommen, der vom Gesetz intendierte leichte Bezugswechsel erheblich erschwert wird: Wollen sie (finanzielle) Rechtssicherheit, müssten sie auf einen Bezugswechsel entweder ganz verzichten oder den kürzeren Bezugsteil auf eine vermeintlich „sichere“ Zeit des Anspruchszeitraums legen. Wann diese endet (in welchem Zeitraum die Mindestdauer also „sicher“ eingehalten werden kann) ist indes unklar. Die letztgenannte Variante eines „sicheren Anspruchszeitraums“ wird in der Regel auch einen zweimaligen Bezugswechsel erfordern, weil in den längeren Bezugszeitraum eines Elternteils (rechtstatsächlich meist der Mutter) der kürzere des anderen Elternteils (rechtstatsächlich meist des Vaters) „eingeschoben“ werden müsste, also drei Bezugsblöcke entstehen. Das intendierte Ziel einer flexiblen Gestaltung des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld und des leichten Bezugswechsels wird damit für diese Gruppe von Antragstellern gerade nicht erreicht. Nachvollziehbare Gründe, die es rechtfertigen könnten, Eltern bzw Bezieher von Kinderbetreuungsgeld, die kurz nach der Geburt eines Kindes ein weiteres Kind bekommen (wollen), im Vergleich zu Beziehern, die sich entweder nur für ein Kind oder einen größeren zeitlichen Abstand zum nächsten Kind entscheiden, gravierend in ihren Wahlmöglichkeiten einzuschränken, sind nicht zu sehen und werden von der Beklagten auch nicht aufgezeigt. Sie gibt auch keine Hinweise, auf welches Faktum die Eltern die abwechselnde Bezugsplanung im Fall einer erneuten Schwangerschaft sonst aufbauen sollten als den errechneten Geburtstermin.
[30] Zu einer anderen Sicht gibt auch § 3 Abs 5 letzter Satz KBGG, wonach als beansprucht ausschließlich Zeiträume des tatsächlichen Bezugs der Leistung gelten, keinen Anlass. Denn der Oberste Gerichtshof hat aus dem identen letzten Satz des § 5 Abs 2 KBGG aF (nur) abgeleitet, dass Zeiten des Verzichts oder des Ruhens des Anspruchs für die Einhaltung der Mindestdauer und die Verlängerung des Leistungsbezugs nicht zu berücksichtigen sind (10 ObS 106/13f SSV‑NF 27/63; 10 ObS 85/13t SSV‑NF 27/84; RS0129040). Ein anderer Regelungsinhalt wird § 3 Abs 5 letzter Satz KBGG auch weder von der Lehre unterstellt (Burger‑Ehrnhofer, KBGG und FamZeitbG3 § 3 KBGG Rz 37; Schober in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG3 § 3Rz 11) noch von der Beklagten behauptet.
[31] 4.3.3. Es ist auch sonst kein sachlicher Grund ersichtlich, nicht im Einflussbereich des Antragstellers liegende und weitgehend unkalkulierbare Entwicklungen mit dem gänzlichen Verlust des Anspruchs zu sanktionieren. Der Gefahr einer Umgehung der Zuverdienstgrenze muss bei Eltern, die Kinderbetreuungsgeld ohnehin für die Dauer von 61 Tagen bis zum errechneten Geburtstermin – oder wie hier der Kläger sogar bis rund zwei Wochen vor diesem Termin – beantragen, nicht vorgebeugt werden. In dieser Konstellation spricht auch das legitime Interesse, unnötigen Prüfaufwand hintanzuhalten, nicht gegen eine Ausnahme von der Mindestbezugsdauer, entsteht der Aufwand doch schon durch den auf den Bezug im Ausmaß der Mindestdauer gerichteten Antrag.
[32] 4.3.4. Wie ein Blick auf § 31 Abs 3a KBGG zeigt, ist dem Gesetz eine zulässige Unterschreitung der Mindestbezugsdauer aufgrund eines nachträglich eintretenden, nicht in der Ingerenz des Beziehers liegenden Umstands auch nach der Novelle BGBl I 2016/53 nicht fremd. Im Fall des Todes des Kindes kommt es nämlich nur dann zur Rückforderung, wenn der Tod nicht innerhalb von 31 Tagen gemeldet wurde und daraus ein unrechtmäßiger Bezug der Leistung nach dem KBGG entstanden ist. Stirbt das Kind daher während des Bezugszeitraums, ist daraus abzuleiten, dass das Kinderbetreuungsgeld bis dahin zu Recht bezogen wurde. Das gilt mangels einer dahingehenden Einschränkung auch dann, wenn das Kind vor Ablauf der Mindestbezugsdauer verstirbt.
5. Ergebnis
[33] 5.1. Auch die Regelung des § 3 Abs 5 KBGG in der Fassung BGBl I 2016/53 erweist sich aus den von der Rechtsprechung zu den Vorgängerbestimmungen angestellten Erwägungen als überschießend. § 3 Abs 5 KBGG ist daher teleologisch dahin zu reduzieren, dass die darin normierte Mindestbezugsdauer ohne Verlust der für den verkürzten Zeitraum zuerkannten Leistungen unterschritten werden kann, wenn der Bezieher von Kinderbetreuungsgeld bei der Antragstellung davon ausgehen konnte, Kinderbetreuungsgeld in der gesetzlichen Mindestdauer beziehen zu können, und es in der Folge durch die frühere Geburt eines weiteren Kindes zur Verkürzung dieser Frist kommt (vgl RS0129247).
[34] 5.2. Daraus folgt für den Anlassfall, dass die Unterschreitung der Mindestbezugsdauer des § 3 Abs 5 KBGG nicht anspruchsschädlich ist. Aufgrund der Geburt von F* am 14. Jänner 2020 endete der Anspruch aber jedenfalls mit Ablauf des 13. Jänner 2020 (§ 3 Abs 6 KBGG), wogegen sich der Kläger inhaltlich nicht wendet. Kinderbetreuungsgeld hat er daher nur bis zu diesem Zeitpunkt zu Recht bezogen.
[35] 6. Der Revision ist daher teilweise Folge zu geben. Die Urteile der Vorinstanzen sind dahin abzuändern, dass der von der Beklagten erhobene Anspruch auf Rückersatz nur für den Zeitraum von 18. November 2019 bis 13. Jänner 2020 nicht zu Recht besteht, während das im Zeitraum von 14. Jänner 2020 bis 17. Jänner 2020 unrechtmäßig bezogene Kinderbetreuungsgeld zurückzuzahlen ist. Mit Blick auf die aktenkundigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers (ON 12) ist die Leistungsfrist nach § 89 Abs 4 ASGG iVm § 31 Abs 4 KBGG mit vier Wochen festzusetzen (vgl 10 ObS 133/18h SSV‑NF 33/5 = EvBl 2019/148, 1017 [Klicka]).
[36] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Im Verfahren erster und zweiter Instanz sind dem Kläger keine Kosten entstanden.
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