OGH 10ObS151/22m

OGH10ObS151/22m17.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Heinz Schieh (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Kramreither (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*, vertreten durch Dr. Longin Josef Kempf und Dr. Josef Maier, Rechtsanwälte in Peuerbach, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. Oktober 2022, GZ 11 Rs 66/22 p‑52, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00151.22M.0117.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Revisionsgegenständlich ist die Frage, ob der Kläger, der noch Tätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt, nicht aber solche im Berufsfeld eines Berufskraftfahrers verrichten kann, innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine (Teil‑)Tätigkeit als Berufskraftfahrer berufsschutzerhaltend iSd § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG ausgeübt hat.

[2] Der 1967 geborene Kläger hat die Abschlussprüfung im Lehrberuf Berufskraftfahrer‑Güterbeförderung am 14. 6. 2013 positiv absolviert. Im Beobachtungszeitraum (März 2005 bis Februar 2020) liegen insgesamt 117 Beitragsmonate einer versicherungspflichtigen unselbständigen Erwerbstätigkeit.

[3] Bei seiner letzten Tätigkeit von insgesamt 34 Monaten war der Kläger im regionalen Zustellverkehr eingesetzt, allerdings mit regelmäßigen Fahrten auch nach Bayern. Für diese Tätigkeit war eine Ausbildung zum Berufskraftfahrer nicht unbedingt erforderlich. Es hätten auch ein entsprechender Führerschein und die C95‑Ausbildung im Ausmaß von 35 Stunden (die alle fünf Jahre aufzufrischen ist) ausgereicht. Arbeitnehmer dieses Unternehmens, die keine Ausbildung zum Berufskraftfahrer aufweisen, haben eine Anlernzeit von zwei Wochen bis maximal zwei Monaten.

[4] Als Berufskraftfahrer ist der Kläger nicht mehr einsetzbar. Am allgemeinen Arbeitsmarkt ist der Kläger noch für einfache Hilfstätigkeiten (zB Produktionsarbeiten und Aufsichtstätigkeiten) einsetzbar. Bundesweit existiert eine die Zahl 100 um ein Vielfaches übersteigende Anzahl von Arbeitsplätzen, die nicht kalkülsüberschreitend sind.

[5] Mit Bescheid vom 2. Juni 2020 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 18. Februar 2020 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab, weil Invalidität nicht dauerhaft vorliege, und sie sprach aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten ebenfalls nicht vorliege, weshalb kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe; zudem bestehe kein Anspruch auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

[6] Die Vorinstanzen wiesen das auf Gewährung einer Invaliditätspension, in eventu von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gerichtete Klagebegehren ab. Die Hälfteregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG sei nicht anwendbar. Da der Kläger die zuletzt ausgeübte Tätigkeit mit einer Anlernzeit von höchstens zwei Monaten ausüben habe können, sei sie nicht als berufsschutzerhaltend zu qualifizieren. Ohne die 34 Monate dieser nicht berufsschutzerhaltenden Tätigkeit weise der Kläger, der innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag insgesamt 117 Pflichtversicherungsmonate einer Erwerbstätigkeit erworben habe, nicht die für den Berufsschutz erforderlichen 90 Pflichtversicherungsmonate einer qualifizierten Erwerbstätigkeit auf. Ergänzender Feststellungen zu den (weiteren) Tätigkeiten des Klägers vor und nach seinem Lehrabschluss bedürfe es daher nicht.

Rechtliche Beurteilung

[7] In der außerordentlichen Revision macht der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend.

[8] 1.1. Der Kläger bekämpft die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Hälfteregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG im vorliegenden Fall keine Anwendung finde, nicht, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

[9] 1.2. Er steht vielmehr auf dem Standpunkt, dass seine zuletzt 34 Monate hindurch ausgeübte Tätigkeit entgegen der Ansicht der Vorinstanzen als berufsschutzerhaltend anzusehen sei, weil es sich um eine qualitativ und quantitativ nicht unbedeutende Teiltätigkeit des Berufs eines Berufskraftfahrers gehandelt habe. Zur Prüfung des Berufsschutzes seien daher Feststellungen zu den innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübten weiteren Tätigkeiten des Klägers erforderlich.

[10] 2.1. Der vom Kläger angestrebte Berufsschutz als Berufskraftfahrer setzt nach § 255 Abs 1 ASVG voraus, dass er überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig war. Eine überwiegende Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung liegt vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit in erlernten oder angelernten Berufen oder als Angestellte/r ausgeübt wurde (§ 255 Abs 2 Satz 2 ASVG).

[11] 2.2. Der in einem erlernten oder angelernten Beruf erworbene Berufsschutz bleibt, wenn später überwiegend nur Teiltätigkeiten ausgeübt werden, nur dann erhalten, wenn die spätere Tätigkeit in ihrer Gesamtheit noch als Ausübung des erlernten oder angelernten Berufs anzusehen ist (RIS‑Justiz RS0084497 [T1]). Die Ausübung einer Teiltätigkeit, die sich qualitativ nicht hervorhebt und bloß untergeordnet ist, vermag einen vorher bestehenden Berufsschutz hingegen nicht aufrechtzuerhalten (RS0084497 [T3]).

[12] 2.3. Die Frage, ob bestimmte Tätigkeiten als quantitativ und qualitativ nicht ganz unbedeutend angesehen werden können und damit berufsschutzerhaltend sind, kann nur an Hand der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (RS0084497 [T20, T26]). Dabei ist neben dem festgestellten Inhalt der Tätigkeit auch die Einschulungs‑ oder Einweisungszeit wesentlich, die ein ungelernter Arbeiter benötigt, um solche Tätigkeiten verrichten zu können (10 ObS 51/14v SSV‑NF 28/32; 10 ObS 98/11a SSV‑NF‑25/92 [Pkt 1.]). Wenn eine Anlernzeit von wenigen Monaten genügt, handelt es sich nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs um keinen qualifizierten Beruf, sodass eine solche Tätigkeit nicht als berufsschutzerhaltend zu qualifizieren ist (10 ObS 131/14h SSV‑NF 28/72 [Pkt 5.1.]).

[13] 3. Die Beurteilung der Vorinstanzen, nach denen die zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Klägers als nicht berufsschutzerhaltend zu qualifizieren sei, weil Arbeitnehmer dieses Unternehmens, die keine Ausbildung zum Berufskraftfahrer aufweisen, eine Anlernzeit von zwei Wochen bis maximal zwei Monaten hätten, steht mit dieser Rechtsprechung im Einklang.

[14] 3.1. Soweit der Kläger in der Revision betont, dass er zuletzt noch Teiltätigkeiten des Berufs eines Kraftfahrers ausgeübt habe, wurde dies von den Vorinstanzen gar nicht in Abrede gestellt. Sie gründeten ihre Beurteilung vielmehr auf dem Umstand, dass es sich – weil für die Ausübung dieser Tätigkeit nur eine kurze Anlernzeit erforderlich war – um eine nicht ausreichend qualifizierte Tätigkeit handelte, die nach der Rechtsprechung nicht für den Erhalt eines Berufsschutzes ausreicht.

[15] 3.2. Mit dem Hinweis auf einzelne – nach der Rechtsauffassung des Klägers zum Kernbereich des Lehrberufs eines Berufskraftfahrers zählende – Tätigkeitsinhalte, übergeht der Kläger die konkret festgestellte Ausgestaltung der von ihm ausgeübten Tätigkeit. Seiner Behauptung, dass die Dauer der Anlernzeit nicht das alleinige Kriterium für die Annahme einer berufsschutzerhaltenden Tätigkeit sei, ist zu entgegnen, dass in einer entsprechend kurzen Anlernzeit dennoch zum Ausdruck kommt, dass dabei ein Kernbereich der Ausbildung nicht verwertet werden muss, weil Kenntnisse und Fähigkeiten dieser Ausbildung nicht (in ausreichendem Maße) erforderlich sind oder Teiltätigkeiten des erlernten (angelernten) Berufs dabei entsprechend unbedeutend sind. So war der Kläger zwar (auch) grenzüberschreitend tätig, doch beschränkte sich seine Tätigkeit (auch) in diesem Zusammenhang im Wesentlichen auf Kontrolltätigkeiten, insbesondere waren die Lieferscheine und CMR‑Formulare, auf die sich der Kläger beruft, nach den getroffenen Feststellungen bereits vom Kunden bzw Absender ausgefüllt. Dass die konkret festgestellten Tätigkeiten umgekehrt nicht nur untergeordnet waren und maßgebliche Kenntnisse erforderten, die Gegenstand der Ausbildung als Berufskraftfahrer sind, lässt sich dem festgestellten Sachverhalt nicht entnehmen. Eine aufzugreifende Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen zeigt der Kläger in der Revision damit nicht auf.

[16] 3.3. Soweit der Kläger schließlich auf mehrere Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs verweist, nach denen bestimmte Tätigkeiten, etwa als Kraftfahrer, Buslenker, Fahrer von Dienstpersonalkraftwagen oder Direktionschauffeur (10 ObS 345/99d SSV‑NF 14/18; 10 ObS 365/99w SSV‑NF 14/19; 10 ObS 205/97d), als berufsschutzerhaltend zu qualifizieren seien, wurden diese Entscheidungen nicht auf eine bestimmte Anlerndauer gegründet und lässt sich daraus somit nicht ableiten, warum die hier konkret festgestellte Tätigkeit, die eine kurze Anlerndauer erforderte, zu einer gleichartigen Beurteilung führen soll. Eine Überschreitung des den Vorinstanzen zukommenden Beurteilungsspielraums wird damit nicht dargetan.

[17] 4.1. Da der Kläger nach der somit nicht korrekturbedürftigen Beurteilung der Vorinstanzen innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag jedenfalls in 34 von 117 erworbenen Pflichtversicherungsmonaten einer Erwerbstätigkeit keiner qualifizierten Erwerbstätigkeit nachging, übte er im Beobachtungszeitraum folgerichtig nicht in 90 Pflichtversicherungsmonaten eine qualifizierte Erwerbstätigkeit iSd § 255 Abs 2 ASVG aus, sodass er sich auf das Vorliegen eines Berufsschutzes selbst dann nicht berufen könnte, wenn er – wie er in der Revision behauptet – schon vor Absolvierung der Lehrabschlussprüfung die Anlernqualifikation erfüllt hätte und im Beobachtungszeitraum in den restlichen (lediglich 83) erworbenen Pflichtversicherungsmonaten qualifiziert iSd § 255 Abs 2 ASVG tätig gewesen wäre. Die in der Revision zu diesen Tatsachenkomplexen geltend gemachten sekundären Feststellungsmängel liegen somit mangels Relevanz für die Entscheidung nicht vor (RS0053317).

[18] 4.2. Da diese (vermeintlichen) sekundären Feststellungsmängel qualitativ der Rechtsrüge zuzuordnen sind (RS0043304 [T6]), ist das Verfahren nicht deswegen mangelhaft geblieben, weil diese vom Kläger vermissten Feststellungen nicht getroffen wurden. Die Beweisrüge des Klägers in der Berufung betraf keine entscheidungserheblichen Feststellungen, sodass das Berufungsgericht auch nicht gehalten war, diese zu behandeln (RS0043190). Die geltend gemachten Verfahrensmängel liegen daher ebenso wenig vor.

[19] 5. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision somit zurückzuweisen.

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