European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E124334
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Außerstreitsache wird zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Nach der Scheidung der Ehe der Eltern kam die Obsorge über die Kinder Te* und To* – sowie einem dritten älteren, vom Verfahren nicht betroffenen Kind – beiden Elternteilen gemeinsam zu. Der Hauptbetreuungsort war zunächst bei der Mutter. Später zogen die Kinder zum Vater.
Seit 7. 11. 2017 kommt aufgrund einer Vereinbarung der Eltern die Obsorge für die beiden Brüder zur Gänze dem Vater zu. Grundlage dieser Vereinbarung (ON 171) war das Gutachten eines vom Gericht bestellten Sachverständigen, in dem dieser ausführte, dass die Übertragung der alleinigen Obsorge auf den Vater dem Wohl der Kinder besser entspreche als die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge (ON 166). Wesentlich für die Einschätzung des Sachverständigen war die seines Erachtens gegebene Beratungs‑ und Therapieresistenz der Mutter in Bezug auf fortlaufende Anschuldigungen gegen den Vater, der zugrunde liege, dass die Mutter bisher nicht in der Lage gewesen sei, die Trennung vom Vater zu verarbeiten.
Die Mutter arbeitet nunmehr als Kindergartenhelferin, wodurch sie an den Wochenenden nicht arbeiten muss und einen höheren Verdienst hat als aus ihrer früheren Tätigkeit als Küchenhilfe. Bis heute ist sie jedoch nicht in der Lage, den Trennungskonflikt mit dem Vater auf „Paarebene“ von der Ebene der elterlichen Verantwortung hinsichtlich der gemeinsamen Kinder emotional zu trennen.
Am 30. 3. 2018 beantragte die Mutter, die Obsorge für die beiden Kinder Te* und To* dem Vater zu entziehen und auf sie alleine zu übertragen (ON 195). Sie brachte dazu vor, dass sie mit der Übertragung der Obsorge auf den Vater einverstanden gewesen sei, weil sie gedacht habe, dass dessen Versuche, die Kinder ihr gegenüber zu manipulieren, aufhören würden. Dies sei nicht der Fall gewesen, tatsächlich sei es schlimmer geworden. So habe der Vater sie einmal in Gegenwart von Te* gegenüber Dritten als Psychopathin bezeichnet, worüber das Kind sehr traurig gewesen sei. Der Vater sei kein guter Vater, er sei seinen Kindern kein Vorbild. Als sie das Kind To* aufgefordert habe, das Zimmer aufzuräumen, habe ihr dieses geantwortet, dass es das nicht machen werde. Vielmehr würde es so wie der Vater die Mutter schlagen, wenn sie noch einmal von ihm verlange, das Zimmer aufzuräumen.
Der Vater sprach sich gegen den Antrag der Mutter aus, alles sei in Ordnung wie es derzeit laufe (ON 198).
Das Erstgericht wies – ohne die Kinder dazu gehört zu haben – den Antrag der Mutter ab (ON 201). Wesentlich für die Einschätzung des Sachverständigen für die Übertragung der Obsorge auf den Vater allein sei gewesen, dass die Mutter im Hinblick auf fortlaufende Anschuldigungen gegen den Vater beratungs‑ und therapieresistent gewesen sei. Diese Situation habe sich nicht maßgeblich geändert, sodass die Voraussetzungen des § 180 Abs 3 ABGB nicht vorlägen.
Das Rekursgericht gab dem von der Mutter gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs nicht Folge. Es teilte die Einschätzung des Erstgerichts, dass eine maßgebliche Änderung der Verhältnisse, wie sie § 180 Abs 3 ABGB fordere, nicht vorliege. Eine Verbesserung der Erziehungsfähigkeit der Mutter sei, zumindest in nächster Zukunft, nicht zu erwarten. Der Gerichtssachverständige habe mit beiden Kindern gesprochen. Deren neuerliche Befragung durch das Erstgericht sei nicht erforderlich gewesen, weil die Voraussetzungen des § 180 Abs 3 ABGB von vornherein nicht vorgelegen hätten und die Unterlassung der Befragung der Kinder daher keine Auswirkungen auf die Entscheidung gehabt habe. Den Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Rekursgericht nicht zu.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, mit dem sie die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen beantragt.
Der Vater und das mittlerweile selbständig verfahrensfähige 14‑jährige Kind Te* (§ 104 AußStrG) machten von der ihnen vom Obersten Gerichtshof frei gestellten Möglichkeit der Erstattung einer Beantwortung des Revisionsrekurses keinen Gebrauch.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Rekursgerichts zulässig und auch berechtigt.
Auch im Revisionsrekurs rügt die Mutter die Unterlassung der Befragung der Kinder gemäß § 105 Abs 1 Satz 1 AußStrG durch das Erstgericht als erheblichen Verfahrensmangel. Dem kommt Berechtigung zu:
1. Zwar ist ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz kein Grund für einen Revisionsrekurs. Aus Gründen des Kindeswohls ist aber nach ständiger Rechtsprechung eine Durchbrechung dieses Grundsatzes erforderlich (RIS‑Justiz RS0050037 [T4]; RS0030748 [T2]).
2. Gemäß § 105 Abs 1 AußStrG hat das Gericht Minderjährige im Verfahren über Pflege und Erziehung oder das Recht auf persönlichen Verkehr grundsätzlich persönlich zu hören. § 105 AußStrG sieht diese Befragung vor, um dem Kind eine unbeeinflusste Meinungsäußerung zu ermöglichen. Nur aus den in § 105 Abs 2 AußStrG genannten zwei Gründen – soweit durch die Befragung oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist – kann die Befragung überhaupt unterbleiben (2 Ob 19/11z ua; RIS‑Justiz RS0127159 [T2], zuletzt 4 Ob 131/17v; Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 105 Rz 5 mwH). Hinweise darauf, dass einer der Gründe des § 105 Abs 2 AußStrG gegeben ist, liegen nicht vor. Schon daher kommt dem Argument des Rekursgerichts, die Unterlassung der Befragung der Kinder hätte keine Auswirkungen auf das Verfahrensergebnis gehabt, weil eine maßgebliche Veränderung der Verhältnisse im Sinn des § 180 Abs 3 ABGB nicht vorliege, keine Berechtigung zu.
3. Im vorliegenden Fall erfolgte eine Befragung der Kinder – auch zur Wohnsituation – lediglich am 11. 7. 2016 durch den gerichtlichen Sachverständigen im Zug der Erstellung dessen (zweiten) Gutachtens (ON 89, S 20, 21), daher fast zwei Jahre vor dem Zeitpunkt der Beschlussfassung des Erstgerichts.
4. Gemäß § 105 Abs 1 Satz 2 AußStrG kann der Minderjährige auch durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger, die Familiengerichtshilfe, durch Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe oder in anderer geeigneter Weise, etwa durch Sachverständige, gehört werden, wenn er das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wenn dies seine Entwicklung oder sein Gesundheitszustand erfordert oder wenn sonst eine Äußerung der ernsthaften und unbeeinflussten Meinung des Minderjährigen nicht zu erwarten ist. Abgesehen davon, dass beide Kinder bereits am 11. 7. 2016 das 10. Lebensjahr vollendet hatten, gab und gibt es nach der Aktenlage keinerlei Hinweise darauf, dass eine der in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen vorliegt. Der Sachverständige selbst weist, wie die Mutter in ihrem Rechtsmittel zutreffend anführt, in seinem Ergänzungsgutachten vom 27. 9. 2016, ON 166, darauf hin, dass die beiden Kinder „nunmehr auch einen nicht zu übergehenden Willen“ besitzen (S 33 = AS 197).
5. Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt. Sie können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RIS‑Justiz RS0106312). Zwar ist der Wunsch des Minderjährigen für die ausschließlich am Kindeswohl zu orientierende Entscheidung nicht allein maßgeblich. Erst nach der vom Erstgericht durchzuführenden Befragung der Kinder und Erforschung deren aktuellen Willens kann auch deren Sicht als Verfahrensergebnis in eine alle maßgeblichen Umstände berücksichtigende Entscheidung einbezogen werden (2 Ob 19/11z; 9 Ob 60/16z mwN).
6. Das Unterbleiben der persönlichen Einvernahme der mittlerweile 13 und 15 Jahre alten Kinder bildet daher einen wesentlichen Verfahrensmangel, der im Hinblick auf die von § 105 AußStrG angestrebte Wahrung des Kindeswohls ungeachtet der Verneinung des im Rekurs gerügten Verfahrensmangels durch das Rekursgericht aufgegriffen werden muss.
Aus den dargelegten Gründen sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben.
Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren auch darauf Bedacht zu nehmen haben, dass Te* mittlerweile selbständig verfahrensfähig ist.
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