European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0040OB00131.17V.0824.000
Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Begründung:
Der Mutter kommt kraft Gesetzes die alleinige Obsorge für ihren 14‑jährigen außerehelichen Sohn zu. Seinen Vater, der in Belgien lebt, hat der Minderjährige erst ein‑ oder zweimal gesehen.
Nach der Räumung des Wochenendhauses, in dem die Mutter und ihr Sohn wohnten, wurden beide zunächst in einem Übergangswohnheim und danach bei einer Großtante aufgenommen. Von Jänner bis Ende April 2016 wohnte der Minderjährige alleine bei seiner Großtante, er hatte in diesem Zeitraum keinen Kontakt zur Mutter. Von Ende April 2016 bis Februar 2017 wohnten Mutter und Sohn wieder gemeinsam in einer Wohnung, die am 23. Februar 2017 gerichtlich geräumt wurde. Seither befindet sich der Minderjährige auf einem Krisenpflegeplatz bei einer Pflegemutter.
Bereits am 8. September 2016 hatte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger im Sinn des § 181 ABGB beantragt, die Obsorge der Mutter im Bereich Pflege und Erziehung und die gesetzliche Vertretung in diesem Bereich zu entziehen und ihm zu übertragen. Der Minderjährige sei durch die fehlende Verlässlichkeit in der Pflege sowie den Mangel an sorgfältiger Erziehung und Förderung seiner Anlagen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten in der Obhut der Mutter gefährdet. Die Mutter sprach sich gegen die Obsorgeentziehung aus und wendete ein, sie habe ihren Sohn seit 14 Jahren alleine erzogen und betreut, er habe noch nie leiden müssen.
Das Erstgericht entzog der – ohne den Sohn dazu gehört zu haben – Mutter die Obsorge für ihren Sohn im Bereich Pflege und Erziehung und übertrug die gesetzliche Vertretung insoweit auf den Kinder‑ und Jugendhilfeträger. Gleichzeitig erkannte es dem Beschluss vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu. Ausgehend vom Sachverständigengutachten sowie den Stellungnahmen des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ging es davon aus, dass die Mutter sowohl für die Schule als auch für den Kinder‑ und Jugendhilfeträger nur schwer erreichbar sei und es immer wieder großer Überzeugungsarbeit bedürfe, damit der Minderjährige etwa an Schulveranstaltungen teilnehmen dürfe. Die Mutter sei nicht ausreichend erziehungsfähig. Sie weise massive strukturelle Defizite bei Wohnversorgung, Tagesstruktur sowie der Einhaltung von Terminen auf. Ihre Kooperationsbereitschaft sei eingeschränkt, sie sei gegenüber der Außenwelt skeptisch, nicht paktfähig und neige zur sozialen Abschottung. Dies beeinträchtige nicht nur die Erziehungskompetenz der Mutter, sondern in der Folge auch das Wohl des Minderjährigen, weil dieser weder geordnete Lebensverhältnisse habe, noch seine Entwicklungsbedürfnisse gewahrt würden. Überdies sei die kontinuierliche Wohnversorgung des Minderjährigen gefährdet. Aufgrund mangelnder Problemeinsicht und Kooperationsbereitschaft könnten auch eventuelle Unterstützungsmaßnahmen im Haushalt der Mutter das Kindeswohl mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend sicherstellen. Bei einem weiteren Verbleib des Sohnes in der Betreuung seiner Mutter sei zu befürchten, dass er im Hinblick auf den altersentsprechend beginnenden Ablösungsprozess und seine Autonomieentwicklung nicht ausreichend von der Mutter unterstützt werde, vielmehr seine individuelle Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt werden könnte. Die Voraussetzungen für die Entziehung der Obsorge lägen daher vor.
Das Rekursgericht bestätigte die Obsorgeentziehung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei. Das rechtliche Gehör der Mutter sei nicht verletzt worden, sie habe vielmehr im Verfahren gewährte Äußerungsmöglichkeiten nicht genützt. Da die Mutter aufgrund fehlender Erziehungskompetenz nicht in der Lage sei, ihrem Sohn eine angemessene Versorgung, Betreuung und sorgfältige Erziehung zu gewährleisten, sie überdies keine ausreichende Bereitschaft zeige, externe Unterstützungsmaßnahmen anzunehmen und auch keine diesbezügliche Veränderungsbereitschaft bei ihr vorliege, sei bei einem Verbleib des Sohnes bei der Mutter dessen Wohl gefährdet. Mangels anderer geeigneter nahestehender Personen könne dieser Gefährdung nur durch Fremdunterbringung begegnet werden.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs, mit dem die Mutter die Abweisung des Antrags auf Obsorgeübertragung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger anstrebt, ist zulässig und im Sinn der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung auch berechtigt.
Die Mutter rügt in ihrem Revisionsrekurs zu Recht, dass ihr Sohn in diesem Verfahren vor Beschlussfassung nicht gehört wurde.
Zwar ist ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz kein Grund für einen Revisionsrekurs, ebenso wenig, wenn ein behaupteter Mangel des Verfahrens erster Instanz im Rekurs gar nicht gerügt wurde (RIS‑Justiz RS0050037 [T13]); eine Durchbrechung dieses Grundsatzes ist aber nach ständiger Rechtsprechung aus Gründen des Kindeswohls erforderlich (RIS‑Justiz RS0050037 [T4]; RS0030748).
Gemäß § 105 Abs 1 AußStrG hat das Gericht Minderjährige im Verfahren über Pflege und Erziehung oder das Recht auf persönlichen Verkehr grundsätzlich persönlich zu hören. Der Minderjährige kann auch durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger, die Familiengerichtshilfe, durch Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe oder in anderer geeigneter Weise, etwa durch Sachverständige, gehört werden, wenn er das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wenn dies seine Entwicklung oder sein Gesundheitszustand erfordert oder wenn sonst eine Äußerung der ernsthaften und unbeeinflussten Meinung des Minderjährigen nicht zu erwarten ist. Die Befragung hat zu unterbleiben, soweit durch sie oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist (§ 105 Abs 2 AußStrG).
Das Gebot zur Befragung des Kindes dient dazu, dessen grundsätzliche Einstellung zu den zu beurteilenden Fragen zu ermitteln. Bei einem Minderjährigen darf somit die Befragung nur aus den in § 105 Abs 2 AußStrG genannten zwei Gründen unterbleiben (10 Ob 58/09s mwN), für deren Vorliegen in diesem Fall kein Anhaltspunkt besteht. Ebenso wenig ist erkennbar, weshalb der 14‑jährige nicht in der Lage gewesen sein soll, von der Erstrichterin selbst befragt zu werden.
Das Unterbleiben der persönlichen Einvernahme des betroffenen Minderjährigen bildet daher einen gravierenden Verfahrensmangel, der im Hinblick auf die Gefährdung des Kindeswohls auch ungeachtet des Unterbleibens einer entsprechenden Rüge im Rekurs der (damals noch unvertretenen) Mutter gegen die erstinstanzliche Entscheidung aufgegriffen werden muss. Eine Sanierung des Mangels des Verfahrens erster Instanz erfolgte auch in zweiter Instanz nicht.
Zwar ist der Wunsch des Minderjährigen für die ausschließlich am Kindeswohl zu orientierende Entscheidung nicht allein maßgeblich, die Erforschung des Willens des inzwischen mündigen Minderjährigen ist aber Voraussetzung einer alle maßgeblichen Umstände berücksichtigenden Entscheidung (9 Ob 60/16z mwN). Der Anhörung vor dem erkennenden Gericht ist grundsätzlich der Vorzug zu geben (RIS‑Justiz RS0127159).
Hiezu kommt, dass der Minderjährige (nach der Aktenlage) zwar gegenüber der Sachverständigen angab, doch lieber bei der Mutter bleiben zu wollen, in der Kurzstellungnahme der Sozialarbeiterin des Jugendamts vom 28. März 2017 aber davon gesprochen wird, dass er am Pflegeplatz wohnen bleiben möchte. Referiert wird dort auch, dass der Minderjährige zwischenzeitlich gedacht habe, dass er, wenn seine Mutter wieder eine Wohnung gefunden habe, zu ihr ziehen könnte. „Allerdings sei dies aufgrund des Gutachtens und des Gerichtsbeschlusses nicht möglich, das wisse er.“ Die zuletzt referierte Äußerung lässt Zweifel daran aufkommen, ob sie unbeeinflusst erfolgt ist. Der auf das Gutachten aufbauende erstinstanzliche Beschluss ist schließlich nicht rechtskräftig, sondern vielmehr im Rechtsmittelverfahren zu überprüfen.
Der geltend gemachte Verfahrensmangel muss daher zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führen. Das Erstgericht wird nach Befragung des Kindes eine neuerliche Entscheidung über den Antrag auf (teilweise) Obsorgeentziehung zu treffen haben.
In Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie sollte den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt bleiben, als sich das mit dem Kindeswohl verträgt, sodass die Beschränkung der Obsorge nur das letzte Mittel ist und nur insoweit angeordnet werden darf, als sie zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Von einer solchen Vorkehrung darf das Gericht nur aus schwerwiegenden Gründen Gebrauch machen (RIS‑Justiz RS0048712 [T1, T8, T10]). An diesen Grundsätzen hat sich auch durch das KindNamRÄG 2013 nichts geändert (8 Ob 48/14p). Insgesamt ist zwar bei der Frage der Entziehung der Elternrechte der Wunsch des Kindes allein nicht entscheidend, jedoch ist dieser Wunsch bei entsprechendem Alter des Kindes doch zu berücksichtigen (8 Ob 304/00i). Überdies wäre die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, den Minderjährigen ohne Obsorgeentziehung zu unterstützen, soweit dafür nach den nunmehr allenfalls geänderten Verhältnissen Bedarf besteht.
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