European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0100OB00001.24F.0416.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Grundrechte, Unterhaltsrecht inkl. UVG
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Nach der Aktenlage sind die Kinder, die Mutter und der Vater Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan (idF: Afghanistan). Sie leben in Österreich, die Kinder befinden sich in Pflege und Erziehung der Mutter.
[2] Die Mutter lebt jedenfalls seit November 2017 in Österreich. Mit Bescheid vom 27. 11. 2017 wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG zuerkannt und gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, die mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18. 11. 2022 gemäß § 8 Abs 4 AsylG um zwei Jahre verlängert wurde.
[3] Das Kind Ob* wurde 2008 in Afghanistan geboren und lebt seit 2017 in Österreich. Ihm wurde mit Bescheid vom 27. 11. 2017 der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG zuerkannt und gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18. 11. 2022 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG um zwei Jahre verlängert.
[4] Das Kind Om* wurde 2019 in Wien geboren. Ihm wurde mit Bescheid vom 20. 2. 2020 der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG zuerkannt und gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18. 11. 2022 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung des Kindes gemäß § 8 Abs 4 AsylG um zwei Jahre verlängert.
[5] Der Vater ist aufgrund der rechtskräftigen einstweiligen Verfügung vom 3. 2. 2023 verpflichtet, einen vorläufigen monatlichen Unterhaltsbetrag ab 25. 1. 2023 in Höhe von 149,70 EUR für Ob* und von 120 EUR für Om* zu zahlen.
[6] Die Kinder beantragten am 30. 3. 2023 die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem 2. COVID‑19‑G, BGBl I 2020/16, in Höhe von monatlich 149,70 EUR für Ob* und von 120 EUR für Om*.
[7] Das Erstgericht bewilligte die beantragten Unterhaltsvorschüsse für beide Kinder für den Zeitraum 1. 3. 2023 bis 31. 8. 2023.
[8] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis E 1935/2020 dargelegt habe, gelte es bei der Prüfung die in der EASO Country Guidance 2019 enthaltenen Ausführungen zu berücksichtigen, wonach hinsichtlich jener Gruppe von Rückkehrern, die außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, qualifizierte Umstände erforderlich seien, um von einer im Hinblick auf Art 2 und 3 EMRK zumutbaren Rückkehrsituation ausgehen zu können. Die Mutter und das ältere Kind lebten seit fast sechs Jahren in Österreich, das jüngere Kind sei in Österreich geboren. Die Taliban, deren Anschläge sich gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung richteten, hätten am 15. 8. 2021 Afghanistan zurückerobert, weshalb derzeit eine Rückkehr der Mutter und der Kinder nach Afghanistan ausscheide. Damit sei die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gerechtfertigt. Der Revisionsrekurs sei im Hinblick auf die fehlende Rechtsprechung zum Bestehen von Fluchtgründen aus Afghanistan zulässig.
[9] Gegen diesen Beschluss richtet sich der von den Kindern beantwortete Revisionsrekurs des Bundes, mit dem der Bund die Abweisung der Anträge anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
[10] Der Revisionsrekurs ist unzulässig.
[11] 1.1 Nach ständiger Rechtsprechung sind Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) österreichischen Staatsbürgern im Sinn des § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt und haben daher Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse (10 Ob 24/23m Rz 17 mwH).
[12] 1.2 Die Flüchtlingseigenschaft kommt gemäß § 9 Abs 3 IPRG auch (nicht zwingend staatenlosen) Personen zu, deren Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen abgebrochen sind. Das Gesetz meint damit gleichwertige Gründe wie die in der GFK und im Flüchtlingsprotokoll, BGBl 1974/78, aufgezählten. Das Vorliegen eines Abbruchs der Beziehungen zum Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen im Sinn des § 9 Abs 3 IPRG wurde in der Rechtsprechung für subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 8 AsylG 2005 bejaht (10 Ob 24/23m Rz 22 f mwH).
[13] 1.3 Der Vorschussanspruch wird auch für subsidiär Schutzberechtigte nach § 8 AsylG 2005 bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen bejaht (RS0126325; RS0110397 [T2]). Voraussetzung für die Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter nach § 8 Abs 1 AsylG 2005 an einen Fremden ist, dass dessen Asylantrag abgewiesen oder dessen Asylstatus aberkannt wurde, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in dessen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich brächte (10 Ob 28/18t; 10 Ob 46/10b). Es muss somit eine reale Gefahr einer Verletzung im Recht auf Leben, auf Schutz vor Folter, unmenschlicher Behandlung oder erniedrigender Strafe oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bestehen (10 Ob 28/18t).
[14] 2.1 Das Gericht hat im Verfahren über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen die Flüchtlingseigenschaft selbständig als Vorfrage zu prüfen (RS0110397; RS0037183). Asylbescheide und die damit verbundene Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren (§ 3 Abs 5 AsylG 2005) entfalten in Verfahren nach dem UVG daher keine Bindungswirkung, sondern haben für die Vorfragenbeurteilung nur Indizwirkung (10 Ob 6/21m Rz 18; 10 Ob 52/20z Rz 19 ua). Wie stark diese Indizwirkung ausgeprägt ist, hängt maßgeblich von der seither verstrichenen Zeit ab, sodass das Gericht mangels gegenteiliger Anhaltspunkte auf eine selbständige Prüfung in der Regel verzichten kann, wenn die Entscheidung im Verfahren über die Asylgewährung erst kurz zuvor ergangen ist (RS0037183 [T2, T3]; 10 Ob 31/22i Rz 13 ua). Bei Personen, denen nach § 8 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden war, billigte der Oberste Gerichtshof eine selbständige Prüfung der materiellen Schutzberechtigung durch das Zivilgericht (lediglich) als Vorfrage des Abbruchs der Beziehungen zum Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen im Sinn des § 9 Abs 3 IPRG (10 ObS 24/23m Rz 32 mwH).
[15] 2.2 Die Frage, ob die im Verwaltungsverfahren getroffene deklarative Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Kindes – oder wie hier der materiellen Schutzberechtigung – eine eigenständige Prüfung entbehrlich macht, hängt von zwei Faktoren ab, nämlich (primär) von der seit den verwaltungsbehördlichen Entscheidungen vergangenen Zeit, aber auch davon, ob Anhaltspunkte für das Fortbestehen oder – aufgrund geänderter Verhältnisse – den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft – der materiellen Schutzberechtigung – vorliegen. Das Ergebnis dieser Beurteilung ist notwendigerweise von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägt und daher in der Regel keinen allgemeinen Aussagen zugänglich (10 Ob 3/23y Rz 12).
[16] 3.1 Bereits das Erstgericht hat darauf hingewiesen, dass die mit den Anträgen auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss vorgelegten Bescheide über die Verlängerung des befristeten Aufenthaltsrechts der Kinder als subsidiär Schutzberechtigte nur wenige Monate alt waren. In der Begründung dieser Bescheide wird ausgeführt, dass die Angaben der Kinder zum weiteren Vorliegen der Voraussetzungen für eine befristete Aufenthaltsberechtigung glaubwürdig seien und ein Aberkennungsverfahren nicht eingeleitet worden sei.
[17] 3.2 Das Rekursgericht hat darüber hinaus die Feststellungen zur Lebenssituation der Kinder ausgehend von den im Akt erliegenden Urkunden ergänzt und insofern eine individuelle Prüfung vorgenommen, als es deren Lebenssituation den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs zur EASO Country Guidance 2019, Afghanistan (s VfGH E 1935/2020) gegenüberstellte und die seines Erachtens vorliegenden Gründe angab, die einer Rückkehr der Kinder nach Afghanistan im konkreten Fall entgegenstehen. Nach der Rechtsprechung kann darüber hinaus die Flüchtlingseigenschaft auch erst nach dem Verlassen des Heimatstaats entstehen (10 Ob 24/23m Rz 21). Das Rekursgericht hat darauf hingewiesen, dass die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan die Situation seit 15. 8. 2021 dahin geändert hat, dass sie eine Rückkehr der Kinder (und der Mutter) hindert, weil deren Anschläge sich gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung richteten.
[18] Mit diesen Ausführungen des Rekursgerichts setzt sich der Revisionsrekurs nicht auseinander, wenn er lediglich allgemein geltend macht, dass der bloße Hinweis auf die Situation in Afghanistan ohne nähere Angaben darüber, ob und inwieweit die Mutter und ihre Familie davon tatsächlich betroffen seien, nicht genüge. Mit der darüber hinaus nicht näher begründeten Behauptung, es sei auch für afghanische Staatsangehörige erforderlich, das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen zu prüfen, zeigt der Revisionsrekurswerber daher keine Unvertretbarkeit der Rechtsansicht des Rekursgerichts im konkreten Einzelfall auf.
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