VfGH E1935/2020

VfGHE1935/202025.6.2021

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; mangelhafte Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten des EASO zu Personen, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben

Normen

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:E1935.2020

 

Spruch:

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer vierzehntägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er bekennt sich zum schiitischen Islam und ist in der Provinz Daikundi am 1. Jänner 1996 geboren. Er hat keine Schulbildung und ist Analphabet. Afghanistan hat er im Jahr 2010 verlassen und ist in den Iran gereist. Am 8. Juli 2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 17. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 7. Mai 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Eine asylrelevante Verfolgung schloss das Bundesverwaltungsgericht mangels glaubhaften Fluchtvorbringens aus. Ebenso wenig drohe dem Beschwerdeführer eine Verfolgung auf Grund seines mehrjährigen Aufenthaltes in Europa. Den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Gründen für das Verlassen des Staates Iran komme keine Relevanz zu.

Das BVwG stellte fest, dass der Beschwerdeführer auf Grund einer innerstaatlichen Fluchtalternative kein Recht auf subsidiären Schutz erwirkt habe. Er könne auf Grund der Sicherheitslage und seiner persönlichen Umstände zwar nicht in seine Heimatprovinz Daikundi zurückkehren, denn auch wenn es sich bei der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers nicht um eine der volatilen Provinzen des Landes handle, sei ihm eine Rückkehr dorthin auf Grund des Fehlens eines sozialen Netzes nicht zumutbar.

Dem Beschwerdeführer sei aber eine Rückkehr in die Städte Herat und Mazar-e Sharif möglich. Er habe zwar bislang nicht dort gelebt und verfüge dort auch über keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte, doch habe er den überwiegenden Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht, wodurch er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und der Sprache vertraut sei.

Der Beschwerdeführer könne durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe zumindest übergangsweise in Herat und Mazar-e Sharif das Auslangen finden. Es sei nicht zu erwarten, dass er trotz anfänglichen Schwierigkeiten in eine existenzbedrohende oder wirtschaftlich ausweglose Lage geraten würde. Das Fehlen familiärer Anknüpfungspunkte in Herat oder Mazar-e Sharif würde nicht zu einer Unzumutbarkeit führen. Dafür spreche auch, dass der Beschwerdeführer noch als junger Erwachsener in der Lage gewesen sei, völlig auf sich alleine gestellt in den Iran zu fliehen und dort über fünf Jahre lang für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B‑VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer von seiner Familie verstoßen worden sei und ihm, wenn ihm kein Asyl zuerkannt werde, zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei. Das Bundesverwaltungsgericht habe die Ermittlungstätigkeit in entscheidenden Punkten und damit willkürlich unterlassen.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Erwägungen

Die Beschwerde ist zulässig.

A. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und der Festsetzung einer vierzehntägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler, ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

1.1. Das Bundesverwaltungsgericht verweist auf die "Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018" sowie auf die "EASO, Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019". Aus der EASO Country Guidance 2019 geht aber hervor, dass für jene Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort kein Unterstützungsnetzwerk vorhanden sei, das bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könne, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 18.1.2021, E967/2020).

1.2. Das Bundesverwaltungsgericht führt in seiner Beurteilung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht, im Wesentlichen aus, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann ohne besondere Vulnerabilität handle, der über Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Händler verfüge. Er habe zudem im Iran Hilfstätigkeiten am Bau ausgeführt.

Dabei verkennt das Bundesverwaltungsgericht die in der EASO Country Guidance 2019 enthaltenen Ausführungen, wonach hinsichtlich jener Gruppe von Rückkehrern, die außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, qualifizierte Umstände erforderlich seien, um von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zumutbaren Rückkehrsituation ausgehen zu können, insbesondere im Hinblick auf Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis sowie Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans.

Der Beschwerdeführer ist nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes im Alter von vierzehn Jahren aus Afghanistan in den Iran ausgereist. Der Beschwerdeführer verfügt weder über Schulbildung noch über Berufsausbildung. Er ist Analphabet und verfügt weder über Ortskenntnisse noch ein Unterstützungsnetzwerk in Mazar-e Sharif oder Herat. All das wird in der Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht ausreichend berücksichtigt.

Seine Berufserfahrung als Händler und in der Landwirtschaft hat der Beschwerdeführer in einem Alter von unter vierzehn Jahren gesammelt. Bei seiner beruflichen Tätigkeit im Iran handelt es sich lediglich um Hilfstätigkeiten im Baugewerbe im minderjährigen Alter.

Um rechtlich relevant zu sein, müssen ungelernte Tätigkeiten aber über einen längeren (mehrjährigen) Zeitraum ausgeübt worden sein (vgl VfGH 24.2.2021, E2629/2020; 10.3.2021, E3003/2020). Für die Beurteilung maßgeblich sind dabei nur solche Tätigkeiten, die nicht bloß wesentlich im Kindesalter erworben wurden (vgl VfGH 6.10.2020, E2795/2019). Folglich ist darauf hinzuweisen, dass die vom Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung angeführte Berufserfahrung des Beschwerdeführers offenbar zumindest teilweise im Kindesalter erworben wurde (vgl VfGH 6.10.2020, E2795/2019; 24.11.2020, E1900/2020).

B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B‑VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insoweit nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, abzusehen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B‑VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

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