AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:W272.2293805.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.03.2024, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.09.2024, zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von drei Jahren erteilt.
III. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge BF), eine afghanische Staatsangehörige, reiste mit einem österreichischen Visum im Rahmen eines Antrages im Familienverfahrens (Botschaftsantrag gemäß § 35 AsylG 2005 an der Botschaft in Teheran) und ihrem afghanischen Reisepass am 10.02.2024 nach Österreich ein und stellte am 21.02.2024 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die BF zusammengefasst an, dass sie in Herat geboren sei und den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stelle, weil ihr Ehemann XXXX und Sohn XXXX in Österreich den Status des Asylberechtigten erlangt haben und sie in Österreich denselben Schutz wie ihr Ehemann und Sohn beantrage. Eigene Fluchtgründe habe die BF nicht.
Die BF bestätigte, dass sie mit einer Entscheidung des Bundesamtes auf Basis dieser Erstbefragung einverstanden sei und auf eine weitere Einvernahme verzichte.
2. Der Reisepass der BF wurde der Polizei zur Dokumentenüberprüfung vorgelegt.
3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) wies den Antrag der BF auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 01.03.2024 (zugestellt am 26.03.2024) hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der BF den Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 iVm § 34 AsylG zu (Spruchpunkt II.) und erteilte der BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte bis zum 16.04.2024 (Spruchpunkt III.).
Das Bundesamt führte begründend zusammengefasst aus, dass die BF legal im Rahmen des Botschaftsverfahrens in Österreich eingereist sei und keine eigenen Fluchtgründe oder Rückkehrbefürchtungen angeführt habe. Amtswegig haben keine Anhaltspunkte erkannt werden können, welche auf eine individuelle Verfolgung im Falle einer Rückkehr hindeuten würden. Der Ehegatte und Sohn der BF haben zuletzt eine Verlängerung des subsidiären Schutzes mit Bescheid vom 05.04.2022 erhalten. Im Fall der BF liege ein Familienverfahren vor und weil die Bezugsperson der BF über den Status des subsidiär Schutzberechtigten verfüge, erhalte auch die BF den gleichen Schutz.
4. Gegen Spruchpunkt I. diesen Bescheides erhob die BF mit Schriftsatz vom 22.04.2024 innerhalb offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften bekämpft. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass der BF als Frau im Falle einer Rückkehr im Hinblick auf die verschlechterte Lage allein aufgrund ihrer angeborenen Eigenschaft als Frau asylrelevante Verfolgung drohe. Nachdem die Taliban die Macht übernommen haben, habe sich die Lage für Frauen im ganzen Land massiv verschlechtert. Die BF wäre im Falle einer Rückkehr in das mittlerweile durch die Taliban beherrschte Afghanistan einer Kumulierung unterschiedlicher Einschränkungen und Beschränkungen des täglichen Lebens, sowie mit Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Tatsächlich sei die BF als sogenannte westlich orientierte Frau aufgrund ihrer politischen Gesinnung bzw. aus religiösen Gründen sowie allein schon aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frau einer (geschlechtsspezifischen) asylrelevanten Verfolgung iSd. GFK ausgesetzt.
5. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 17.06.2024 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurden der zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen.
6. Am 24.09.2024 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung in Anwesenheit der BF, ihres gewillkürten Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari durch. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der mündlichen Verhandlung teil (OZ 3). Ergänzend brachte das Bundesverwaltungsgericht die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan in das Verfahren ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und zum Verfahrensgang der BF:
1.1.1. Die BF ist eine volljährige afghanische Staatsangehörige. Sie heißt XXXX und wurde am XXXX in Afghanistan, in Herat geboren. Sie gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zum sunnitisch-islamischen Glauben. Ihre Erstsprache ist Dari. Außerdem spricht sie etwas Herati, ein wenig Deutsch und Englisch. Ihre Identität steht fest.
Die BF ist mit XXXX verheiratet und Mutter eines Sohnes, XXXX .
1.1.2. Die BF stammt aus dem Ortschaft XXXX , in der Provinz Herat, wo sie im Familienverband aufwuchs und bereits im Alter von ca. 8 Jahren mit ihrer Familie in den Iran ausreiste. Die BF besuchte in Iran zwölf Jahre die Schule im Iran. Die BF heiratete im Iran traditionell den in Österreich subsidiär schutzberechtigten Ehemann und aus dieser Ehe entstammt ihr gemeinsamer Sohn, der ebenfalls im Bundesgebiet als subsidiär Schutzberechtigter aufenthaltsberechtigt ist. Im Jahr 1391 kehrte sie für ca. zwei Jahre mit ihrem Mann nach Afghanistan zurück. Im Jahr 1394 versuchte sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach Europa einzureisen, wurde jedoch getrennt und wieder nach Afghanistan abgeschoben, wo sie für weitere 6-7 Monate lebte. Danach kehrte sie in den Iran zurück, wo sie mit ihren Eltern bis zur Ausreise nach Österreich lebte.
Ihr Lebensunterhalt wurde in Afghanistan durch ihre Familie und später von ihrem Ehemann finanziert. Sie verfügt über keine Berufserfahrung.
1.1.3. In Afghanistan leben noch ein Onkel und ein Cousin der BF. Ihre Eltern und Geschwister sind in Iran aufhältig. Ihr Ehemann und Sohn wohnen in Österreich. In den Herkunftsstaat hat die BF keinen Kontakt.
1.1.4. Die BF reiste im Rahmen eines Botschaftsantrages im Familienverfahren mit einem österreichischen Visum legal am 10.02.2024 von Iran nach Österreich ein und stellte am 21.02.2024 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
Das Bundesamt wies mit Bescheid vom 01.03.2024 (zugestellt am 26.03.2024) den Antrag der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), aber erkannte der BF den Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 iVm § 34 AsylG im Rahmen eines Familienverfahrens abgeleitet von ihrem Ehemann und Sohn zu (Spruchpunkt II.) und erteilte der BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte bis zum 16.04.2024 (Spruchpunkt III.). Die BF erhob fristgerecht am 22.04.2024 Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides. Der im Familienverfahren abgeleitete Status der BF der subsidiär Schutzberechtigten erwuchs in Rechtskraft.
1.1.5. Die BF ist gesund und arbeitsfähig.
Sie ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.1.6. Die BF konnte zwar im Entscheidungszeitpunkt keine nennenswerten Deutschkenntnisse vorweisen, allerdings zeigte sie sich bemüht, Deutsch zu erlernen. Sie geht im Bundesgebiet keiner regelmäßigen Beschäftigung nach und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. In Zukunft würde sie gerne in Österreich als Krankenschwester arbeiten.
Die BF hat Kontakt zu anderen Österreichern und unterstützt ihren Sohn bei seinen Hobbys. Sie fährt alleine zum Deutschkurs nach Linz und besorgt Lebensmittel in dem naheliegenden Einkaufszentrum. Die BF kleidet sich mit einem Schal als Kopfbedeckung, Hose und Schmuck. Weiters ist sie leicht geschminkt.
1.2. Zu den Fluchtgründen und Rückkehrmöglichkeit der BF:
1.2.1. Die persönliche Wertehaltung der BF in Bezug auf die Rechte der Frauen steht im Widerspruch zum derzeitigen Gesellschaftsbild der herrschenden Taliban in Afghanistan.
Die BF identifiziert sich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern, sie prangert das Verbot der Arbeitsbeschäftigung, Schulbildung und freien Freizeitgestaltung an. Sie prangert eine Zwangsverheiratung von Frauen an. Sie steht für das alleinige Verlassen der eigenen Unterkunft in alleinige Auftreten in der Öffentlichkeit. Sie lehnt damit die sanktionsbewehrten Regelungen der Taliban hinsichtlich des Lebens einer Frau in Afghanistan ab, welches in ihrer Gesamtheit der Menschenwürde durch ein System von Ausgrenzung und Unterdrückung massiv beeinträchtigt ist. Sie hat keine asylfremden Motive hinsichtlich der Antragsstellung auf internationalen Schutz.
1.3. Die allgemeine Lage in Afghanistan stellt sich im Übrigen wie folgt dar:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen
- die aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation zu Afghanistan aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System), Version 11 vom 10.04.2024;
- UNHCR-Position zum internationalen Schutzbedarf von Menschen, die aus Afghanistan fliehen (aktuelle Situation; Mangel an umfassenden Informationen; Frauen und Mädchen; andere Profile; staatlicher Schutz; interne Schutzalternative; Ausgrenzung) vom Februar 2023 und
- EUAA Country Guidance: Afghanistan Common analysis and guidance note May 2024
auszugsweise wiedergegeben:
Sicherheitslage
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).
UNAMA registrierte im Zeitraum 15.08.2021 - 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und vom 20.5.2023 bis 22.10.2023 mindestens 344 zivile Opfer, davon 96 Tote (UNGA 18.9.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.6.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:
19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)
1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)
22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)
17.8.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)
14.11.2022 - 31.1.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)
1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)
25.5.2023 - 31.7.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.9.2023)
1.8.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 1.12.2023)
Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 20.6.2023), wobei diese nach Einschätzung der Vereinten Nationen den Taliban die Kontrolle über ihr Gebiet nicht streitig machen können (UNGA 1.12.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront (AFF) im Distrikt Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023).
Ca. 50 % der sicherheitsrelevanten Vorfälle des Jahres 2023 entfielen auf die Regionen im Norden, Osten und Westen wobei die Provinzen Nangarhar, Kunduz, Herat (UNGA 20.6.2023), Takhar (UNGA 18.9.2023) und Kabul am stärksten betroffen waren (UNGA 1.12.2023).
Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023).
Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022), so nahmen auch diese im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023; vgl. UNAMA 22.1.2024). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023).
Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).
Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).
Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023).
Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).
Regionen Afghanistans
Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 1.2.2024) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 39,2 Millionen Menschen (CIA 1.2.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 1.2.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 26.6.2023; vgl. EUAA 12.2023).
West-Afghanistan
Karte der Region West-Afghanistan unterteilt in Provinzen mit Hauptverkehrswegen und Flughafen
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans an der Grenze zwischen Afghanistan und Iran. Herat grenzt im Süden an die afghanischen Provinzen Farah, im Norden an Badghis und im Osten an Ghor. Im Norden grenzt die Provinz außerdem teilweise an Turkmenistan. Die Stadt Herat ist das größte und bedeutendste Stadtgebiet im Westen Afghanistans, in dem schätzungsweise 400.000 Heratis leben. Während Landwirtschaft und Viehzucht die Haupterwerbszweige in den ländlichen Distrikten der Provinz Herat sind, dominieren städtische Handels- und Industrieunternehmen die Wirtschaft von Herat-Stadt. Der Handel ist eng mit Iran verbunden (NPS o.D.c).
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
2023
Medienberichten vom 5.1.2023 zufolge starteten die Taliban eine Operation zur Aushebung von Verstecken der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) in der Hauptstadt Kabul und Nimroz. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere festgenommen (DW 5.1.2023; vgl. AJ 5.1.2023).
Nach Angaben lokaler Taliban-Vertreter wurden am 9.4.2023 in Nimroz bei einer Operation in Zaranj zwei ISKP-Mitglieder getötet und ein weiteres Mitglied festgenommen (KaN 10.4.2023; vgl. VOA 10.4.2023).
In Herat wurde im Juli 2023 die vermehrte Festnahme von Frauen gemeldet, die Kopftuch und Mantel anstatt Ganzkörperschleier tragen (BAMF 31.12.2023; vgl. KaN 22.7.2023, BNN 25.9.2023).
Am 7.10.2023 kam es zu einem schweren Erdbeben in Herat, gefolgt von zusätzlichen Nachbeben (UN News 16.10.2023; vgl. UNOCHA 16.10.2023). Das Epizentrum des Bebens war der Distrikt Zendahjan (AP 12.10.2023), den UNOCHA zusammen mit den Distrikten Herat und Enjil als die am stärksten betroffenen Regionen identifizierte (UNOCHA 20.10.2023). Berichten zufolge wurden ganze Dörfer zerstört (CNN 15.10.2023), und Tausende Menschen getötet wurden (AP 11.10.2023; vgl. AAN 11.11.2023). Nach Angaben von UNOCHA waren mehr als 275.000 Menschen in neun Distrikten direkt von den Erdbeben betroffen (UNOCHA 16.11.2023a), die mindestens 1.480 Todesopfer und 1.950 Verwundete forderten (UNOCHA 16.11.2023b). Mehr als 8.429 Häuser wurden zerstört und weitere 17.088 stark beschädigt (UNOCHA 20.10.2023).
In einem mehrheitlich von Hazara bewohnten Viertel in der Stadt Herat (BAMF 31.12.2023) wurden am 1.12.2023 bei einem Angriff unbekannter bewaffneter Personen mindestens sechs Menschen, darunter zwei Geistliche, getötet und drei weitere verwundet (KP 1.12.2023; vgl. PAN 1.12.2023). Berichten zufolge wurden in den anderthalb Monaten zuvor mindestens vier Hazara-Kleriker oder religiöse Führer in Herat getötet (KP 1.12.2023).
Zentrale Akteure
Taliban
Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).
Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).
Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).
Haqqani-Netzwerk
Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o.D.c; vgl. FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vgl. ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und "sunnitisch-islamische Deobandi"-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).
Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vgl. VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.8.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.8.2021).
Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.8.2022; vgl. UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vgl. DT 7.5.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).
Weitere Widerstandsbewegungen
Afghanistan Freedom Front (AFF)
Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.3.2022 (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.4.2022). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF "Tausende Kämpfer" und ist "in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv", wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sie für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 7.4.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich zu der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vgl. 8am 20.8.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff der AFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.3.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 7.4.2022).
Die AFF verübte im August 2023 nach eigenen Angaben einen Angriff auf einen Taliban-Stützpunkt in Parwan, bei dem fünf Taliban-Mitglieder getötet und drei weitere verletzt wurden (KaN 15.8.2023; vgl. Afintl 15.8.2023). Berichten zufolge wurden bei einem Angriff der AFF in Laghman am 3.9.2023 zwei Taliban getötet und vier weitere verletzt (KaN 3.9.2023). Darauf erfolgte ein Gegenangriff der Taliban gegen die AFF in verschiedenen Regionen des Distriktes Dawlat Shah in Laghman (Afintl 31.8.2023). Im November haben die NRF und die AFF, nach eigenen Erklärungen auf X [Anm.: ehemals Twitter], mindestens 50 Talibankämpfer getötet (VOA 6.12.2023).
Afghanistan Liberation Movement (ALM)
Das Afghanistan Liberation Movement (auch Afghanistan Islamic National and Liberation Movement) (ALM) (CT 28.2.2024) gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 14.9.2022). Mitte März 2022 gab die Gruppierung an, dass sie über "Tausende Kämpfer" in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 7.4.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Die Gruppierung beansprucht verschiedene Angriffe auf die Taliban in den Jahren 2022 (SIGA 7.4.2022) und 2023 für sich (UNGA 20.6.2023; vgl. ACAPS 1.10.2023).
Weitere Gruppierungen
Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 7.2.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.1.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.4.2022). Im dritten Quartal 2023 gaben vier weitere Widerstandsgruppen ihre Existenz bekannt - die Afghanistan National Guard Front, die National Mobilization Front, die National Battle Front und die Afghanistan United Front - wobei sich die beiden letztgenannten Gruppen, mit Stand November 2023, zu keinen Anschlägen bekannten (UNGA 1.12.2023).
Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh) bzw. Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015, MEE 27.8.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 3.1.2023; vgl. MEE 27.8.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.8.2017).
Während die Taliban bereits in der Vergangenheit behaupteten, sie hätten den Aufstand des ISKP im Land unter Kontrolle gebracht und fast besiegt (AOV 20.3.2022; vgl. ICCT 30.1.2024), sehen externe Beobachter hingegen diesen häufig auf dem Vormarsch (ICCT 30.1.2024). So bewerten die Vereinten Nationen und das United States Institute of Peace den ISKP aktuell als die schwerwiegendste terroristische Bedrohung in Afghanistan und der gesamten Region (UNSC 25.7.2023; vgl. USIP 7.6.2023, VOA 6.12.2023). Der ISKP hat schätzungsweise 4.000 bis 6.000 Mitglieder, einschließlich Familienangehörige. Sanaullah Ghafari (alias Shahab al-Muhajir) wird als der Anführer des ISKP angesehen (UNSC 25.7.2023), jedoch wurde im Juni 2023 berichtet, dass Ghafari in Afghanistan getötet worden ist (VOA 9.6.2023; vgl. UNSC 25.7.2023).
Das "Kerngebiet" des ISKP bleibt Afghanistan und Pakistan. Obwohl der ISKP zunächst als ein von Pakistan dominiertes Netzwerk auftrat, konzentrierte es sich bald auf Afghanistan. Dort hat es seine Strategie von der Kontrolle des Territoriums auf die Führung eines urbanen Krieges umgestellt. Es stellte eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die frühere afghanische Regierung dar und versucht nun, die Regierungsbemühungen der Taliban zu stören (USIP 7.6.2023). Die Kernzellen des ISKP in Afghanistan befinden sich vor allem in den östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Nuristan in Afghanistan, wobei eine große Zelle in Kabul und Umgebung aktiv ist. Kleinere Gruppen wurden in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Badakhshan, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Takhar und Balkh entdeckt. Da Balkh eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Provinzen im Norden ist, ist sie für den ISKP nach wie vor von vorrangigem Interesse in Hinblick auf die Erzielung von Einnahmen (UNSC 13.2.2023).
Die Gruppe geht bei ihren Anschlägen gegen die Taliban und internationale Ziele immer raffinierter vor und konzentriert sich auf die Durchführung einer Strategie mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen, um die Fähigkeit der Taliban zur Gewährleistung der Sicherheit zu untergraben. Insgesamt zeigten die Angriffe des ISKP starke operative Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung, Koordination, Kommunikation, Planung und Ausführung. Darüber hinaus haben die Anschläge gegen hochrangige Taliban-Persönlichkeiten in den Provinzen Balkh, Badakhshan und Baghlan die Moral des ISKP gestärkt und die Rekrutierung gefördert (UNSC 25.7.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (UNGA 1.12.2023; vgl. HRW 12.1.2023, UNGA 18.9.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:
19.8.2021 - 31.12.2021: 152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in 5 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.1.2022)
1.1.2022 - 21.5.2022: 82 Angriffe in 11 Provinzen (192 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.6.2022)
22.5.2022 - 16.8.2022: 48 Angriffe in 11 Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.9.2022)
17.8.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor (UNGA 7.12.2022)
14.11.2022 - 31.1.2023: 16 Angriffe in 4 Provinzen (53 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 27.2.2023)
1.2.2023 - 20.5.2023: 11 Angriffe in 5 Provinzen (62 Angriffe in 12 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 20.6.2023)
21.5.2023 - 31.7.2023: 5 Angriffe in 3 Provinzen (34 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 18.9.2023)
1.8.2023 - 7.11.2023: 8 Angriffe in 3 Provinzen (27 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 1.12.2023)
Seit Mitte 2022 gehen die Angriffe des ISKP zurück (UNGA 7.12.2022), ein Trend, der sich auch im Jahr 2023 fortsetzt (ICCT 30.1.2024; vgl. UNGA 27.2.2023, UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Im April und Mai 2023 gab es keinen einzigen bestätigten Anschlag. Von Juni bis September konnte der ISKP nur ein oder zwei Anschläge pro Monat verüben, darunter auch Schüsse auf Taliban-Patrouillen. Ab Oktober kam es zu einem bescheidenen Wiederaufschwung, aber selbst dann gab es nur vier bestätigte Anschläge in diesem Monat, darunter zwei mit Sprengstoff (ICCT 30.1.2024).
Ein Bericht verweist im Zusammenhang mit den abnehmenden Aktivitäten des ISKP einerseits auf erfolgreiche Razzien der Taliban gegen die Gruppierung (ICCT 30.1.2024; vgl. UNSC 29.1.2024) und andererseits auf fehlende finanzielle Mittel (ICCT 30.1.2024).
Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban
Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 3.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. REU 4.10.2021) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 8.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. TN 9.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 2.11.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. 8am 3.11.2021).
Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat (UNGA 15.6.2022), auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vgl. DW 21.4.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz durch (UNGA 15.6.2022; vgl. PAN 23.4.2022). Außerdem gab es Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vgl. AJ 28.4.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul (UNGA 15.6.2022; vgl. FR24 1.5.2022).
Am 22.5.2022 kam es zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von Mullah Akhtar Mohammad Mansour in Kabul und am 25.5.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.9.2022; vgl. AJ 25.5.2022). Am 18.6.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.9.2022; vgl. TN 18.6.2022) und am 4.7.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.9.2022; vgl. Afintl 5.7.2022).
Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 8.8.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 5.8.2022; vgl. REU 5.8.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP "Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale" geplant hatten (VOA 5.8.2022). Am 11.8.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.8.2022; vgl. VOA 11.8.2022). Am 18.8.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.8.2022; vgl. BBC 18.8.2022).
Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 5.9.2022 für sich (UNGA 7.12.2022; vgl. KP 6.9.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 7.12.2022; vgl. Afintl 11.10.2022b) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 7.12.2022; vgl. 8am 27.10.2022).
Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vgl. VOA 22.10.2022).
Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 1.1.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 1.1.2023; vgl. RFE/RL 1.1.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 5.1.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 5.1.2023; vgl. AJ 5.1.2023).
Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.3.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.3.2023; vgl. AJ 27.3.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.3.2023). Am 13.10.2023 kam es zu einer Explosion zum Freitagsgebet in der schiitischen Imam Zaman Moschee in der Hauptstadt Pul-e Khumri in Baghlan (Afintl 13.10.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023). Berichten zufolge sollen bis zu 30 Personen getötet worden sein (BAMF 31.12.2023). Der Islamische Staat bekannte sich zu der Tat (BAMF 31.12.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023).
Am 26.10.2023 kam es zu einem Bombenanschlag auf einen Sportklub im vornehmlich von Hazara besiedelten Distrikt Dasht-e Barchi. Dabei sollen mehrere Personen getötet und verletzt worden sein. Der Islamische Staate bekannte sich zu der Tat (FR24 27.10.2023; vgl. VOA 28.10.2023, UNGA 1.12.2023).
Folter und unmenschliche Behandlung
Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 26.6.2023, vgl. HRW 11.1.2024). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten (UNAMA 22.8.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten (AA 26.6.2023 vgl. HRW 11.1.2024, AI 7.12.2023) auch in Gefängnissen wird berichtet (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Amnesty International berichtet beispielsweise über kollektive Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen (AI 8.6.2023).
Es gibt Berichte über öffentliche Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul (UNGA 1.12.2023), Maidan Wardak (8am 10.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023), Kabul (ANI 12.7.2023; vgl. AMU 12.7.2023), Kandahar (KaN 17.1.2023; vgl. KP 17.1.2023) und Helmand (KP 2.2.2023; vgl. KaN 2.2.2023). Der oberste Taliban-Führer, Emir Hibatullah Akhundzada, begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).
Allgemeine Menschenrechtslage
Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).
Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vgl. AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023).
Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023, UNGA 1.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.6.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, AfW 15.8.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, AfW 15.8.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.8.2023).
Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022a, AI 15.8.2022).
Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.8.2023).
Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vgl. CIA 1.2.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 1.2.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).
Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.6.2023).
Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.3.2023).
Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.6.2023).
Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.6.2023).
Tadschiken
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus (MRG 5.2.2021b; vgl. AA 26.6.2023). Sie üben einen bedeutenden politischen Einfluss in Afghanistan aus und stellen den Großteil der afghanischen Elite, die über ein beträchtliches Vermögen innerhalb der Gemeinschaft verfügt. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badakhshan im Nordosten siedelten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans (MRG 5.2.2021b).
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (MRG 5.2.2021b). Heute werden unter dem Terminus tājik - „Tadschike“ - fast alle Dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Bereits vor Machtübernahme der Taliban war die afghanische Regierung nicht willens oder in der Lage, die Frauenrechte in Afghanistan vollumfänglich umzusetzen, allerdings konnten Mädchen grundsätzlich Bildungseinrichtungen besuchen, Frauen studieren und weitgehend am Berufsleben teilnehmen, wenn auch nicht in allen Landesteilen gleichermaßen (AA 26.6.2023). Es gab eine Reihe von Gesetzen, Institutionen und Systemen, die sich mit den Rechten von Frauen und Mädchen in Afghanistan befassten. So hatte beispielsweise das Ministerium für Frauenangelegenheiten mit seinen Büros in der Hauptstadt und in jeder der 34 Provinzen des Landes die Aufgabe, "die gesetzlichen Rechte der Frauen zu sichern und zu erweitern und die Rechtsstaatlichkeit in ihrem Leben zu gewährleisten" (AI 7.2022).
In den letzten drei Jahren haben die Taliban Beschränkungen für Frauen eingeführt, die sie an der aktiven Teilnahme an der Gesellschaft hindern (HRW 11.1.2024; vgl. UNGA 1.12.2023, IOM 22.2.2024). Rechte von Frauen und Mädchen auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit wurden eingeschränkt (HRW 11.1.2024; vgl. IOM 22.2.2024, UNAMA 22.1.2024) sowie das System zum Schutz und zur Unterstützung von Frauen und Mädchen, die vor häuslicher Gewalt fliehen, zerstört (HRW 26.7.2023). Insbesondere das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern und die entsprechenden Abteilungen auf Provinzebene übernehmen diese Durchsetzungsfunktion in Bezug auf Hidschab, Mahram und andere Anforderungen an Frauen, indem sie öffentliche Orte, Büros und Bildungseinrichtungen aufsuchen, Kontrollpunkte einrichten und die Einhaltung überwachen (UNAMA 22.1.2024). Darüber hinaus haben die Taliban Mechanismen zur Überwachung der Menschenrechte, wie die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission, aufgelöst (AIHRC 26.5.2022; vgl. OHCHR 10.10.2022) und spezialisierte Gerichte für geschlechtsspezifische Gewalt und Unterstützungsdienste für die Opfer abgeschafft (OHCHR 10.10.2022).
Die Taliban gehen auch 2023 immer härter gegen die Rechte von Frauen und Mädchen vor, wie jüngste Anordnungen zeigen, darunter die Entlassung von Frauen aus Beschäftigungsverhältnissen in Kindergärten und die Schließung aller Schönheitssalons, die eine wichtige Quelle für die verbleibende Beschäftigung von Frauen und ein seltener Ort waren, an dem Frauen und Mädchen Gemeinschaft und Unterstützung außerhalb ihrer Häuser finden konnten (HRW 26.7.2023).
Bekleidungsvorschriften
Im Mai 2022 erließen die Taliban einen neuen Erlass, der eine strenge Kleiderordnung für Frauen festschreibt. Sie dürfen das Haus nicht "ohne Not" verlassen und müssen, wenn sie es dennoch tun, den sogenannten "Scharia-Hijab" tragen, bei dem das Gesicht ganz oder bis auf die Augen bedeckt ist. Die Anordnung macht den Mahram (den "Vormund") einer Frau - ihren Vater, Ehemann oder Bruder - rechtlich verantwortlich für die Überwachung ihrer Kleidung, mit der Androhung, ihn zu bestrafen, wenn sie ohne Gesichtsverschleierung aus dem Haus geht (AAN 15.6.2022; vgl. USIP 23.12.2022, HRW 12.1.2023). In Herat wurde im Juli 2023 die vermehrte Festnahme von Frauen gemeldet, die Kopftuch und Mantel anstatt Ganzkörperschleier trugen (BAMF 31.12.2023; vgl. KaN 22.7.2023, BNN 25.9.2023). Auch im Jahr 2024 wird berichtet, dass die Taliban weiterhin strenge Bekleidungsvorschriften für Frauen und Mädchen durchsetzen (RFE/RL 16.1.2024; vgl. UNAMA 22.1.2024). So gab es Anfang Januar 2024 Medienberichte über die Verhaftung mehrerer Frauen in Kabul (FR24 10.1.2024; vgl. AP 4.1.2024), weil sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß trugen (TN 6.1.2024). Auch aus den Provinzen Daikundi (UNAMA 11.1.2024; vgl. Rukhshana 21.1.2024), Mazar-e Sharif (Balkh) (RFE/RL 16.1.2024; vgl. Rukhshana 21.1.2024), Herat, Kunduz, Takhar (RFE/RL 16.1.2024), Bamyan und Ghazni wird von Verhaftungen von Frauen, in Zusammenhang mit Bekleidungsvorschriften, berichtet (Rukhshana 21.1.2024).
Bewegungsfreiheit
Die Taliban schränkten auch die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen zunehmend repressiv ein. Zunächst ordneten sie an, dass Frauen und Mädchen auf Langstreckenreisen von einem Mahram begleitet werden müssen (Rukhshana 28.11.2022; vgl. AA 26.6.2023, HRW 11.1.2024). Während des Jahres 2022 untersagten die Taliban Frauen auch den Zutritt zu öffentlichen Bädern und Parks (RFE/RL 16.12.2022). Frauen und Mädchen erklärten gegenüber Amnesty International, dass angesichts der zahlreichen und sich ständig weiterentwickelnden Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit jedes Auftreten in der Öffentlichkeit ohne einen Mahram ein ernsthaftes Risiko darstelle. Sie sagten auch, dass die Mahram-Anforderungen ihr tägliches Leben fast unmöglich machten (AI 7.2022; vgl. Rukhshana 28.11.2022). Die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen hat ihre Möglichkeiten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung zu erhalten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Schutz zu suchen und Gewaltsituationen zu entkommen, erheblich beeinträchtigt (OHCHR 10.10.2022; vgl. IOM 22.2.2024). So besuchten beispielsweise am 26.12.2023 in Kandahar Beamte des Taliban-Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern einen Busbahnhof, um sicherzustellen, dass Frauen keine langen Strecken ohne Mahram zurücklegen, und wiesen die Busfahrer an, dass sie Frauen ohne Mahram nicht an Bord lassen sollten (UNAMA 22.1.2024).
Anm.: Mahram kommt von dem Wort "Haram" und bedeutet "etwas, das heilig oder verboten ist". Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022).
Politische Partizipation und Berufstätigkeit von Frauen
Nach der Machtübernahme der Taliban äußerten viele Experten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde. Viele waren deshalb gezwungen, das Land zu verlassen (UNOCHA 17.1.2022; vgl. HRW 24.1.2022). Frauen wurde jeder Posten im Kabinett der Taliban verweigert, das Ministerium für Frauenangelegenheiten ist nicht mehr tätig, und der frühere Sitz des Ministeriums in Kabul wurde in das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters umgewandelt, das in den 1990er-Jahren als "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022) und für seine diskriminierende Behandlung von Frauen und Mädchen berüchtigt ist (AI 7.2022).
Die Beschäftigung von Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stark zurückgegangen (ILO 7.3.2023; vgl. IOM 22.2.2024). Die International Labour Organization (ILO) schätzte, dass im vierten Quartal 2022 25 % weniger Frauen einer Beschäftigung nachgingen, als im zweiten Quartal 2021 (ILO 7.3.2023). Die Taliban erließen Dekrete, die es afghanischen Frauen untersagten, für NGOs (IOM 22.2.2024; vgl. HRW 26.7.2023) und die Vereinten Nationen (UNGA 1.12.2023; vgl. IOM 22.2.2024) zu arbeiten, wobei einige NGOs Ausnahmeregelungen für ihre Mitarbeiterinnen erwirken konnten, und weibliche Beschäftigte des Gesundheits-, Bildungs- und Innenministeriums bisher weiterarbeiten durften (NH 8.6.2023).
Viele der Frauen, die weiterhin arbeiten, empfinden dies aufgrund der von den Taliban vorgeschriebenen Einschränkungen in Bezug auf ihre Kleidung und ihr Verhalten als schwierig und belastend (AI 7.2022; vgl. IOM 22.2.2024). So müssen seit Mai 2022 Nachrichtensprecherinnen vor der Kamera ihr Gesicht verhüllen, sodass nur noch ihre Augen zu sehen sind (AI 7.2022; vgl. Guardian 19.5.2022). Mehrere Frauen, die im öffentlichen und privaten Sektor arbeiten, gaben an, dass sie stichprobenartig von Mitgliedern der Taliban in Hinblick auf ihre Kleidung und ihr Verhalten kontrolliert wurden (AI 7.2022). Auch die Vorgabe der Taliban, nach welcher sich Frauen in der Öffentlichkeit nur in Begleitung eines Mahram bewegen dürfen, hat Auswirkungen auf ihr Berufsleben (FH 1.2023; vgl. IOM 22.2.2024). So verzeichnete UNAMA im Oktober und im Dezember 2023 Fälle, in denen Beamte des Taliban-Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern Frauen an der Arbeit oder am Zugang zu Dienstleistungen hinderten, weil sie unverheiratet waren oder keinen Mahram hatten (UNAMA 22.1.2024).
Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren, was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (AI 7.2022). Experten erwarten, dass die strengen Beschränkungen der Taliban für Frauen, die außerhalb ihres Hauses arbeiten, auch die verheerende wirtschaftliche und humanitäre Krise in Afghanistan verschärfen wird (RFE/RL 3.1.2023).
Viele Frauen arbeiten in der Heimarbeit, was einen weiteren Rückgang der Beschäftigung von Frauen verhindert hat (ILO 7.3.2023; vgl. IOM 22.2.2024). Frauen, die von zu Hause aus arbeiten, z. B. in handwerklichen Berufen, werden von den Taliban oder anderen traditionellen religiösen und lokalen Führern in Afghanistan nicht eingeschränkt (NH 8.6.2023).
Seit Mitte Jänner 2022 werden sukzessive Vertreterinnen der ab August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung, durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023). Berichte über Haftbedingungen, Misshandlungen und sexuellen Übergriffen sind aufgrund der gezielten Einschüchterung der Betroffenen schwer zu verifizieren (AA 26.6.2023). Kabul gilt als wichtiger Ort des zivilen Widerstands gegen die Taliban. Seit der Machtübernahme durch die Taliban verzeichnet ACLED in Kabul mehr Demonstrationen mit Beteiligung von Frauen als irgendwo sonst im Land (ACLED 11.8.2023). Die Taliban-Behörden reagierten auch vermehrt mit Gewalt auf Demonstranten und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vgl. Guardian 2.10.2022, ACLED 11.8.2023). Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vgl. HRW 20.10.2022, Rukhshana 4.8.2022). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022) und Proteste gegen die Schließung von Schönheitssalons im Juli 2023 gewaltsam aufgelöst (RFE/RL 19.7.2023).
Auch im Jahr 2023 wurden Frauenrechtsaktivistinnen durch die Taliban verhaftet (HRW 30.11.2023; vgl. AMU 23.1.2024, KP 25.12.2023).
Bildung für Frauen und Mädchen
Nachdem die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen hatten, verhängten sie ein Verbot der Sekundarschulbildung für Mädchen (USIP 13.4.2023; vgl. AA 26.6.2023). Am 23.3.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen zum ersten Mal nach sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben würden (HRW 12.1.2023; vgl. HRW 20.12.2022). Aktuell sind weiterführende Schulen für Mädchen in sechs von 34 Provinzen teilweise geöffnet, die Mehrheit der Mädchen ist damit vom Zugang zu weiterführenden Schulen ausgeschlossen (AA 26.6.2023), wobei Berichte darauf hindeuten, dass Mädchen in einigen Teilen des Landes den Unterricht in Mädchen-Madrasas besuchen, die vom Taliban-Bildungsministerium beaufsichtigt werden (UNGA 1.12.2023).
Ende Dezember 2022 verkündeten die Taliban schließlich ein Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen (IOM 22.2.2024; vgl. USIP 13.4.2023, FH 1.2023). Der Bildungsminister der Taliban verteidigte die Entscheidung und gab an, dass das Verbot notwendig sei, um eine Vermischung der Geschlechter an den Universitäten zu verhindern, und weil er glaube, dass einige der unterrichteten Fächer gegen die Grundsätze des Islam verstießen. Auch sagte er, dass die Studentinnen die islamischen Vorschriften ignoriert hätten, u. a. über die vorgeschriebene Kleidung, und auf Reisen nicht von einem männlichen Verwandten begleitet worden seien (RFE/RL 22.12.2022: vgl. FR24 22.12.2022). Proteste gegen die Entscheidung der Taliban, den Frauen den Zugang zu Universitäten zu verwehren, wurden mit Gewalt beendet und mehrere Personen wurden festgenommen (RFE/RL 22.12.2022; vgl. BBC 22.12.2022).
Im August 2023 hielten die Taliban afghanische Studentinnen davon ab, das Land zu verlassen, um in Dubai zu studieren. Die Taliban begründeten dies damit, dass die Studentinnen keinen Mahram dabei hatten (BBC 28.8.2023; vgl. VOA 23.8.2023), wobei berichtet wurde, dass auch jene Studentinnen, die einen Mahram dabei hatten, nicht fliegen durften (VOA 23.8.2023). [Anm.: s. Überkapitel für eine Begriffserklärung von "Mahram"].
Damit kann ein afghanisches Mädchen höchstens die 6. Klasse, das letzte Jahr der Grundschule, absolvieren (UNGA 1.12.2023, vgl. UN Women 15.8.2023), abgesehen von den oben genannten Ausnahmen (AA 26.6.2023; vgl. HRW 27.4.2022). Bedenken wachsen, dass die Taliban die Bildung von Mädchen komplett verbieten könnten, da folgend auf das Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen, nun auch über Entlassungen von Lehrerinnen berichtet wird, die Mädchen in den ersten sechs Schuljahren unterrichten (NPR 22.12.2022). Die Taliban teilten in einem Brief des Taliban-Bildungsministers am 8.1.2023 jedoch mit, dass staatliche Mädchenschulen bis einschließlich der 6. Klasse und private Lernzentren für denselben Altersbereich weiterarbeiten sollen, ebenso alle Koranschulen (Madrassas) für Mädchen ohne Altersbeschränkung. Auch wies der Minister die Behörden in Provinzen an, wo solche Einrichtungen geschlossen wurden, diese wieder zu öffnen. Es wird jedoch auch darauf verwiesen, dass Mädchenschulen ab der 6. Klasse "bis auf weiteres" nicht zugelassen sind (Ruttig T. 11.1.2023).
Anders als während der ersten Taliban-Herrschaft, gibt es nicht mehr sehr viele geheime Mädchenschulen, da die Angst entdeckt zu werden, zu groß ist. Manche Schulmädchen versuchten, mithilfe von Radio Azadi, dem afghanischen Ableger des US-Senders Radio Liberty, weiter zu lernen. Zu festen Uhrzeiten gebe es dort zum Beispiel Chemie- und Mathe-Unterricht, nach Klassenstufen unterteilt. Dies ist nach Meinung einer afghanischen Menschenrechtsaktivistin zwar eine Hilfe, jedoch keine Lösung (AI 7.8.2023).
Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsehe
Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein allgegenwärtiges Problem in Afghanistan. Sie ist das Ergebnis komplexer Ungleichheiten und kultureller Praktiken, die in Verbindung mit Armut und mangelndem Bewusstsein dazu führen, dass Frauen den Männern untergeordnet werden und keine Unterstützung erhalten oder selbst aktiv werden können (UNPF 27.12.2021). Seit dem Sommer 2021 werden in Afghanistan, einem Land mit einer der höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen weltweit, viele der grundlegendsten Rechte von Frauen eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Afghanische Frauen haben auch eine deutliche Verschlechterung des Zugangs zu koordinierten, umfassenden und hochwertigen Dienstleistungen für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach diesen Diensten höher als je zuvor (AI 7.2022; vgl. UNAMA 29.12.2022). Zuvor hatten viele Frauen und Mädchen zumindest Zugang zu einem Netz von Unterkünften und Diensten, einschließlich kostenloser Rechtsberatung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung. Das System hatte zwar seine Grenzen, aber es half jedes Jahr Tausenden von Frauen und Mädchen. Diejenigen, die in die Schutzräume kamen, blieben je nach ihren besonderen Bedürfnissen oft monatelang oder jahrelang dort und erhielten eine Ausbildung in beruflichen Fähigkeiten oder andere Möglichkeiten, ein langfristiges Einkommen zu erzielen. In einigen Fällen wurden die Überlebenden auch dabei unterstützt, eine neue Unterkunft zu finden (AI 7.2022).
Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, brach das Netz zur Unterstützung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt - einschließlich rechtlicher Vertretung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung - zusammen (AI 7.2022). Schutzräume für Frauen wurden geschlossen (AA 26.6.2023; vgl. FH 1.2023), und viele wurden von Taliban-Mitgliedern geplündert und in Beschlag genommen (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 26.9.2021). Eine andere Quelle weißt jedoch darauf hin, dass die Taliban keine Schutzräume geschlossen hätten, sondern dass vielmehr das Personal das Land verlassen hätte und es niemanden mehr gibt, der diese Einrichtungen betreuen würde (MaA 29.6.2023). In einigen Fällen belästigten oder bedrohten Taliban-Mitglieder Mitarbeiter. Als die Unterkünfte geschlossen wurden, waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken. Andere waren gezwungen, bei Mitarbeitern der Unterkünfte, auf der Straße oder in anderen schwierigen Situationen zu leben (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 26.9.2021). Eine afghanische Menschenrechtsaktivistin gab an, dass nach der Machtübernahme der Taliban die Betreiber der Frauenhäuser das Land verließen und die Taliban die Frauen in diesen Unterkünften vor die Wahl stellten, entweder zurück zu ihren Familien oder ins Gefängnis zu gehen (MaA 29.6.2023). Nach Angaben einer Menschenrechtsaktivistin aus Afghanistan gibt es in Afghanistan (mit Stand Juli 2023) nur ein Frauenhaus, das von den Taliban sehr genau beobachtet wird und welches von einer NGO betrieben wird (MaA 29.6.2023).
Anfang Dezember 2021 verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan (AP 3.12.2021; vgl. AI 7.2022). In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister ihrer Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären (AP 3.12.2021; vgl. AJ 3.12.2021). Berichten zufolge sind Frauen und Mädchen allerdings einem erhöhten Risiko von Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung ausgesetzt (AA 26.6.2023; vgl. AI 7.8.2023). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch bzw. das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Frauen (AI 7.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 7.2022).
Eine afghanische Menschenrechtsaktivistin schilderte, dass sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen oft auf die Frage der "Ehre" zurückgeführt wird. Während es vor der Machtübernahme möglich war, sich an die Justiz zu wenden, ist dies nun nicht mehr möglich. So würde ein 14-jähriges Mädchen, das von einem männlichen Verwandten missbraucht wurde, durch das Rechtssystem entweder gezwungen werden, den Verwandten zu heiraten, oder beide würden öffentlich bestraft werden (MaA 29.6.2023).
Personen denen vorgeworfen wird, von westlichen Werten beeinflusst zu sein
Berichten zufolge haben die Taliban das Ziel, die afghanische Gesellschaft zu "reinigen" (JS 20.4.2023; vgl. WP 18.2.2023) und "ausländischen" Einfluss aus Afghanistan zu vertreiben (CTC Sentinel 9.8.2022). Die afghanische Gesellschaft soll von allem "gesäubert" werden, was die Taliban als "westliche" Werte ansehen, einschließlich Bildung für Mädchen, Beschäftigung und Bewegungsfreiheit für Frauen sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit (JS 20.4.2023).
Während einer vom Dänischen Flüchtlingsrat (DRC) am 28.11.2022 organisierten Konferenz gab Dr. Liza Schuster, Dozentin für Soziologie an der University of London, an, dass diejenigen, die nach 2021 ausgereist sind, von den Taliban oft als "Verräter" angesehen werden. Einzelne Taliban-Mitglieder erklären in weitverbreiteten Videoaufnahmen, dass es eine Sünde sei, Afghanistan zu verlassen, und diejenigen, die gehen, werden als Sünder bezeichnen. Darüber hinaus erklärte Dr. Schuster, dass die Taliban Profile in den sozialen Medien kontrollieren und Personen deshalb der moralischen Korruption bezichtigt wurden. Familienangehörige von Ausgereisten wurden laut Dr. Schuster auch von Taliban-Beamten und Nachbarn schikaniert, unter anderem durch Vertreibungen und aggressive Verhöre (DRC 28.11.2022; vgl. EUAA 12.2023).
So haben sie in einigen Gegenden Anweisungen gegen das Kürzen von Bärten erlassen und Männern geraten, keine westliche Kleidung zu tragen (RFE/RL 17.6.2022). Obwohl keine allgemeine Kleiderordnung für Männer erlassen wurde (India Today 28.7.2023; vgl. EUAA 12.2023), finden sich auf Social Media Angaben von jungen afghanischen Männern, die von Taliban-Kämpfern geschlagen wurden, weil sie "westliche" Kleidung wie Jeans trugen (WION 27.7.2023). Auch wurde Regierungsangestellten angeordnet, sich einen Bart wachsen zu lassen und eine Kopfbedeckung zu tragen. Es wurde berichtet, dass in bestimmten Fällen gegen jene vorgegangen wurde, die sich nicht an diese Anordnungen gehalten haben (Afintl 1.3.2024; vgl. REU 28.3.2022). Ein Taliban-Beamter rief dazu auf, die Krawatte nicht mehr zu tragen, da sie ein Symbol für das christliche Kreuz sei (BAMF 31.12.2023; vgl. AT 26.7.2023), wobei die Taliban bereits im Jahr 2022 Studenten und Lehrende dazu aufriefen, keine Krawatten zu tragen (TN 15.4.2022).
Im Februar 2024 hielt ein hochrangiger Taliban Medienschaffende in Afghanistan dazu an, auf das Rasieren von Bärten und das Fotografieren zu verzichten. Er sagte weiter, dass der Bartwuchs im Islam obligatorisch sei und dass es eine große Sünde sei, ihn zu rasieren (KaN 21.2.2024; vgl. KP 21.2.2024). Zuvor hatte der Gouverneur der Taliban in Kandahar kürzlich eine schriftliche Anweisung an alle Institutionen und Behörden der Taliban in dieser Provinz herausgegeben, die das Fotografieren von formellen und informellen Treffen und Zeremonien verbietet (KP 21.2.2024; vgl. WION 19.2.2024). Im März 2024 gab ein Sprecher des Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern an, dass "dünne Kleidung" im Widerspruch zur Scharia und der afghanischen Kultur stehen würde, und forderte Händler auf, auf die Einfuhr solcher Kleidung zu verzichten (Afintl 1.3.2024).
Es gibt jedoch auch Berichte über Menschen, die in Kabul in bestimmten Teilen der Stadt T-Shirts und westliche Kleidung mit US-Motiven trugen (NYT 29.6.2023; vgl. SIGA 25.7.2023). Es wird auch darauf hingewiesen, dass man sich in Afghanistan praktisch alles kaufen kann, wenn man das Geld dazu hat (SIGA 25.7.2023). Außerdem berichtete die New York Times über Fast-Food-Restaurants und Bodybuilding-Fitnessstudios, die es in Kabul-Stadt gibt. Die Autoren erklären sich diese Dissonanz damit, dass in Kabul gemäßigtere Beamte tätig sind, als in der Kernzone der Taliban in Kandahar (NYT 29.6.2023).
Während einigen Quellen zufolge Musik in Afghanistan verboten ist (KP 6.2.2024; vgl. UNGA 9.9.2022), berichten andere, dass das Spielen von Musik in der Öffentlichkeit verboten sei (BBC 31.7.2023) und dass Taliban Veranstaltungen, bei denen Musik gespielt wird, unterbrechen und Menschen wegen des Spielens von Musik verhaften (Rukhshana 22.7.2022; vgl. KP 6.2.2024), während in einigen Lokalen in Kabul weiterhin Musik gespielt wird (SIGA 25.7.2023; vgl. NYT 29.6.2023). In Kandahar wurde durch das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern das Spielen und Hören von Musik in der ganzen Stadt verboten (8am 27.6.2023) und in Kabul forderten die Taliban Besitzer von Hochzeitssälen auf, keine Musik zu spielen (RFE/RL 12.6.2023). Berichten zufolge konfiszieren Taliban Musikinstrumente und verbrennen sie öffentlich (DW 31.7.2023; vgl. RFE/RL 18.8.2023) und gehen auch gegen Personen vor, die Musik in Privatfahrzeugen oder auf Telefonen abspielen (Afintl 31.7.2023).
UNHCR-Position zum internationalen Schutzbedarf von Menschen, die aus Afghanistan fliehen (aktuelle Situation; Mangel an umfassenden Informationen; Frauen und Mädchen; andere Profile; staatlicher Schutz; interne Schutzalternative; Ausgrenzung) Februar 2023
Einleitung
1. Diese Leitlinien ersetzen die Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022. 1
2. Die afghanische Zivilbevölkerung ist weiterhin schwerwiegend von der Sicherheits-, Menschenrechts und humanitären Krise im Land betroffen. Bis zum Ende des Jahres 2022 wurde über eine Intensivierung der Aktivitäten von bewaffneten Oppositionsgruppen berichtet, wobei die UN Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 22 bewaffnete Gruppierungen verzeichnete, die nach eigenen Angaben in 11 der insgesamt 34 afghanischen Provinzen agierten. Zwischen dem 17. August und dem 13. November 2022 verzeichneten die Vereinten Nationen 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2021. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen waren Kabul, Herat und Kandahar. Insgesamt wurden 530 zivile Opfer verzeichnet (124 getötete und 406 verwundete Zivilpersonen).
3. Die De-facto-Behörden der Taliban haben Berichten zufolge schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen, darunter extralegale Tötungen, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Folter und andere Formen von Misshandlungen. Zusätzlich haben die De-facto Behörden der afghanischen Bevölkerung Einschränkungen ihrer Rechte auf Meinungs-, Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit auferlegt, welche die internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen Afghanistans verletzen. Die zunehmende Beschneidung der Menschenrechte von afghanischen Frauen und Mädchen durch die De-facto-Behörden wurde weitreichend verurteilt.
4. Afghanistan begegnet signifikanten ökonomischen Herausforderungen und einer schwerwiegenden humanitären Krise. Nach Schätzungen der Weltbank ist die afghanische Wirtschaft in den Jahren 2021 bis 2022 um insgesamt 30-35% geschrumpft. Während die Weltbank für den Zeitraum 2023-2024 ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes um 2-2,4% prognostiziert, warnt sie zugleich, dass dies angesichts des hohen Bevölkerungswachstums nicht zu einer Verbesserung des Pro-Kopf Einkommens führen wird. Über 90% der afghanischen Bevölkerung leiden Schätzungen zufolge unter Nahrungsunsicherheit, wobei 19,9 Mio. Afghaninnen und Afghanen unter akuter Nahrungsunsicherheit leiden. Im Oktober 2022 berichtete UNDP, dass nun fast die gesamte afghanische Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.
5. Mit Stand 30. Juni 2022 waren konfliktbedingt ungefähr 3,4 Mio. Afghaninnen und Afghanen innerhalb des Landes vertrieben, während es schätzungsweise im Jahr 2022 32.424 neue Binnenvertriebene gab. Ebenfalls mit Stand 30. Juni 2022 betrug die Zahl der afghanischen Flüchtlinge weltweit ca. 2,84 Mio. Eine geschätzte Zahl von 232.306 Binnenvertriebenen kehrte im Jahr 2022 in ihre Heimatorte zurück, während 6.424 afghanische Flüchtlinge im Jahr 2022 freiwillig nach Afghanistan zurückkehrten.
Internationaler Schutzbedarf
6. UNHCR ruft weiterhin alle Staaten dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren, das Recht, Asyl zu suchen, zu garantieren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR ruft die Staaten dazu auf, Ankommende, die internationalen Schutz suchen, zu registrieren und allen Betroffenen Nachweise über ihre Registrierung auszustellen
7. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht sowie anderen relevanten rechtlichen Standards behandelt werden.
8. Die noch nie dagewesene humanitäre Krise in Afghanistan, darf nicht über die Situation weitverbreiteter Bedrohungen von Menschenrechten hinwegtäuschen. Personen, die aus Afghanistan fliehen, werden möglichweise zunächst ihre dringendsten Überlebensbedürfnisse als Fluchtgrund benennen. Dies sollte einer gründlichen Prüfung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender jedoch nicht entgegenstehen. Unter Verweis auf die geteilte Beweislast ruft UNHCR Entscheidungsträgerinnen und -träger dazu auf, sicherzustellen, dass Asylsuchende die Möglichkeit erhalten, ihre Fluchtgründe vollständig und vollumfänglich vorzutragen, einschließlich einer möglichen Furcht vor Verfolgung im Falle der Rückkehr.
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Weitere Profile mit einem seit dem 15. August 2021 erhöhten Schutzbedarf
16. Basierend auf verfügbaren Berichten über weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, darunter Berichte, die UNHCR im Rahmen seines breiten Monitoring-Programms von auf der Flucht und bereits im Ausland befindlichen Afghaninnen und Afghanen erhalten hat, werden viele Afghaninnen und Afghanen einen internationalen Schutzbedarf haben. Wie in den untenstehenden Absätzen 20-25 beschrieben, unterliegt die Informationsbeschaffung in Afghanistan ernsthaften Einschränkungen, die es schwierig machen, ein umfassendes Verständnis für die Behandlung von Afghaninnen und Afghanen mit verschiedenen Profilen in ganz Afghanistan zu erlangen. UNHCR ist jedoch besorgt über einen Anstieg des Bedarfes an internationalem Flüchtlingsschutz für aus Afghanistan fliehende Personen seit der Machtübernahme durch die Taliban
Neben der oben beschriebenen Situation von Frauen und Mädchen, zählen zu den Profilen mit einem seit dem 15. August 2021 erhöhten Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz:
(i) Afghaninnen und Afghanen, die mit der ehemaligen Regierung oder der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan verbunden sind, einschließlich frühere Mitarbeitende von Botschaften und Angestellte internationaler Organisationen;
(ii) ehemalige Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte und Afghaninnen und Afghanen, die mit den ehemaligen internationalen Streitkräften in Afghanistan verbunden sind;
(iii) Journalistinnen und Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen; Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und Aktivistinnen und Aktivisten, sowie sie unterstützende Verteidigerinnen und Verteidiger;
(iv) Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten, einschließlich Hazaras;
(v) Afghaninnen und Afghanen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, geschlechtlichen Identitäten und/oder Ausdrucksweisen.
Diese Liste erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Aufzählung aller Afghaninnen und Afghanen zu enthalten, die möglicherweise eine begründete Furcht vor Verfolgung haben. Jeder Antrag auf internationalen Schutz sollte unter Berücksichtigung der von den Antragstellenden vorgebrachten Beweismittel, sowie der verfügbaren und relevanten Herkunftslandinformationen inhaltlich geprüft werden. UNHCR merkt an, dass Familienangehörige und andere Personen, die mit von Verfolgung Bedrohten eng verbunden sind, häufig einem eigenen Risiko ausgesetzt sind.
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Einschränkungen bei der Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs
20. Seit der Machtübernahme des Landes herrschen die De-facto-Behörden mit Dekreten und verdrängen so den parlamentarischen Prozess.46 Bis heute ist diese Regierungsführung von Ungewissheit, Willkür und einer Missachtung von Rechtsstaatlichkeit geprägt Die De-facto-Behörden sind dabei, den Rechtsrahmen und das Justizsystem Afghanistans auf die Scharia umzustellen. Im Dezember 2022 berichtete der UN-Generalsekretär, dass die De-facto-Behörden bisher nicht auf anhaltende Unklarheiten in Bezug auf die Rahmenbedingungen des politischen und rechtlichen Systems eingegangen seien und dass keine Schritte unternommen worden seien, die Rollenverteilung bei Entscheidungsprozessen innerhalb der De-facto-Behörden formal zu definieren, die nach der eigenen Aussage der Taliban auch weiterhin nur übergangsweise agieren. Der UN-Generalsekretär äußerte seine Besorgnis über die vorherrschende Unklarheit in Bezug auf anwendbare Gesetze. Im Oktober 2022 erklärte der Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, dass die Bemühungen um die Ausarbeitung einer neuen Verfassung im Gange seien. Im November 2022 machte der Oberste Führer der Taliban die Bestrafung nach dem Scharia-Recht, einschließlich öffentlicher Hinrichtungen und körperlicher Strafen, obligatorisch.
21. Die gegenwärtige Situation in Afghanistan stellt das Sammeln umfassender Informationen über die Menschenrechtslage in verschiedenen Landesteilen vor eine Reihe von Hindernissen. Zu diesen Hindernissen gehören die Einschränkungen der Medien in Afghanistan sowie der Zivilgesellschaft und von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern. Der UN-Sonderberichterstatter zur Menschenrechtslage in Afghanistan erklärte im September 2022, dass seit dem 15. August 2021 der Zugang zu Informationen immer schwieriger geworden und die journalistische Unabhängigkeit und Meinungsfreiheit erheblich eingeschränkt worden sei. Der Sonderberichterstatter erklärte, dass fehlende Einkünfte und die Einstellung ausländischer Finanzierung, eingeschränkter Zugang zu Informationen, Selbstzensur, sowie ständiger Druck und Warnungen der De-facto-Behörden zur Schließung von Medienunternehmen oder Reduzierung der Medienaktivitäten beigetragen hätten. Einige Journalistinnen und Journalisten hätten außerdem ihre Arbeit eingestellt oder seien untergetaucht, nachdem sie von der Generaldirektion für Geheimdienste ernsthaft mit dem Leben bedroht worden. Besonders betroffen seien Journalistinnen und Journalisten, sowie Medienunternehmen außerhalb der städtischen Ballungszentren. In mindestens vier Provinzen gebe es keine lokalen Medien und in 15 Provinzen hätten zwischen 40 und 80% der Medienunternehmen geschlossen.
22. Im Mai 2022 lösten die De-facto-Behörden die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC), die Unabhängige Kommission zur Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Afghanische Unabhängige Anwaltskammer auf. Die AIHRC veröffentlichte im August 2022 dennoch einen Bericht über die Menschenrechtssituation in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban, betonte jedoch, dass der Bericht keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit erhebe, da dutzende fortbestehender Menschenrechtsverletzungen aufgrund fehlender Möglichkeiten zur Menschenrechtsbeobachtung nicht erwähnt worden seien. Ebenso kommentierte UNAMA in seinem Bericht vom Juli 2022, dass der eigene UNAMA-Menschenrechtsdienst nicht den Anspruch erhebe, dass die in diesem Bericht präsentierten Daten – weder zu Menschenrechtsverletzungen noch zu zivilen Opfern – vollständig seien. UNAMA erkenne an, dass diese Art von Fällen auf Grund der momentanen Lage möglicherweise nicht konsequent gemeldet würden.
23. Der Protection Cluster in Afghanistan hat weitreichende Herausforderungen bei der Überwachung von Menschenrechten im Land identifiziert. Im November 2022 erklärte der Cluster, dass das Sammeln und Speichern von Daten zu Menschenrechtsverletzungen von besonderer Besorgnis sei und sowohl Betroffene als auch Dienstleistende in Gefahr bringen könne. Der Cluster berichtete, dass die Beobachtung der Menschenrechtssituation von Frauen und Mädchen in Afghanistan, auch in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt, aufgrund der Einschränkungen, welche die De-facto-Behörden weiblichem Personal auferlegt haben, besonders schwierig geworden ist.
24. Angesichts der Hindernisse bei der Informationsbeschaffung und Berichterstattung über Afghanistan fordert UNHCR die Entscheidungsträgerinnen und -träger über Asylanträge afghanischer Staatsangehöriger auf, keine nachteiligen Schlussfolgerungen aus dem Fehlen verifizierter Herkunftslandinformationen zu schließen, die der Unterstützung und Untermauerung der vorgelegten Beweise durch die Antragstellenden dienen. In der aktuellen Lage in Afghanistan wird es regelmäßig der Fall sein, dass Menschenrechtsverletzungen und -verstöße häufig nicht berichtet und dokumentiert werden. Das Fehlen von Herkunftslandinformationen, die bestimmte Vorfälle oder Muster von Menschenrechtsverletzungen und Missbrauch beschreiben, sollte daher an sich kein Grund sein, an der Glaubhaftigkeit der Antragstellenden zu zweifeln, wenn deren Aussagen ansonsten kohärent und schlüssig sind.
25. Darüber hinaus appelliert UNHCR an die Entscheidungsträgerinnen und -träger, der Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit, die den von den De-facto-Behörden angenommenen Modalitäten für den Erlass von Dekreten innewohnt, sowie den anhaltenden Ungewissheiten hinsichtlich der Anwendbarkeit des früheren afghanischen Rechtsrahmens, das nötige Gewicht beizumessen. UNHCR vertritt die Ansicht, dass diese Umstände die Beurteilung eines künftigen Verfolgungsrisikos auf der Grundlage der derzeit verfügbaren Informationen zur Menschenrechtslage in Afghanistan besonders erschweren, insbesondere wenn es darum geht, mit der notwendigen Sicherheit abzuschätzen, ob afghanische Asylsuchende im Falle einer Rückkehr einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt wären.
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Empfehlung eines Abschiebestopps
31. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der weitreichenden humanitären Notlage im Land, fordert UNHCR die Staaten weiterhin dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichem Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Die Aussetzung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
32. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, da Länder wie der Iran und Pakistan derzeit beträchtliche Zahlen an Afghaninnen und Afghanen beherbergen und jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.
33. UNHCR erkennt das individuelle Menschenrecht an, in das eigene Herkunftsland zurückzukehren. Jede von UNHCR erbrachte Hilfeleistung von Flüchtlingen bei der Rückkehr nach Afghanistan hat das Ziel, Personen zu unterstützen, die bei vollumfänglicher Information über die Situation in ihren Herkunftsorten oder anderen Orten ihrer Wahl die Entscheidung für eine freiwillige Rückkehr getroffen haben. Alle Aktivitäten von UNHCR bei der Unterstützung freiwilliger Rückkehr nach Afghanistan, einschließlich Bemühungen für eine nachhaltige Reintegration von Rückkehrenden und Binnenvertriebenen in Afghanistan, sollten im Hinblick auf solche Personen, die in den Aufnahmeländern internationalen Schutz beantragt haben, nicht als eine Einschätzung von UNHCR bezüglich der Sicherheitslage und sonstigen Situation in Afghanistan betrachtet werden. Bei freiwilliger Rückkehr und zwangsweisen Rückführungen handelt es sich um Verfahren von grundsätzlich unterschiedlichem Charakter, die unterschiedliche Verantwortlichkeiten verschiedener Akteure nach sich ziehen.
EUAA-Leitfaden zu Afghanistan vom Mai 2024:
3.15. Frauen und Mädchen:
a. Einschränkungen der Rechte und Freiheiten unter den Taliban
Die aktive Teilnahme von Frauen am politischen und wirtschaftlichen Leben und ihr Beitrag zur afghanischen Gesellschaft wurden im Vergleich zu ihrer Situation unter der früheren Regierung stark eingeschränkt. Seit ihrer Machtübernahme haben die De-facto-Behörden wiederholt ihre Verpflichtung zum Ausdruck gebracht, die Rechte von Frauen und Mädchen im Rahmen der Scharia zu respektieren. Am 3. Dezember 2021 erließen die Taliban ein Dekret zu Frauenrechten, das Zwangsheirat verbot (obwohl das Mindestheiratsalter nicht geregelt war), erklärte, dass Frauen nicht als „Eigentum“ betrachtet werden sollten, und Witwen Erbrechte einräumte. Dieses Dekret bezog sich jedoch nicht auf umfassendere Frauen- und Mädchenrechte. Darüber hinaus wurden von den Taliban mehrere Erlasse, Dekrete und Erklärungen erlassen, die die Bewegungs-, Meinungs- und Verhaltensfreiheit von Frauen und Mädchen sowie ihren Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung, Justiz und Sozialschutz zunehmend einschränkten.
Im Juni 2023 berichteten die Vereinten Nationen, dass die Frauen und Mädchen in Afghanistan mit „groß angelegten“ und „systematischen“ Menschenrechtsverletzungen konfrontiert seien und dass diese Verletzungen mit „harten Durchsetzungsmethoden“ durchgeführt würden. Die Taliban haben eine Politik umgesetzt, die größtenteils „diskriminierend“ und „frauenfeindlich“ war und „Geschlechtsverfolgung und einen institutionalisierten Rahmen der Geschlechterapartheid“ durchsetzt.
Bewegungsfreiheit und Geschlechtertrennung
Ende Dezember 2021 hat der MPVPV eine neue Richtlinie für Transportunternehmen im ganzen Land herausgegeben, die es Frauen verbietet, lange Strecken (mehr als 72 Kilometer) zurückzulegen, es sei denn, sie werden von einem männlichen Verwandten begleitet. Es wurden weitere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen auf Provinzebene gemeldet. In einigen Provinzen wurden Frauen, die sich ohne Mahram im öffentlichen Raum bewegten, von den Taliban-Behörden festgenommen. Seit März 2022 dürfen Frauen nur noch mit einem Mahram und dem „richtigen Hijab“ an Bord von lokalen oder internationalen Flügen gehen. Darüber hinaus war es Frauen und Mädchen verboten, öffentliche Bereiche wie Parks, Fitnessstudios und öffentliche Bäder zu betreten. Sowie den Band-e-Amir-Nationalpark in der Provinz Bamyan wurde in diese Einschränkung einbezogen [Country Focus 2023, 4.4.3., S. 74-75; Targeting 2022, 5.2.3., S. 112-113].
Nach Angaben der Vereinten Nationen kommt es häufig zu Belästigungen und diese Beschränkungen werden insbesondere an Kontrollpunkten strenger durchgesetzt. Wenn Frauen alleine oder in der Öffentlichkeit reisen, werden sie befragt und die männlichen Begleiter werden aufgefordert, Ausweisdokumente oder Heiratsurkunden als Beweis für ihre Beziehung vorzulegen. Berichten zufolge wurde das Gesetz, das es afghanischen Frauen verbietet, das Land ohne Mahram zu verlassen, in den letzten Monaten aggressiv durchgesetzt. Eine Quelle berichtete jedoch, dass sich nicht alle Frauen an die Regel halten, einen Mahram als Begleitung zu haben. Beispielsweise wurde das Reiseverbot für Frauen im Inland in Kabul und auf den Strecken nach Logar und Bamyan sowie in Richtung Mazar-e Sharif uneinheitlich angewendet. Dieselbe Quelle gab auch an, dass die Regelung, die es afghanischen Frauen verbietet, ohne Mahram ins Ausland zu reisen, in den letzten Monaten sehr streng durchgesetzt wurde, während sie in den Jahren 2021 und 2022 laxer war und Fälle gemeldet wurden, in denen Frauen das Reisen verboten wurde im Ausland [Länderfokus 2023, 4.4.3., S. 75].
Dress Code
Am 7. Mai 2022 kündigte der Taliban-MPVPV ein neues Dekret an, das Frauen anweist, das Haus nicht ohne „wirkliche Notwendigkeit“ zu verlassen und, wenn sie es doch tun, eine strenge Kleiderordnung einzuhalten. Das Ministerium erklärte, dass Frauen sich von Kopf bis Fuß bedecken müssen, und schlug die Burka als „den guten und vollständigen Hijab“ vor, der bevorzugt wird, um Haare, Gesicht und Körper einer Frau zu bedecken. Allerdings war die Burka nicht als Pflicht vorgeschrieben, solange Frauen sich mit einem Hijab oder einem Kleidungsstück bedeckten, das die Umrisse ihres Körpers verdeckte. Der männliche Vormund einer Frau war gesetzlich dafür verantwortlich, auf ihre Kleidung zu achten. Berichten zufolge war die Einhaltung der neuen Verordnung durch Frauen in den Straßen der Stadt Kabul unterschiedlich und Frauen mit unbedeckten Gesichtern waren immer noch ein alltäglicher Anblick. In Stadtgebieten wie Dasht-e Barchi, in denen überwiegend die Hazara-Minderheit lebt, bedeckten Berichten zufolge nur wenige Frauen ihr Gesicht, während im paschtunischen Viertel Kart-e Naw die meisten Frauen ihr Gesicht mit einem Hijab oder einem Kopftuch bedeckten. Mitte Mai 2022 erklärte der Innenminister der Taliban, dass „Frauen nicht gezwungen, sondern dazu geraten werden, den Hijab zu tragen“. Die Auswirkungen der neuen Regulierung der Taliban waren landesweit unterschiedlich [Targeting 2022, 5.2.5., S. 120-123].
Im März 2022 erließ das Taliban-Gesundheitsministerium Berichten zufolge die Anweisung, dass Patientinnen ohne Kopftuch die medizinische Versorgung verweigert werden sollte. Fahrzeugführer wurden außerdem angewiesen, weibliche Passagiere nicht ohne Kopftuch mitzunehmen, das ihre Haare bedeckte. [Targeting 2022, 1.3.2., S. 43-44; 5.2.5., S. 122]. In Mazar-e Sharif wurde den Ladenbesitzern befohlen, nicht an Frauen ohne Hijab zu verkaufen [COI Update 2022, 2., S. 3].
Es sind häufige Vorfälle dokumentiert, bei denen Frauen an Kontrollpunkten belästigt oder körperlich angegriffen wurden, weil sie keinen Hijab trugen. Berichten zufolge kleiden sich einige Frauen in städtischen Gebieten weiterhin in ihrem bevorzugten Stil und drücken sich aus. Eine Quelle berichtete jedoch, dass Frauen beim Besuch von Regierungsgebäuden von einem Mahram begleitet werden, sich an die Richtlinien der Taliban halten und eine „richtige“ Kleidung tragen müssen [Country Focus 2023, 4.4.1., S. 73].
UNAMA äußerte sich besorgt über „die jüngsten willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen von Frauen und Mädchen durch die afghanischen De-facto-Behörden wegen angeblicher Nichteinhaltung der islamischen Kleiderordnung“, im Anschluss an „eine Reihe von Kampagnen zur Durchsetzung des Hijab-Dekrets“, die sich gegen Frauen und Mädchen in der Stadt Kabul richteten und Nili City in der Provinz Daykundi. Berichten zufolge wurden im Januar 2024 in Kabul mehrere Frauen verhaftet, weil sie keinen richtigen Hijab trugen. Es gab auch Berichte über Festnahmen in den Provinzen Daikundi, Balkh, Herat, Kunduz, Takhar, Bamyan und Ghazni. Berichten zufolge hatten Augenzeugen auch gesehen, wie Frauen und Mädchen verhaftet wurden, obwohl sie einen Hijab trugen [COI Update 2024, 2., S. 2-3].
Ausschluss von der Arbeit und dem öffentlichen Leben
Bereits vor der Machtübernahme waren Frauen, die außerhalb des Hauses arbeiteten, häufig mit sexueller Belästigung und Missbrauch am Arbeitsplatz konfrontiert und konnten von der Gesellschaft als Verstöße gegen die Moralkodizes, als Schande für die Familie (z. B. Frauen in der Strafverfolgung) und als Nichtmenschen betrachtet werden -Afghanisch oder westlich (z. B. Frauen im Journalismus). Frauen in öffentlichen Positionen waren Einschüchterungen, Drohungen, Gewalt oder Tötungen ausgesetzt [Targeting 2022, 5.1.3., S. 88-89].
Seit dem 15. August 2021 sind afghanische Frauen weitgehend vom politischen Leben und der allgemeinen Arbeitswelt ausgeschlossen [Targeting 2022, 5.2.2., S. 105].
Im Gegensatz zu den 1990er Jahren haben die De-facto-Behörden davon abgesehen, Frauen eine Erwerbstätigkeit gänzlich zu verbieten. Dennoch hatten ihre Einschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten von Frauen erhebliche Auswirkungen auf die weibliche Erwerbsbevölkerung. Die Weltbank schätzte im Jahr 2022, dass fast die Hälfte der afghanischen Frauen, die beschäftigt waren, seit der Machtübernahme durch die Taliban ihren Job verloren hatten [Country Focus 2023, 4.4.5., S. 77]
Es gab keine Frauen im Kabinett der Taliban oder in anderen wichtigen De-facto-Regierungspositionen. Viele der Frauen, die vor der Machtübernahme öffentliche Ämter bekleidet hatten, hielten sich versteckt. Einige von ihnen wurden nicht nur von den Taliban, sondern auch von anderen Mitgliedern der Gesellschaft bedroht [Targeting 2022, 5.1.3., S. 88]. Die Taliban kündigten keine einheitliche Politik für den Zugang von Frauen zur Beschäftigung an und die Rechte und Arbeitsbedingungen von Frauen blieben ungewiss. Die De-facto-Behörden bekräftigten wiederholt ihre Verpflichtung, das Recht der Frauen auf Zugang zur Beschäftigung im Rahmen der Scharia aufrechtzuerhalten. Allerdings haben sie seit ihrer Übernahme mehrere Beschränkungen angekündigt, die den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt behinderten. Es gab Unterschiede in den Provinzen: In einigen Provinzen wurden Frauen von Taliban-Kämpfern auf der Straße davon abgehalten, zur Arbeit zu gehen, und in anderen waren Frauen immer noch in de facto Regierungsjobs tätig. Im März 2022 erließ die MPVPV der Taliban nationale Richtlinien, die die Geschlechtertrennung in den Ministerien der Taliban-Regierung anordneten und es weiblichen Mitarbeitern untersagten, ihr Büro zu betreten, ohne einen Hijab zu tragen. Auch in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen wurde die Geschlechtertrennung zwischen Männern und Frauen durchgesetzt [Targeting 2022, 1.3.2., S. 43-45; 5.2.1., S. 99-100, 104-105; 5.2.2., S. 105-106; 5.2.3., S. 111-115].
Ungefähr 4.000 Frauen, die unter der früheren Regierung im afghanischen Militär gedient hatten, sind jetzt arbeitslos. Anwältinnen und Richterinnen wurde die Ausübung ihrer Tätigkeit vollständig untersagt. Berichten zufolge sind viele Richterinnen aufgrund der Drohungen freigelassener Gefangener untergetaucht oder aus Afghanistan geflohen. Journalistinnen wurden aus staatlichen Medienunternehmen verbannt, und diejenigen, die in privaten Medien arbeiten, müssen mit Einschränkungen rechnen.
Beispielsweise müssen sie im Fernsehen ihr Gesicht verdecken und in nach Geschlechtern getrennten Büros arbeiten. Schätzungen zufolge haben 80 % der Journalistinnen seit der Machtübernahme durch die Taliban ihren Job verloren [Länderfokus 2023, 4.4.5., S. 77-78]
.Frauen, die im öffentlichen Sektor arbeiteten, wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben und wurden von der Arbeit in den meisten Regierungsbehörden ausgeschlossen. Einige arbeiten jedoch weiterhin in den De-facto-Ministerien für öffentliche Gesundheit, Inneres und Bildung sowie auf Flughäfen und im Sicherheitsbereich. Im Dezember 2022 war es Frauen verboten, für inländische und internationale NGOs zu arbeiten, und am 5. April 2023 verbot die De-facto-Behörde afghanischen Frauen die Arbeit für die Vereinten Nationen auf nationaler Ebene. Nach Angaben der UN wurde den meisten ausländischen Botschaften auch mitgeteilt, dass afghanische Frauen nicht mehr in ihren Büros arbeiten dürften. Mehrere NGOs behaupteten, dass Frauen, die in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Ernährung beschäftigt seien, von diesem Verbot ausgenommen seien, dies wurde jedoch von den De-facto-Behörden nicht offiziell erklärt [Country Focus 2023, 4.4.5., S. 78].
Die Taliban haben Unternehmerinnen eher unterstützt, was eine Ausnahme vom allgemeinen Frauenverbot darstellt. Es gab Gipfeltreffen zum weiblichen Unternehmertum, und die Taliban unterstützten sie häufig mit dem Argument, dass sie Frauen gegenüber nicht so restriktiv seien, wie in den Medien dargestellt. Es gibt jedoch Berichte, dass auch Frauen, die in der Privatwirtschaft arbeiten, Einschränkungen unterliegen. Berichten zufolge weigerten sich Lieferanten beispielsweise, an sie zu verkaufen, und sie wurden aufgefordert, in einem geschlechtergetrennten Umfeld zu arbeiten. Als im Juli 2023 Schönheitssalons schlossen, verloren etwa 60.000 Frauen ihren Arbeitsplatz. Laut UNAMA trafen Taliban-Beamte auf Salons mit „harten Reaktionen“, die über diese Frist hinaus geöffnet waren [Country Focus 2023, 4.4.5., S. 78-79].
Die Position und Politik der Taliban gegenüber Frauen in der afghanischen Gesellschaft sei „schwer fassbar und verwirrend“, da Entscheidungen oft auf Provinzebene getroffen würden. Dies führte bei den Taliban-Kämpfern zu Verwirrung darüber, wie Befehle in der Praxis durchgesetzt werden sollten, was zu einer willkürlichen Umsetzung führte. Mangelnde Beschäftigungsaussichten haben dazu geführt, dass immer mehr Frauen in den Großstädten durch die Straßen schlendern, Karren schieben und Second-Hand-Waren oder einfache Lebensmittel verkaufen [Country Focus 2023, 4.4.5., S. 79; Targeting 2022, 5.2., S. 97-98].
Zugang zur Gesundheitsversorgung
Frauen mit komplexeren Gesundheitsbedürfnissen, wie zum Beispiel schwangere Frauen, sind Berichten zufolge mit großen Problemen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert, darunter Angst und Unsicherheit, Mobilitätseinschränkungen aufgrund der Notwendigkeit, in der Öffentlichkeit von einem Mahram begleitet zu werden, oder der Notwendigkeit, zu reisen lange Entfernungen zur Gesundheitsversorgung. Berichten zufolge durften auch weibliche Patienten nur von weiblichen medizinischen Fachkräften betreut werden. Den Frauen mangelte es an ausreichenden sicheren Transportmitteln, es mangelte an geschultem weiblichem Personal und an spezialisiertem medizinischem Personal wie Hebammen [Country Focus 2023, 3.5., S. 44]. Aufgrund eines „angespannten Gesundheitssystems, der Wirtschaftskrise, der Bewegungseinschränkungen und der Beschränkungen, die männlichen Gesundheitsfachkräften bei der Behandlung von Frauen und Mädchen auferlegt wurden“, hatten Frauen und Mädchen Schwierigkeiten beim Zugang zu kritischer und grundlegender Gesundheitsversorgung. Berichten zufolge war es Frauen beispielsweise aufgrund der damit verbundenen Kosten oder fehlender Ressourcen nicht möglich, in Kliniken zu entbinden [Country Focus 2023, 4.4.6., S. 79; KSEI 2022, 6.3., S. 49].
Der Zugang zu Dienstleistungen kann für Frauen schwieriger sein, die ethnischen und religiösen Minderheiten wie den schiitischen Hazara angehören, für Frauen mit Behinderungen, für Frauen, die in Armut leben, in ländlichen Gebieten leben oder keine männlichen Familienmitglieder haben [Country Focus 2023, 4.4. 6., S. 79].
Im März 2022 ordnete die Taliban-MPVPV Gesundheitseinrichtungen an, Patientinnen ohne Hijab medizinische Hilfe zu verweigern [Targeting 2022, 5.2.5., S. 120]. In einem Artikel wurden Gesundheitspersonal aus dem Distrikt Ghazni zitiert, in dem ein Vorfall beschrieben wurde, bei dem zwei unbegleitete Frauen Berichten zufolge von den Taliban aus einer Klinik vertrieben wurden. Bei einem anderen Vorfall wurde Berichten zufolge eine Hebamme festgenommen, und das medizinische Personal der Klinik wurde strafrechtlich verfolgt, weil es eine alleinstehende Frau bei der Geburt betreut hatte. Berichten zufolge bestritten die Taliban, dass solche Vorfälle stattgefunden hätten [Targeting 2022, 1.3.3., S. 48; 5.1.6., S. 95; 5.2.3., S. 113]
Laut einer Forschungsstudie vom Juni 2023 waren Beschäftigte im Gesundheitswesen in ländlichen, halbländlichen und städtischen Gebieten in allen Provinzen mit erschwerten Arbeitsbedingungen sowie einer begrenzten Verfügbarkeit hochwertiger Pflege konfrontiert. Als Hauptprobleme wurden der Mangel an qualifiziertem und qualifiziertem Personal, ein Mangel an medizinischer Versorgung und die Schikanierung sowohl des Personals als auch der pflegesuchenden Frauen durch die Taliban genannt. Die Gesundheitsversorgung, insbesondere für Mütter und Kinder, hat sich verschlechtert. Berichten zufolge gab es in einigen Gesundheitseinrichtungen keine professionellen Hebammen. Obwohl keine aktuellen Daten verfügbar waren, berichteten Quellen, dass die Sterblichkeitszahlen sowohl von Müttern als auch von Säuglingen gestiegen seien [Country Focus 2023, 3.5., S. 54].
Zugang zur Bildung
Ende August 2021 wurden die Grundschulen für Jungen und Mädchen wiedereröffnet. Im Februar 2022 kündigte das Bildungsministerium der Taliban einen neuen Plan für die Grundschulbildung an. Jungen und Mädchen in den Klassen 1 bis 6 wurden angewiesen, dem Unterricht getrennt zu folgen, mit männlichen Lehrern für Jungen und weiblichen Lehrern für Mädchen und zu unterschiedlichen Zeiten. Mitte September 2021 kündigten die Taliban-Behörden an, dass die Sekundarschulbildung (über Klasse 6) für Jungen wieder aufgenommen werde. Der Zugang zur weiterführenden Bildung für Mädchen wurde in dieser Ankündigung nicht erwähnt. In einigen Fällen konnten im Schuljahr 2021–2022 in mindestens 13 Provinzen weiterführende Schulen für Mädchen eröffnet werden. Berichten zufolge durften private weiterführende Schulen in allen Provinzen Bildung für Mädchen anbieten, viele Schulen wurden jedoch geschlossen, weil die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffenen Familien nicht über die nötigen Mittel verfügten und das Schulgeld nicht zahlen konnten. Allerdings gaben Quellen an, dass inzwischen in allen Provinzen die meisten weiterführenden Schulen geschlossen wurden, darunter auch private weiterführende Schulen. [Country Focus 2023, 4.4.4., S. 75-76; Targeting 2022, 5.2.1., S. 99-100]
Im Februar und März 2022, in den Wochen und Tagen vor Beginn des neuen Schuljahres, forderte das Bildungsministerium der Taliban mehrfach die Wiedereröffnung aller Schulen, sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Am 23. März 2022 gaben die Taliban jedoch die abrupte Entscheidung bekannt, alle weiterführenden Schulen für Mädchen geschlossen zu halten, wovon Berichten zufolge schätzungsweise 1,1 Millionen afghanische Mädchen im ganzen Land betroffen seien. Die Taliban kündigten offiziell an, dass weiterführende Schulen für Mädchen vorläufig geschlossen bleiben würden, „bis ein umfassender Plan im Einklang mit der Scharia und der afghanischen Kultur ausgearbeitet wurde“ [Targeting 2022, 5.2.1., S. 100-101].
Darüber hinaus gab es Berichte darüber, dass die Taliban Grundschulen für Mädchen in Kandahar inspizierten und Hunderte von Mädchen verwiesen, die die Grundschule besuchten, obwohl sie eine weiterführende Schule besuchten. In einigen Teilen Afghanistans gab es weiterhin geheime Geheimschulen. Der UN-Sonderberichterstatter berichtete, dass „adaptive und kreative Methoden“, darunter auch Online-Methoden, entwickelt wurden, um die Bildung von Mädchen zu unterstützen. Aufgrund der inkonsistenten Internetverbindungen sind diese Techniken jedoch „nicht gleichermaßen zugänglich oder nachhaltig“ [Länderfokus 2023, 4.4.4., S. 76].
Anfang September 2021 erließ das Bildungsministerium der Taliban ein Dekret, das Regeln für Universitätsstudentinnen festlegte, darunter Geschlechtertrennung und strenge Kleiderordnung. Diese Regelungen traten in Kraft, als private Universitäten am 6. September 2021 ihre Türen für männliche und weibliche Studierende wieder öffneten. Öffentliche Universitäten blieben geschlossen, obwohl einige in Provinzen mit warmem Klima im Februar 2022 wiedereröffnet wurden [Targeting 2022, 5.2.1., S. 104-105 ]. Allerdings wurde am 20. Dezember 2022 das Recht von Frauen, Universitäten zu besuchen, bis auf Weiteres „ausgesetzt“. Im Juli 2023 gab die Nationale Prüfungsbehörde der Taliban bekannt, dass Studentinnen nicht an Hochschulaufnahmeprüfungen teilnehmen dürfen. Im August 2023 erklärte das Bildungsministerium der Taliban, dass Frauen nach Aufhebung des Verbots wieder an Universitäten zugelassen würden, ohne Angaben oder Klarstellungen zu machen. Laut UNAMA haben die De-facto-Behörden von Juli bis September 2023 „verschiedene Schritte“ unternommen, um den Ausschluss von Frauen von der Sekundar- und Tertiärbildung sicherzustellen.“ [Country Focus 2023, 4.4.4., S. 76-77]
Bei einem Selbstmordanschlag auf das Kaaj-Bildungszentrum im Kabuler Bezirk Dasht-e Barchi kamen am 30. September 2022 54 Menschen ums Leben, 114 weitere wurden verletzt. Die Mehrzahl der Opfer waren junge Hazara-Frauen und -Mädchen. Im Juni 2023 kam es bei zwei gezielten Giftanschlägen gegen zwei Grundschulen im Bezirk Sangcharak der Provinz Sar-e Pul zur Vergiftung von 60 bis 90 Schülerinnen und ihren Lehrern. Laut einem Taliban-Bildungsbeamten war der Angriff durch „persönlichen Groll“ motiviert [Country Focus 2023, 4.4.4., S. 77].
Zugang zur Justiz
Der Zugang von Frauen zur Justiz ist stark eingeschränkt. Schon vor der Machtübernahme der Taliban genossen Täter von Angriffen auf Frauen Straflosigkeit [Targeting 2022, 5.1.1, S. 85; Strafrecht und Gewohnheitsrecht, 1.4, S. 14-16]. Auch der Zugang von Frauen zu Justiz, Gerichten und Rechtsbeistand bei geschlechtsspezifischer Gewalt war im Allgemeinen eingeschränkt, und es wurde berichtet, dass informelle Justizmechanismen Frauen häufig diskriminieren [Strafrecht und Gewohnheitsrecht, 2.3.2., S. 27].
Der Zugang von Frauen zur Justiz wurde durch das von den Taliban verhängte Berufsverbot für Richterinnen und Anwältinnen als Rechtsanwältinnen weiter beeinträchtigt, was sich auch auf ihre Fähigkeit auswirkt, Prozesskostenhilfe und Gleichheit vor dem Gesetz zu erhalten. [Länderfokus 2023, 4.4.8., S. 81]
Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Schon vor der Machtübernahme der Taliban war Gewalt gegen Frauen und Mädchen unabhängig von der ethnischen Gruppe ein allgegenwärtiges Problem, und Täter von Angriffen gegen Frauen genossen Straflosigkeit [Targeting 2022, 5.1.1., S. 85; Strafrecht und Gewohnheitsrecht, 1.4., S. 14-16].
Afghanistan gilt als Land mit der höchsten Gewaltrate gegen Frauen weltweit. Im Dezember 2021 erließen die De-facto-Behörden ein Dekret über die Rechte der Frau, das traditionelle Praktiken wie Zwangsheirat (auch bei Witwen) oder Baad, den Austausch von Töchtern zwischen Familien oder Clans zur Beendigung von Blutfehden oder Streitigkeiten, für illegal erklärte. Trotz des neuen Dekrets gingen die De-facto-Behörden jedoch uneinheitlich mit Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt um und griffen oft auf informelle Mittel wie Mediation zurück [Country Focus 2023, 4.4.7., S. 79-80].
Berichten zufolge nahm die Gewalt gegen Frauen unter der Taliban-Herrschaft zu. Die Taliban stellten außerdem die institutionelle und rechtliche Unterstützung für Frauen ein, die dieser Gewalt ausgesetzt waren. Dies zwang viele Frauen und Mädchen dazu, zu ihren Tätern zurückzukehren oder in Situationen zu bleiben, in denen sie dem Risiko ausgesetzt waren, geschlechtsspezifische Gewalt zu erfahren [Targeting 2022, 5.2., S. 98]. Es wurden auch Fälle häuslicher Gewalt mit Todesfolge gemeldet. Obwohl die Beobachtung des Themas seit der Machtübernahme eingestellt wurde, soll geschlechtsspezifische Gewalt aus Gründen wie Arbeitslosigkeit und Drogenmissbrauch zugenommen haben [Targeting 2022, 5.1.5., S. 91].
Unter der Taliban-Herrschaft hat die Praxis der Zwangs- und Frühverheiratung von Frauen und Mädchen zugenommen, was vor allem auf die humanitären und wirtschaftlichen Krisen, den Mangel an Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten und die Überzeugung einiger Familien zurückzuführen ist, dass die Heirat mit ihren Töchtern sie schützen würde davor, gezwungen zu werden, ein Mitglied der Taliban zu heiraten. Frauen, die die Scheidung beantragten, wurden in vielen Fällen von den örtlichen Taliban zu missbräuchlichen Beziehungen gezwungen. Darüber hinaus gab es Bedenken, dass Scheidungen, die während der vorherigen Regierung vollzogen wurden, nicht als gültig angesehen würden. Hochrangige Taliban-Beamte haben zu dieser Angelegenheit keine endgültigen Antworten gegeben. [Länderfokus 2023, 4.4.7., S. 80]
Die Scharia unterscheidet nicht zwischen einvernehmlichen sexuellen Beziehungen außerhalb der Ehe und Vergewaltigung. Beides wird als Zina definiert und mit Steinigung oder Auspeitschung bestraft. Alleinleben ist darüber hinaus mit unangemessenem Verhalten verbunden und könnte möglicherweise zu Vorwürfen „moralischer Verbrechen“ führen [KSEI 2020, 3.3., S. 70-71; KSEI 2017, 5.5., S. 130-131; Society-based Targeting, 3.8.6., S. 61-62]. Zwischen dem 15. August 2021 und dem 30. April 2023 verzeichnete UNAMA 80 Fälle, in denen Frauen mit Peitschenhieben bestraft wurden, hauptsächlich wegen Zina [Country Focus 2023, 4.4.8., S. 81]. Siehe auch 3.12. Personen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie gegen religiöse, moralische und/oder gesellschaftliche Normen verstoßen haben.
UNAMA verzeichnete zwischen März 2022 und August 2023 mindestens 324 Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Zu diesen Fällen gehörten „Ehrenmorde“, Zwangs- und Kinderehen, Schläge und häusliche Gewalt, die zu Selbstverbrennung oder Selbstmord führten. Nach Angaben von ACLED hat es einen Anstieg sexueller Gewalt gegeben, wobei im ersten Halbjahr 2023 22 Fälle registriert wurden. Berichten zufolge haben Taliban-Beamte weibliche Demonstranten misshandelt und sich in der Haft sogar an sexuellen Übergriffen beteiligt. Berichten zufolge vergewaltigten Taliban-Mitglieder am 28. Februar 2023 eine Frau und ihre beiden minderjährigen Töchter. Bei einem anderen Vorfall soll eine von den Taliban festgenommene Frau gezwungen worden sein, einen Taliban-Beamten zu heiraten, nachdem dieser sie vergewaltigt hatte. UN-Experten zufolge könnte die Richtlinie zur Bestrafung von Männern „für das Verhalten von Frauen und Mädchen“ zu einer Normalisierung von Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen führen [Country Focus 2023, 4.4.7., S. 80].
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsunterlagen sowie den Aktenbestandteilen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Als Beweismittel insbesondere relevant sind die Niederschriften der Einvernahmen durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Erstbefragung vom 21.02.2024; eine Einvernahme vor dem Bundesamt fand auf Verzicht der BF und vorliegenden Familienverfahrens nicht statt), der Beschwerdeschriftsatz, die vom Gericht eingeholten Länderinformationen mit den darin enthaltenen, bei den Feststellungen näher zitierten Berichten, die vom BF vorgelegten Personendokumente und die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.09.2024.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF:
2.1.1. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der BF getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben der BF vor der Polizei und vor dem Bundesverwaltungsgericht (Seite 1 des Erstbefragungsprotokolls; Seite 4-6 des Verhandlungsprotokolls). Die BF reiste legal mit einem österreichischen Visum und ihrem gültigen afghanischen Reisepass ein, welcher einer Dokumentenüberprüfung unterzogen wurde und kein Vorliegen einer Verfälschung festgestellt wurde, weshalb ihre Identität feststeht (AS 13-19: afghanischer Reisepass, Nr. P02410341, ausgestellt am 14.03.2023 in Teheran, gültig bis 25.08.2026 sowie ausgestellt am 25.08.2018 in Kabul, gültig bis 25.08.2023; AS 21: Bericht-Dokuprüfung vom 25.02.2024).
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft, insbesondere zu ihrer Volksgruppenzugehörigkeit sowie Sprachkenntnisse stützen sich auf die im Wesentlichen gleichbleibenden, schlüssigen und diesbezüglich glaubhaften Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung, die mit ihrem vorgelegten afghanischen Reisepass und Angaben bei der Erstbefragung in Einklang stehen (vgl. Seite 1-2 des Erstbefragungsprotokolls; AS 14: afghanischer Reisepass, Herat als Geburtsort; Seite 5 des Verhandlungsprotokolls).
Dass die BF verheiratet ist und einen Sohn hat basiert ebenso auf den gleichbleibenden Angaben der BF und wurde unstrittig im gegenständlichen Bescheid bereits vom Bundesamt festgestellt und der BF im Rahmen eines Familienverfahrens rechtskräftig der Status der subsidiär Schutzberechtigten abgeleitet von ihrem Ehemann und Sohn zuerkannt wurde.
2.1.2. Auch die weiteren Feststellungen zum Lebenslauf der BF in Afghanistan, Verzug in den Iran sowie ihrer Schulausbildung und Finanzierung ihres Lebensunterhalts beruhen auf den aktuellen Schilderungen der BF hierzu in der mündlichen Verhandlung und den Angaben im Beschwerdeschriftsatz (Seite 2 des Beschwerdeschriftsatzes; Seite 6-9 des Verhandlungsprotokolls).
2.1.3. Die Feststellungen zu den Familienmitgliedern der BF, deren aktuellen Aufenthalt und Lebensumstände gründen sich ebenso auf den aktuellen Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung (Seite 6-7 des Verhandlungsprotokolls).
2.1.4. Die Feststellungen zur Aus- und Einreise sowie Antragstellung ergeben sich aus den Angaben der BF bei der Erstbefragung vor der Sicherheitsbehörde und der weitere Verfahrensgang aus dem unstrittigen Akteninhalt (Seite 1-3 des Erstbefragungsprotokolls).
2.1.5. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF gründen auf den aktuellen Angaben in der mündlichen Verhandlung, wo sie chronische oder akute Krankheiten oder andere Leiden oder Gebrechen verneinte (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls). Die BF legte auch diesbezüglich keine medizinischen Unterlagen oder Befunde vor, sodass ausgegangen werden kann, dass sie gesund ist.
Die Arbeitsfähigkeit der BF ergibt sich einerseits aus ihrem arbeitsfähigen Alter (35 Jahre) und ihrem Gesundheitszustand.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der BF gründet auf einen eingeholten Strafregisterauszug.
2.1.6. Die Feststellungen zu den Lebensumständen der BF im Bundesgebiet und ihren Deutschkenntnissen basieren auf dem gewonnenen Eindruck in der mündlichen Verhandlung sowie einer Zusammenschau ihrer aktuellen Angaben in der mündlichen Verhandlung (Seite 9 – 13 des Verhandlungsprotokolls).
2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF:
2.2.1. Die BF brachte im behördlichen Verfahren keine eigenen Fluchtgründe vor und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren.
Im Beschwerdeverfahren brachte die BF nunmehr erstmals im Beschwerdeschriftsatz zum Ausdruck, dass sie das Frauenbild der Taliban ablehne (Seite 3f des Beschwerdeschriftsatzes). Die BF konnte in Folge im Verfahren sowie insbesondere in der mündlichen Verhandlung und den gewonnenen persönlichen Eindruck glaubhaft eine persönliche Wertehaltung vor, die im Widerspruch zum Gesellschaftsbild der herrschenden Taliban in Afghanistan stehen:
Die Feststellungen dazu, dass die BF sich tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern identifiziert, stützen sich auf den persönlichen Eindruck des erkennenden Gerichtes in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Sie schilderte die Gefahr von einer Zwangsverheiratung und dass es ihr nicht möglich sein werde in Afghanistan als Frau zu arbeiten, Musik zu hören oder zu tanzen. Es gebe kein Recht für die Frauen und sie könne sich nicht ausbilden lassen. Es sei schwer als alleinstehende Frau in Afghanistan zu leben und sie habe große Angst (Seite 13 des Verhandlungsprotokolls). So zeigte sie, dass sie das derzeitige aufgezwungen und sanktionsbewehrte Leben als Frau in Afghanistan ablehnt. Weiters ist aus den Länderberichten ersichtlich, dass die Frauen eingeschränkt Zugang zur Arbeit und Bildung haben und sich nicht allein im öffentlichen Raum bewegen können. In Österreich besucht die BF auch alleine ihre Deutschkurs in Linz oder geht einkaufen, sodass sie es bereits gewohnt ist diese Tätigkeiten alleine zu vollbringen. Weiters möchte sie sich weiterbilden und zeigt sich, dass dies, wenngleich die BF auch im sozialen Beruf tätig sein möchte, in Afghanistan nur eingeschränkt möglich ist. Weitere Gefahren bestehen auch in dem Zugang zur Gesundheitsversorgung, sodass auch hier Diskriminierung und die Gefahr einer medizinischen Nichtversorgung gegeben ist (EUAA- Bericht). Eine Sportausübung mit ihrem Sohn wie bisher ist ebenfalls nicht mehr möglich.
So ist afghanischen Frauen die Teilnahme in der Politik verwehrt, ihnen stehen keine rechtlichen Mittel zur Verfügung, um Schutz vor geschlechterspezifischer oder häuslicher Gewalt erhalten zu können, sie sind allgemein – trotz eines durch die Taliban eingeführten Verbotes – der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt, wobei die BF als verheiratete Frau einer solchen nicht unterliegt, sie können einer Erwerbstätigkeit nicht oder nur in eingeschränktem Ausmaß, überwiegend zu Hause, nachgehen, sie haben einen erschwerten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, ihnen ist der Zugang zu Bildung – mit der Ausnahme einer Grundschulausbildung bis zur sechsten Klasse – verwehrt, sie dürfen sich ohne Begleitung eines in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnis stehenden Mannes nicht in der Öffentlichkeit aufhalten oder bewegen, und sie müssen ihren Körper vollständig bedecken sowie ihr Gesicht – mit Ausnahme der Augen – verhüllen. Diese den zitierten Länderinformationen zu entnehmenden, Frauen diskriminierenden Maßnahmen sind gleichsam auch der vom Europäischen Gerichtshof herangezogenen EUAA Country Guidance (Stand Mai 2024) sowie dem vom Verwaltungsgerichtshof zitierten, vom deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, herausgegebenen Länderreport 73 Afghanistan - Die Situation von Frauen, 1996 - 2024 (Stand September 2024) zu entnehmen.
Indem die Beschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung selbst angab, dass sie selbst Gefahr lief als Frau unterdrückt zu werden, wird die gerade aufgezeigte prekäre Lage für Frauen in Afghanistan unterstrichen, und erweisen sich diese von der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihrem Geschlecht stehenden vorgebrachten erlebten Diskriminierungen und Rückkehrbefürchtungen damit als wohlbegründet.
Die Beschwerdeführerin gab damit klar zum Ausdruck, dass sie es ablehnt, in einer Gesellschaft zu leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die Taliban sanktionsbewehrte Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen, die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch ein System der Ausgrenzung und Unterdrückung massiv beeinträchtigen. Die Beschwerdeführerin hat keine sonstigen Asylgründe vorgebracht und damit keine asylfremden Motive hinsichtlich ihrer Antragstellung auf internationalen Schutz, und dem Verfahren sind insbesondere auch keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin Teil einer Organisation wäre, von der die die Menschenwürde massiv beeinträchtigenden einschränkenden Maßnahmen ausgehen.
2.3. Zu den Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan:
2.3.1. Die Parteien traten den Länderfeststellungen zu Grunde liegenden Berichten bzw. ihren Quellen, zu denen das Bundesverwaltungsgericht Parteiengehör in der mündlichen Verhandlung einräumte, nicht entgegen.
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben und wurde die aktuellste Version 11 vom 10.04.2024 der Länderinformationen der Staatendokumentation, die auch umfangreich auf die Situation und Entwicklung seit der Machtübernahme durch die Taliban Bezug nimmt bereits ins Verfahren eingebracht.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zulässigkeit und Verfahren:
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da im vorliegenden Verfahren keine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg.cit .). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, des Agrarverfahrensgesetzes und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Zu A)
3.2. Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.):
3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen gefürchtet hätte (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung muss zudem in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz dann zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010).
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd Zivilprozessordnung (ZPO) zu verstehen. Es genüge daher, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45, Rz 3). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setztet positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (VwGH 19.03.1997, 95/01/0466).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt ist die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben ist (§ 11 Abs. 1 AsylG 2005).
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Urteil vom 04.10.2024, C-608/22 und C-609/22, dargelegt, dass nach Art. 9 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie eine Verfolgung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen kann, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Art. 9 Abs. 1 lit. a dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist. Nach diesen Bestimmungen stellt eine Verletzung von Grundrechten nur dann eine Verfolgung im Sinn von Art. 1 Abschnitt A GFK dar, wenn sie einen bestimmten Schweregrad erreicht. Dieser Schweregrad ist in jedem der in Art. 9 Abs. 1 lit. a und lit. b Statusrichtlinie genannten Fälle ähnlich.
Was Art. 9 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie betrifft, ist ein solcher Schweregrad insbesondere dann als erreicht anzusehen, wenn mehrere Verletzungen von Rechten in ihrer Gesamtheit, die nicht zwangsläufig Rechte darstellen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK nicht abgewichen werden darf, die uneingeschränkte Wahrung der in Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) verankerten Menschenwürde beeinträchtigen (Art. 1 GRC lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“), die die Statusrichtlinie, wie sich aus ihrem 16. Erwägungsgrund ergibt, ausdrücklich gewährleisten soll.
Im gerade genannten Urteil des EuGH hat dieser ausgesprochen, dass einige der im Rahmen der Beweiswürdigung aufgezeigten afghanische Frauen diskriminierenden Maßnahmen – insbesondere die Zwangsverheiratung, die einer nach Art. 4 EMRK verbotenen Form der Sklaverei gleichzustellen ist, sowie der fehlende Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen und nach Art. 3 EMRK verboten sind – für sich genommen als Verfolgung im Sinn von Art. 9 Abs. 1 lit. a Statusrichtlinie einzustufen sind. Die anderen im Rahmen der Beweiswürdigung aufgezeigten afghanische Frauen diskriminierenden Maßnahmen, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern oder die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen, stellen für sich genommen keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts im Sinn von Art. 9 Abs. 1 lit. a Statusrichtlinie dar. Diese Maßnahmen beeinträchtigen aber in ihrer Gesamtheit Frauen in einer Weise, dass sie den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, um eine Verfolgung im Sinn von Art. 9 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie darzustellen. Es ist damit bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen, weil diese – im Rahmen der Beweiswürdigung näher dargelegten – Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.
In Ergänzung ist dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.10.2024, Ra 2022/20/0028, zu entnehmen, dass es nicht erforderlich ist zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft zu leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen, die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.
Es ist daher grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation in Afghanistan auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind. Nur wenn sich anhand der sich der Behörde sonst darbietenden Umstände des Einzelfalles ergibt, dass Gründe zur Annahme vorhanden sind, dass fallbezogen ein Bedürfnis nach Flüchtlingsschutz nicht besteht und die Antragstellung lediglich aus anderen (asylfremden) Motiven erfolgt ist, wird es bei der Prüfung, ob der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen ist, nicht sein Bewenden haben können, sich bloß auf die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat sowie der Staatsangehörigkeit und des Geschlechts der Asylwerberin zu beschränken (etwa wenn Hinweise dafür bestehen, dass eine Asylwerberin Teil einer Organisation ist, von der die die Menschenwürde massiv beeinträchtigenden einschränkenden Maßnahmen ausgehen).
3.2.2. Aufgrund einer Zusammenschau der entsprechenden Passagen der zitierten Länderinformationen, der Angaben der Beschwerdeführerin im Laufe des Verfahrens sowie der gerade angeführten rezenten Rechtsprechung des EuGH und VwGH hat es sich damit als glaubhaft erwiesen, dass der Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat aufgrund ihrer Eigenschaft als afghanische Frau, die es ablehnt, in einer vom Regelwerk der Taliban geprägten, Frauen diskriminierenden Gesellschaft zu leben, durch die Taliban Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen droht.
Im konkreten Einzelfall liegen auch keine Gründe vor, welche annehmen lassen würden, dass in Bezug auf die Beschwerdeführerin ein Flüchtlingsschutz nicht besteht und die Antragstellung lediglich aus asylfremden Motiven erfolgt ist, als es die Beschwerdeführerin – wie beweiswürdigend ausgeführt – ablehnt, sich einer vom Regelwerk der Taliban geprägten Situation auszusetzen. Insbesondere liegen auch keine Hinweise dafür vor, dass die Beschwerdeführerin selbst Teil einer Organisation wäre, von der die die Menschenwürde massiv beeinträchtigenden einschränkenden Maßnahmen ausgehen.
Eine Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative kann vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016).
Es sind auch im Zuge des Verfahrens keine Hinweise hervorgekommen, wonach einer der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlusstatbestände eingetreten sein könnte.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder aufgrund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Beschwerde ist daher gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 stattzugeben und festzustellen, dass der Beschwerdeführerin kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu. Diese Aufenthaltsberechtigung verlängert sich kraft Gesetzes nach Ablauf dieser Zeit auf eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Aberkennungsverfahrens nicht vorliegen oder ein Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Dementsprechend verfügt die Beschwerdeführerin nun über eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen – im Rahmen der rechtlichen Beurteilung bereits wiedergegebenen – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
Im gegenständlichen Fall war die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz aufgrund der mangelnden Glaubhaftigkeit des individuellen Fluchtvorbringens des BF und aktueller Länderberichte zu treffen. Auch verfahrensrechtlich wurden keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen.
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