VwGH 2011/08/0316

VwGH2011/08/031613.8.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Strohmayer und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der UD in G, vertreten durch Mag. Bernd Wurnig, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Schillerplatz 1, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 10. Mai 2011, Zl. BMSK-328698/0001- II/A/3/2008, betreffend Pflichtversicherung nach dem ASVG (mitbeteiligte Parteien: 1. RR in W, vertreten durch Dr. Peter Stoff, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Neustiftgasse 3/4,

2. Wiener Gebietskrankenkasse in 1103 Wien, Wienerbergstraße 15- 19, 3. Pensionsversicherungsanstalt in 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 4. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in 1201 Wien, Adalbert Stifterstraße 65- 67), zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §1 Abs1 lita;
ASVG §4 Abs1;
ASVG §4 Abs2;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AVG §46;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AlVG 1977 §1 Abs1 lita;
ASVG §4 Abs1;
ASVG §4 Abs2;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AVG §46;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 3. Jänner 2007 stellte die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse fest, dass der Erstmitbeteiligte am

6. und 7. Dezember 2004 in keinem die Voll- (Kranken-, Unfall-, Pensions-) und Arbeitslosenversicherungspflicht begründenden Beschäftigungsverhältnis zur beschwerdeführenden Partei gestanden ist.

Der Erstmitbeteiligte habe angegeben, die Beschwerdeführerin betreibe ein Unternehmen zur Reinigung von Lüftungsanlagen von Gaststätten und habe ihm im Jahr 2004 angeboten, gelegentlich für sie zu arbeiten. Im Frühjahr und im Sommer 2004 sei es bereits zu zwei Einsätzen gekommen. Am 6. Dezember 2004 habe er wieder für die Beschwerdeführerin gearbeitet. Dabei sei es in der Nacht zum 7. Dezember 2004 zu einem Arbeitsunfall gekommen.

Die Beschwerdeführerin habe (gemeinsam mit H.A.) angegeben, sie habe im Dezember 2004 nur einen Mitarbeiter, Herrn H.A., beschäftigt. Der Erstmitbeteiligte, ein Bekannter des A., habe diesem am Vormittag des am 6. Dezember 2004 erzählt, dass er keine Arbeit finden würde. A. habe daraufhin dem Erstmitbeteiligten in Abwesenheit der Beschwerdeführerin angeboten, er könne seinen Arbeitsplatz übernehmen. Um sich ein besseres Bild von der zu verrichtenden Tätigkeit zu machen, habe der Erstmitbeteiligte die Beschwerdeführerin und A. am Abend des 6. Dezember 2004 bei einem Arbeitseinsatz begleitet. A. habe zwecks Reinigung einer Lüftungsanlage eine Leiter bestiegen, um auf ein Flachdach zu gelangen. Aus eigenen Stücken habe der Erstmitbeteiligte einen (gar nicht benötigten) Lichtstrahler besorgt und mit diesem, vermutlich aus Neugier, die Leiter bestiegen. Bei dem Versuch, A. den Lichtstrahler zu reichen, sei er von der Leiter abgerutscht und zu Sturz gekommen.

Die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse führte aus, die Aussagen des Erstmitbeteiligten seien widersprüchlich. Am 18. Juni 2005 sei noch die Rede davon gewesen, dass er erst lernen wolle, wie die Lüftungsmotoren zu reinigen seien. Am 13. September 2006 habe er es so dargestellt, als wäre er bereits eine vollwertige Arbeitskraft im Team der Beschwerdeführerin. Die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung des Erstmitbeteiligten lägen nicht vor.

Der Erstmitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Einspruch. Die Aussagen der Beschwerdeführerin und ihres Lebensgefährten H.A. seien "absolut gelogen und falsch".

Nach Vernehmung des Erstmitbeteiligten am 7. November 2007 und Einholung einer schriftlichen Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 19. November 2007 hat der Landeshauptmann von Wien mit Bescheid vom 1. Februar 2008 den Einspruch abgewiesen und den erstinstanzlichen Bescheid bestätigt.

Der Erstmitbeteiligte habe am 23. Dezember 2004 auf einem Fragebogen der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse betreffend seinen Unfall vom 7. Dezember 2004, 0.30 Uhr, die Angabe "in Ausübung der Beschäftigung" wieder durchgestrichen und die Angabe "sonstiger Unfall" angekreuzt. Die Frage, ob die Verletzung durch Fremdverschulden erfolgt sei, habe er mit "Arbeitsunfall!?" beantwortet. Der Erstmitbeteiligte habe anlässlich seiner ersten Befragung noch angegeben, er sei nur zur Besichtigung mitgefahren. Im Lauf des Verfahrens habe er jedoch versucht, dies zu entkräften, indem er zunächst ein Probearbeitsverhältnis behauptet und schließlich angegeben habe, er habe schon mehrmals für die Beschwerdeführerin gearbeitet. Den insgesamt widersprüchlichen Angaben des Erstmitbeteiligten stünden die im gesamten Zeitraum unverändert gebliebenen, widerspruchsfreien Aussagen der Beschwerdeführerin und ihres Mitarbeiters H.A. gegenüber, die zudem vom Besitzer des Lokals, in dem der Unfall passiert sei, und seinem Kellner im Wesentlichen bestätigt worden seien. Den Aussagen der Beschwerdeführerin komme ein höherer Wahrheitsgehalt zu. Der Erstmitbeteiligte habe die Beschwerdeführerin erstmals am 6. Dezember 2004 ohne Arbeitsverpflichtung und ohne Entgeltvereinbarung begleitet, um die Reinigungsarbeiten an Lüftungsanlagen kennenzulernen und sich ein Bild davon zu machen, ob er in späterer Folge ein Arbeitsverhältnis eingehen möchte. Die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung lägen nicht vor.

Gegen diesen Bescheid erhob der Erstmitbeteiligte Berufung, in der er seine Arbeitseinsätze für die Beschwerdeführerin im Sommer bzw. Herbst 2003 im Lokal O., im Herbst 2004 in der Cocktailbar M. sowie im Japan-Restaurant O. detailliert schildert und zu seinem Arbeitseinsatz am 6. und 7. Dezember 2004 ausführte, es habe sich um einen Arbeitseinsatz und nicht um eine "Besichtigung" gehandelt, zumal ihm die Arbeitstätigkeit von den zuvor geleisteten Arbeitseinsätzen hinreichend bekannt gewesen sei.

In einer schriftlichen Stellungnahme vom 5. Juni 2008 bestritt die Beschwerdeführerin die Schilderungen der Arbeitseinsätze durch den Erstmitbeteiligten und zeigte zahlreiche Widersprüche auf. Am 6. bzw. 7. Dezember 2004 sei der Erstmitbeteiligte nur zur Besichtigung mitgefahren. Die Angaben über die Handreichungen des Erstmitbeteiligten anlässlich dieses Arbeitseinsatzes seien aus näher dargestellten Gründen unrichtig.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid hat die belangte Behörde ohne weitere Beweisaufnahmen der Berufung Folge gegeben und festgestellt, dass der Erstmitbeteiligte in der Zeit vom 6. bis 7. Dezember 2004 der Pflichtversicherung nach § 4 Abs. 1 und 2 ASVG sowie § 1 Abs. 1 lit. a AlVG unterlag. Er habe am 6. Dezember 2004 abends ab 21.00 Uhr und am 7. Dezember 2004 morgens im Auftrag der Beschwerdeführerin unter Anleitung von ihr und einem anderen Betriebsangehörigen, Herrn A., Reinigungsarbeiten in einem Lokal verrichtet. Dort sei er am 7. Dezember 2004 um ca. 0.30 Uhr verunfallt, weil eine Leiter, auf der er sich befunden habe, abgerutscht sei. Der Beschwerdeführer habe vor dem 6. Dezember 2004 auch schon in anderen Lokalen für die Beschwerdeführerin gearbeitet.

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde zusammenfassend aus, dass sich die Angaben des Erstmitbeteiligten bei den einzelnen Einvernahmen und in seinen Eingaben zwar widersprächen. Dies sei jedoch darauf zurückführen, dass er zu Beginn der Ermittlungen nicht recht gewusst habe, was er angeben solle bzw. welche Angaben ihm bzw. der Beschwerdeführerin schaden könnten. Zu Beginn des Verfahrens habe er die Beschwerdeführerin offensichtlich noch schützen wollen. Die Erklärung der Beschwerdeführerin erscheine für den Fall des Bekanntwerdens von Schwarzarbeit in ihrem Betrieb vorbereitet. Es wäre völlig lebensfremd anzunehmen, dass es für eine Beschäftigung als Reinigungsarbeiter einen "Schnuppereinsatz" gegeben habe. Es habe sich nicht um eine "Arbeitsbesichtigung" gehandelt, der Erstmitbeteiligte habe tatsächlich gearbeitet. Selbst wenn ein Probearbeitsverhältnis vereinbart worden wäre, wäre die Pflichtversicherung nach dem ASVG eingetreten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde. Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und ebenso wie die mitbeteiligte Unfallversicherungsanstalt auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet. Der Erstmitbeteiligte hat eine Gegenschrift erstattet, in der er die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt. Die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt hat sich am Verfahren nicht beteiligt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Beschwerde bringt vor, die belangte Behörde habe sich auf dieselben Beweisergebnisse gestützt wie die Vorinstanzen. Weitere Beweise seien nicht aufgenommen worden. Die belangte Behörde habe die sich laufend ändernden Angaben des Erstmitbeteiligten nunmehr als glaubwürdig erachtet. Die belangte Behörde habe nicht versucht, die Wahrheit zu erforschen. Sie habe die bisherigen Beweisergebnisse vom Tisch gewischt und sich den Ausführungen des Erstmitbeteiligten angeschlossen, welche dieser erstmals drei Jahre nach dem angeblichen Tätigwerden für die Beschwerdeführerin erhoben habe. Auch der angebliche Arbeitskollege des Erstmitbeteiligten, H.A., sei nicht einvernommen worden. A. hätte bestätigen können, dass der Erstmitbeteiligte nicht für die Beschwerdeführerin tätig gewesen sei. Die belangte Behörde hätte den Erstmitbeteiligten mit seinen Angaben konfrontieren müssen und sich nicht alleine auf ein Aktenverfahren zurückziehen dürfen. Sie hätte zumindest dessen Angaben zu den angeblichen Arbeitseinsätzen für die Beschwerdeführerin bei den Inhabern der angesprochenen Lokale überprüfen müssen.

Die Beschwerde ist berechtigt.

Der Erstmitbeteiligte hat in seiner Berufung ein detailliertes Vorbringen über seine früheren Arbeitseinsätze für die Beschwerdeführerin erstattet. Damit sollte insbesondere der Nachweis erbracht werden, dass es sich bei dem Arbeitseinsatz am 6./7. Dezember 2004 nicht um eine bloße Besichtigung gehandelt habe. Die Beschwerdeführerin ist diesen Schilderungen mit ebenso detaillierten Argumenten entgegengetreten.

Die belangte Behörde hat trotz der widersprüchlichen Beweisergebnisse ohne weitere Beweisaufnahmen festgestellt, dass der Erstmitbeteiligte - wie von diesem behauptet - in mehreren Arbeitseinsätzen, insbesondere auch ihm gegenständlichen Zeitraum, für die Beschwerdeführerin entgeltlich tätig gewesen sei.

Die Behörde darf sich indes nur in Fällen, die nicht weiter strittig sind, mit einer formlosen Befragung (oder mit schriftlichen Stellungnahmen) als Beweismittel begnügen. In strittigen Fällen aber, in denen widersprechende Beweisergebnisse vorliegen und in denen der Glaubwürdigkeit von Personen für die Beweiswürdigung besondere Bedeutung zukommt, ist es im Interesse der Erforschung der materiellen Wahrheit erforderlich, diese Personen förmlich als Zeugen oder Parteien niederschriftlich zu vernehmen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 6. Juni 2012, Zl. 2010/08/0034, vom 12. September 2012, Zlen. 2009/08/0139 und 2011/08/0177, vom 19. Oktober 2011, Zl. 2008/08/0202, uva).

Die belangte Behörde hat sich lediglich auf niederschriftliche Angaben der Beschwerdeführerin (des Zeugen H.A.) und des Erstmitbeteiligten vor der mitbeteiligten Unfallversicherungsanstalt im Jahr 2005, auf eine Niederschrift der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom 13. September 2006 über eine Vernehmung des Erstmitbeteiligten und auf eine niederschriftliche Befragung des Erstmitbeteiligten vom 7. November 2007 vor der Einspruchsbehörde gestützt. Zu den im Berufungsverfahren erstatteten Vorbringen der Parteien fanden keine Einvernahmen statt.

Die belangte Behörde hätte die Beschwerdeführerin und den Erstmitbeteiligten förmlich als Parteien sowie allenfalls weitere Personen (H.A.) förmlich als Zeugen niederschriftlich zu den vom Erstmitbeteiligten behaupteten Arbeitseinsätzen vernehmen müssen.

Da die Behörde bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 13. August 2013

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte