VwGH 2011/21/0153

VwGH2011/21/015314.6.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 10. Mai 2011, Zl. VwSen-720285/4/BMa/Th, betreffend Aufenthaltsverbot (mitbeteiligte Partei: P in L, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11; weitere Partei:

Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §61 Z3;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
StGB §31;
StGB §39;
StGB §40;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §61 Z3;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
StGB §31;
StGB §39;
StGB §40;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Mit Bescheid vom 18. November 2010 verhängte die Bundespolizeidirektion Linz über den Mitbeteiligten, einen rumänischen Staatsangehörigen, gemäß § 86 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein auf sieben Jahre befristetes Aufenthaltsverbot. Dabei stützte sie sich auf die wiederholte Straffälligkeit des Mitbeteiligten, die zu 11 rechtskräftigen gerichtlichen Verurteilungen geführt habe.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10. Mai 2011 gab die belangte Behörde einer dagegen erhobenen Berufung des Mitbeteiligten gemäß § 66 Abs. 4 AVG statt und behob (ersatzlos) den Erstbescheid vom 18. November 2010.

Begründend führte sie aus, der am 20. Jänner 1985 geborene Mitbeteiligte sei am 13. Februar 1990 gemeinsam mit seinen Eltern nach Österreich eingereist. Sein erstes im strafrechtlichen Sinn maßgebliches Verhalten stamme vom März 2000. Ab seinem "15. Lebensjahr" sei der Mitbeteiligte insgesamt elfmal wegen zahlreicher Delikte (vor allem der Verbrechen des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch und des gewerbsmäßigen Betruges sowie des Handels mit Suchtmitteln) rechtskräftig verurteilt worden. Die dabei verhängten Strafen hätten jedoch "nie den Rahmen einer einjährigen Freiheitsstrafe erreicht". Zuletzt sei über den Mitbeteiligten mit Urteil des Landesgerichtes Wels vom 6. Juli 2010 eine zehnmonatige Freiheitsstrafe und danach mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 8. Oktober 2010 eine fünfmonatige Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe gemäß den §§ 31 und 40 StGB - unter Bedachtnahme auf das vorgenannte Urteil des Landesgerichtes Wels vom 6. Juli 2010 - verhängt worden.

Eine Zusammenrechnung dieser beiden Freiheitsstrafen, wonach sich ein Aufenthaltsverbot erst gemäß § 61 Z. 3 FPG als zulässig erweise, komme jedoch nicht in Betracht: Es sei nicht Ziel des Gesetzgebers, "mehrere kleine Delikte zusammenzurechnen", um das Ausmaß einer einjährigen Freiheitsstrafe zu erreichen. Vielmehr müsse ein einzelner Verstoß so schwerwiegend sein, dass seinetwegen eine einjährige Freiheitsstrafe verhängt wurde. Dem Aufenthaltsverbot stehe somit die Bestimmung des § 61 Z. 3 FPG entgegen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung von Gegenschriften durch die belangte Behörde und den Mitbeteiligten erwogen hat:

§ 61 Z. 3 FPG in der hier noch maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2011 lautete:

"Unzulässigkeit eines Aufenthaltsverbotes

§ 61. Ein Aufenthaltsverbot darf nicht erlassen werden, wenn

...

3. dem Fremden vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, der Fremde wäre wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung rechtskräftig zu mindestens einer unbedingten einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden oder er würde einen der im § 60 Abs. 2 Z. 12 bis 14 bezeichneten Tatbestände verwirklichen;"

Strittig ist hier lediglich das Vorliegen einer rechtskräftigen gerichtlichen Verurteilung zu mindestens einer unbedingten einjährigen Freiheitsstrafe. Die Beschwerdeführerin vertritt dazu - fasst man ihre Ausführungen auf das Wesentliche zusammen - die Ansicht, die genannten, zueinander im Verhältnis der §§ 31 und 40 StGB stehenden strafgerichtlichen Verurteilungen der Landesgerichte Wels und Linz wären als Einheit zu werten. Maßgeblich sei somit das Gesamtausmaß der darin verhängten Strafen, also "einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Monaten", sodass sich iSd zweiten Halbsatzes des § 61 Z. 3 FPG die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes als zulässig erweise.

Dem ist beizupflichten:

Mit dem zweiten der zuletzt erwähnten Urteile wurde eine Zusatzstrafe gemäß den §§ 31 und 40 StGB verhängt. Eine solche kommt nur dann in Betracht, wenn der Täter wegen einer Tat verurteilt wird, die nach der Zeit ihrer Begehung schon in einem früheren Verfahren hätte abgeurteilt werden können. Gemäß § 31 StGB darf die Zusatzstrafe das Höchstmaß der Strafe nicht übersteigen, die für die später abzuurteilende Tat angedroht ist. Die Summe der Strafen darf die Strafe nicht übersteigen, die nach den Regeln über die Strafbemessung beim Zusammentreffen strafbarer Handlungen und über die Zusammenrechnung der Werte und Schadensbeträge zulässig wäre. Gemäß § 40 StGB ist die Zusatzstrafe innerhalb dieser Grenzen so zu bemessen, dass die Summe der Strafen jener Strafe entspricht, die bei gemeinsamer Aburteilung zu verhängen wäre. Wäre bei gemeinsamer Aburteilung keine höhere Strafe als die im früheren Urteil verhängte auszusprechen, so ist von einer Zusatzstrafe abzusehen. Diese Regelung soll eine Schlechterstellung jenes Täters verhindern, über dessen mehrere Straftaten in zeitlich getrennten Urteilen entschieden wurde, obwohl die Sanktionierung in einem einzigen möglich gewesen wäre (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Oktober 2000, Zl. 2000/18/0013, mit dem Hinweis auf Ratz im Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Auflage, § 31, Rz 7).

Im Fall der Verhängung einer Zusatzstrafe gemäß den §§ 31 und 40 StGB hat der Fremde die der zweiten Verurteilung zu Grunde liegenden Tathandlungen schon vor dem Zeitpunkt der ersten Verurteilung begangen. In einem solchen Fall manifestiert sich der besondere Unwertgehalt mehrfachen deliktischen Handelns - anders als bei einem Rückfall nach dem früheren Gerichtsurteil - nicht darin, dass der Fremde trotz dieser Verurteilung wieder eine strafbare Handlung gesetzt hat. Es liegt aber in dem insgesamt verwirklichten deliktischen Verhalten. Verurteilungen, die zueinander im Verhältnis der §§ 31 und 40 StGB stehen, sind somit insoweit als Einheit zu werten (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 28. Juni 2000, Zl. 98/18/0134, vom 13. Oktober 2000, Zl. 2000/18/0013, vom 24. Jänner 2002, Zl. 99/21/0054, vom 22. Dezember 2009, Zl. 2009/21/0050, und vom 20. Oktober 2011, Zl. 2008/21/0178; in diesem Sinn auch das zu § 8 Strafregistergesetz ergangene Erkenntnis vom 3. Mai 2000, Zl. 99/01/0453).

Ebenso judiziert der Oberste Gerichtshof im Rahmen der Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Strafschärfung bei Rückfall nach § 39 StGB in ständiger Rechtsprechung, dass zwei oder mehrere Verurteilungen im Verhältnis des § 31 StGB als eine Verurteilung zu gelten haben (vgl. RIS-Justiz RS0090951).

Weiters hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 24. Juni 1999, B 191/99 = VfSlg. 15.543, Punkt III. 2.3.2. der Entscheidungsgründe, eine entsprechende, von der Behörde in Anwendung des § 95 ÄrzteG vorgenommene Zusammenrechnung von Strafen im Fall von Verurteilungen, die zueinander im Verhältnis des § 31 StGB stehen, nicht beanstandet. Begründend führte er aus, § 95 Abs. 2 Z. 1 ÄrzteG 1984 knüpfe an die Tatsache einer gerichtlichen Verurteilung zu bestimmter Strafart und -höhe wegen einer oder mehrerer mit Vorsatz begangener Straftaten an. Vor dem Hintergrund einer solchen Tatbestandswirkung der Verurteilung sei die Rechtsauffassung der belangten Behörde jedenfalls nicht denkunmöglich, wonach eine Zusammenrechnung von Strafen aus mehreren gerichtlichen Verurteilungen, die zueinander im Verhältnis des § 31 StGB stehen, geboten sei, um eine ansonsten bei völlig gleicher Sach- und Rechtslage eintretende unsachliche Verschiedenbehandlung von Verurteilten im Disziplinarverfahren zu vermeiden, je nachdem, ob die Aburteilung aller Straftaten zufälligerweise in einem Verfahren oder in mehreren Strafverfahren erfolgt sei.

Auch im vorliegenden Zusammenhang ist aus der Aleatorik der Anzahl - bei identem deliktischen Verhalten - erlittener Verurteilungen ein weiteres Argument für eine zusammenfassende Betrachtung im Verhältnis des § 31 StGB stehender Urteile für die Bewertung der Gefährlichkeit eines Fremden zu gewinnen. Hieraus folgt, dass - wie die Beschwerdeführerin zutreffend darlegt - bei der Beurteilung gemäß § 61 Z. 3 FPG das Gesamtausmaß der verhängten Strafen für die Zulässigkeit der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes maßgeblich ist (vgl. idS zu § 61 Z. 4 FPG bereits das schon genannte Erkenntnis vom 20. Oktober 2011, Zl. 2008/21/0178).

§ 61 Z. 3 FPG (in der genannten Fassung) machte somit die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Mitbeteiligten aus diesem Grund nicht unzulässig.

Der das Gegenteil vertretende angefochtene Bescheid ist nach dem Gesagten mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, sodass er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 14. Juni 2012

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