VwGH 2009/11/0111

VwGH2009/11/011121.2.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des K W in W, vertreten durch Mag. Jürgen Krauskopf, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Brucknerstraße 4/4a, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 28. Mai 2009, Zl. 41.550/815- 9/08, betreffend Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37;
AVG §45 Abs3;
AVG §52;
BEinstG §14 Abs1;
BEinstG §14 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
AVG §37;
AVG §45 Abs3;
AVG §52;
BEinstG §14 Abs1;
BEinstG §14 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2 Abs. 1, 3, 14 Abs. 1 und 2 sowie 27 Abs. 1 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970 (BEinstG), ab. Der Grad der Behinderung betrage nur 30 %.

In der Begründung führte die belangte Behörde - nach einer zusammenfassenden Wiedergabe der Berufung - im Wesentlichen aus, in den im Berufungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten Dris. M (Fachärztin für Neurologie) vom 23. Oktober 2008 und Dris. W (Facharzt für Orthopädie) vom 10. November 2008 werde Folgendes festgestellt:

"Psychischer Status:

Klar, wach, in allen Qualitäten orientiert, im Ductus kohärent, verlangsamt. Das Denkziel wird ohne Umschweife erreicht, Stimmung deutlich depressiv getönt, Eigenantrieb reduziert. Ein- und Durchschlafstörungen, schlechte Schlafeffizienz. Wenig affizierbar. Das Verhalten der Situation entsprechend. Keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen fassbar. Die Aufmerksamkeit, das Auffassungsvermögen und die Konzentrationsfähigkeit sind beeinträchtigt. Keine höhergradige Störung des Urteils- und Kritikvermögens. Keine höhergradigen mnestischen Defizite fassbar. Keine Wahrnehmungsstörungen explorierbar. Keine produktive Symptomatik explorierbar.

Orthopädischer Status (auszugsweise):

Art der Gesundheitsschädigung

Position in den Richtsätzen

GdB

Depressives Syndrom

Drei Stufen über dem unteren Rahmensatzwert, da unter medikamentöser Therapie und therapeutischer Betreuung; kein stationärer Aufenthalt an einer fachspezifischen Abteilung in der Anamnese.

585

30 vH

Beurteilung Dr. M:

Das psychiatrische Beschwerdebild wurde bei der Untersuchung entsprechend dem bisherigen Verlauf und den psychopathologischen Auffälligkeiten entsprechend eingestuft. Es waren bis dato keine stationären Aufnahmen an einer fachspezifischen Abteilung notwendig, eine medikamentöse Therapie ist etabliert, regelmäßige Kontrollen beim niedergelassenen Facharzt.

Der psychiatrische Befund vom November 2005 wurde eingesehen. Zum Gutachten der ersten Instanz Erhöhung des GdB, dem Untersuchungsbefund entsprechend. Ein rezenter Befund vom 12. September 2008 wurde zusätzlich vorgelegt.

Beurteilung Dr. W:

Im Rahmen der orthopädischen Untersuchung konnten im Bereich der Wirbelsäule keinerlei maßgebliche Funktionsbehinderungen objektiviert werden, welche eine Einschätzung nach Richtsatzpositionen rechtfertigen würde.

Entscheidend für die Einschätzung sind objektivierbare Funktionsbehinderungen, nicht radiologische Befunde (diese beschreiben mäßiggradige degenerative Veränderungen sowie eine Listhese L4/5). Eine schmerzhafte Einschränkung des Seitneigens, wie im Befund vom 7. Juli 2008 beschrieben, konnte bei der nunmehr durchgeführten Untersuchung nicht mehr verifiziert werden.

Auch die im Röntgenbefund vom 31. Juli 2006 beschriebenen degenerativen Veränderungen im rechten Großzehengrundgelenk bedingen keinen GdB, da keinerlei Auffälligkeiten von Seiten des Gangbildes bestehen."

Das Ergebnis der Beweisaufnahme sei dem Beschwerdeführer im Rahmen des Parteiengehörs gemäß § 45 Abs. 3 AVG nachweislich zur Kenntnis gebracht worden. Dagegen habe der Beschwerdeführer unter Vorlage eines Befundes einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 20. Februar 2009 und eines Befundes des Psychosozialen Dienstes Burgenland vom 18. März 2009 im Wesentlichen eingewendet, dass er unter schweren Depressionen und unter einer Panikstörung leide.

Die zur Überprüfung des Ermittlungsergebnisses beigezogene Sachverständige Dr. M, Fachärztin für Neurologie, habe die Einwendungen des Beschwerdeführers samt der dazu vorgelegten Unterlagen in ihren Stellungnahmen vom 23. März 2009 und vom 27. April 2009 wie folgt beurteilt:

"Im nervenfachärztlichen Gutachten vom 23. Oktober 2008, dessen Grundlage ein ausführlicher neurologischer und psychiatrischer Status ist, wurde das psychiatrische Leiden eingestuft. Ein Befundbericht der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie vom 12. September 2008 lag damals ergänzend vor.

Im nun nachgereichten Befund wird der Verlauf einer chronischen Depression beschrieben, mehrere medikamentöse Umstellungen waren bis dato erforderlich. Die nun etablierte Zweizügeltherapie (morgendliches NASR und Trazodon in mittlerer Dosierung) dürfte nun beibehalten werden, eine zusätzliche neuroleptische Therapie erfolgte nicht (eine weitere Dosisadaption noch möglich). Bis dato war es noch zu keinem stationären Aufenthalt an einer fachspezifischen Abteilung gekommen; der therapeutische Zugang hat sich somit seit der Untersuchung nicht geändert. Eine höhere Einstufung als die damals getroffene ist nicht möglich.

Die im nachgereichten psychologischen Testbefund beschriebene Symptomatik und deren Ausprägung liegt im Schwankungsbereich der eingestuften psychiatrischen Erkrankung und ist mit der getroffenen Einschätzung ausreichend berücksichtigt. Kein stationärer Aufenthalt an einer fachspezifischen Abteilung, keine medikamentöse Umstellung oder Intensivierung der bisherigen therapeutischen Behandlung ist seither erfolgt."

Da die Stellungnahmen Dris. M die bis dato abgegebenen ärztlichen Beurteilungen bestätigen würden und keine neuen Sachverhaltselemente hervorgebracht hätten, sei von der Durchführung eines weiteren Parteiengehörs gemäß § 45 Abs. 3 AVG abgesehen worden.

Nach einer Darlegung der maßgebenden Bestimmungen des BEinstG und der Grundsätze für die Beurteilung einer Mehrzahl von Gesundheitsschädigungen führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die von ihr eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten vom 23. Oktober 2008 und vom 10. November 2008 sowie die Stellungnahmen vom 23. März 2009 und vom 27. April 2009 seien schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei. In ihnen sei auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen worden. Die getroffenen Einschätzungen, basierend auf dem im Rahmen der persönlichen Untersuchung eingehend erhobenen Befund, entsprächen den festgestellten Funktionseinschränkungen.

Die vom Beschwerdeführer unter Hinweis auf die vorgelegten Unterlagen erhobenen Einwände seien nicht geeignet gewesen, das Ergebnis der Beweisaufnahme zu entkräften oder eine Erweiterung des Ermittlungsverfahrens herbeizuführen, weshalb die eingeholten Sachverständigengutachten - welche mit den Erfahrungen des Lebens, der ärztlichen Wissenschaft und den Denkgesetzen nicht im Widerspruch stünden - der Entscheidung zugrunde gelegt würden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

1.1. Die maßgebenden Bestimmungen des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970 idF. BGBl. I Nr. 67/2008 (BEinstG), lauten (auszugsweise):

"Begünstigte Behinderte

§ 2. (1) Begünstigte Behinderte im Sinne dieses Bundesgesetzes sind österreichische Staatsbürger mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 vH . . ...

Behinderung

§ 3. Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

Feststellung der Begünstigung

§ 14. (1) Als Nachweis für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gilt der letzte rechtskräftige Bescheid über die Einschätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit mindestens 50 vH

a) eines Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (der Schiedskommission) bzw. des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen oder der Bundesberufungskommission im Sinne des Bundesberufungskommissionsgesetzes, BGBl. 1 Nr. 150/2002;

Die Feststellung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Nachweis gilt zugleich als Feststellung des

Grades der Behinderung . ... .

(2) Liegt ein Nachweis im Sinne des Abs. 1 nicht vor, hat auf Antrag des Behinderten das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen den Grad der Behinderung einzuschätzen und bei Zutreffen der im § 2 Abs. 1 angeführten sonstigen Voraussetzungen die Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Behinderten (§ 2) sowie den Grad der Behinderung (Abs. 3) festzustellen. Hinsichtlich der ärztlichen Sachverständigen ist § 90 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, anzuwenden. Die Begünstigungen nach diesem Bundesgesetz werden mit dem Zutreffen der Voraussetzungen, frühestens mit dem Tag des Einlangens des Antrages beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen wirksam. Sie werden jedoch mit dem Ersten des Monates wirksam, in dem der Antrag eingelangt ist, wenn dieser unverzüglich nach dem Eintritt der Behinderung (Abs. 3) gestellt wird. Die Begünstigungen erlöschen mit Ablauf des Monates, der auf die Zustellung des Bescheides folgt, mit dem der Wegfall der Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten rechtskräftig ausgesprochen wird.

(3) Der Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales ist ermächtigt, nach Anhörung des Bundesbehindertenbeirates gemäß § 8 BBG durch Verordnung nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung festzulegen. Diese Bestimmungen haben die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf das allgemeine Erwerbsleben zu berücksichtigen und auf den Stand der medizinischen Wissenschaft Bedacht zu nehmen.

Übergangsbestimmungen

§ 27. (1) Bis zum Inkrafttreten der Verordnung gemäß § 14 Abs. 3 sind für die Einschätzung des Grades der Behinderung die Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, daß Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH außer Betracht zu lassen sind, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht.

…"

1.2. Da eine Verordnung gemäß § 14 Abs. 3 BEinstG im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides noch nicht erlassen war, hat die belangte Behörde zu Recht die auf Grund des § 7 Abs. 2 des Kriegsopferversorgungsgesetz 1957 ergangene Verordnung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom 9. Juni 1965, BGBl. Nr. 150, über die Richtsätze für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach den Vorschriften des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 (i.F.: Verordnung) und die in der Anlage zu dieser Verordnung genannten Richtsätze herangezogen (vgl. zuletzt das hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 2011, Zl. 2010/11/0136, mwN).

1.3. Im Beschwerdefall sind folgende Bestimmungen dieser Verordnung von Interesse:

"§ 1. (1) Die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 ist nach den Richtsätzen einzuschätzen, die nach Art und Schwere des Leidenszustandes in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage festgesetzt sind. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Leiden, für die Richtsätze nicht festgesetzt sind, ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit unter Bedachtnahme auf die Richtsätze für solche Leiden einzuschätzen, die in ihrer Art und Intensität eine zumindest annähernd gleiche körperliche Beeinträchtigung in Hinsicht auf das allgemeine Erwerbsleben bewirken.

§ 2. (1) Bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit dürfen weder die festen Sätze noch die Rahmensätze unterschritten oder überschritten werden. Soweit in der Anlage nicht anderes bestimmt ist, hat sich die Festsetzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit innerhalb eines Rahmensatzes nach der Schwere des Leidenszustandes zu richten, für den der Rahmensatz aufgestellt ist. Das Ergebnis einer Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist im Bescheid über den Anspruch auf Beschädigtenrente jedenfalls auch in medizinischer Hinsicht zu begründen.

(2) Sofern für ein Leiden mehrere nach dessen Schwere abgestufte Richtsätze festgesetzt sind, kann die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit auch in einem Hundertsatze festgesetzt werden, der zwischen diesen Stufen liegt. Diesfalls ist das Ergebnis der Einschätzung im Bescheid über den Anspruch auf Beschädigtenrente jedenfalls auch in medizinischer Hinsicht zu begründen.

§ 3. Treffen mehrere Leiden zusammen, dann ist bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zunächst von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht. Sodann ist zu prüfen, ob und inwieweit der durch die Gesamteinschätzung zu erfassende Gesamtleidenszustand infolge des Zusammenwirkens aller gemäß § 4 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigt. Fällt die Einschätzung der durch ein Leiden bewirkten Minderung der Erwerbsfähigkeit in mehrere Fachgebiete der ärztlichen Wissenschaft, ist sinngemäß in gleicher Weise zu verfahren.

Anlage:

Chirurgische und orthopädische Krankheiten

f) Wirbelsäule:

190.

Veränderungen der Wirbelsäule (posttraumatisch, entzündlich, degenerativ) mit röntgenologisch nachweisbaren geringgradigen Veränderungen und geringgradiger Funktionseinschränkung

20‑30

Geisteskrankheiten

e) Psychosen des manisch-depressiven und schizophrenen Formenkreises einschließlich der Paranoia sowie der in den letzten Jahren vorläufig als "bionegativer Persönlichkeitswandel'', "Entwurzelungsdepression'' usw. bezeichneten Zustandsbilder:

585.

Defektzustände nach akuten Schüben

0-100

586.

Akute Phasen bzw. Schübe

100

…"

1.4. Wie die belangte Behörde zutreffend ausführt, hat die Gesamteinschätzung mehrerer Leidenszustände nicht im Wege der Addition der aus den Richtsatzpositionen sich ergebenden Hundertsätze zu erfolgen, vielmehr ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht, und dann zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gerechtfertigt ist, wobei die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung auf die Erwerbsfähigkeit im Vordergrund zu stehen haben (vgl. etwa das zitierte Erkenntnis vom 10. Oktober 2011, Zl. 2010/11/0136, mwN).

Bei dieser Beurteilung hat sich die Behörde eines oder mehrerer Sachverständiger zu bedienen (§ 14 Abs. 2 BEinstG), wobei es dem Antragsteller frei steht, zu versuchen, das im Auftrag der Behörde erstellte Gutachten durch die Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl zu entkräften. Voraussetzung für eine derartige Vorgangsweise ist allerdings, dass das Gutachten des Sachverständigen (sein gesamter Inhalt) dem Beschwerdeführer im Verfahren zur Kenntnis gebracht wird (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. September 2011, Zl. 2010/11/0018).

2. Die Beschwerde ist begründet.

2.1. Der Beschwerdeführer rügt zunächst eine Verletzung des Parteiengehörs dadurch, dass die belangte Behörde es unterlassen habe, dem Beschwerdeführer die auf Grund seiner Einwendungen und dazu vorgelegten Befunde erstatteten Stellungnahmen der Sachverständigen Dr. M vom 23. März 2009 und vom 27. April 2009 vorzuhalten. Es sei dem Beschwerdeführer deshalb unmöglich gemacht worden, bestimmte, in den Sachverständigengutachten nicht berücksichtigte Aspekte aufzuzeigen. So sei etwa die Einstufung des Leidens mit nur 30 % erkennbar damit begründet worden, dass es bei der Behandlung der psychischen Problematik des Beschwerdeführers bis dato nicht zu einem stationären Spitalsaufenthalt gekommen sei. Diesbezüglich fehle aber eine Auseinandersetzung mit dem vorgelegten Befund vom 20. Februar 2009, in dem die den Beschwerdeführer behandelnde Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie eine stationäre Aufnahme zur psychischen Rehabilitation dringend empfohlen habe. Allein die medizinische Indikation eines stationären Aufenthalts hätte schon zu einer Erhöhung des Grades der Gesundheitsschädigung führen müssen. Betreffend sein Wirbelsäulenleiden brachte der Beschwerdeführer vor, der orthopädische Sachverständige habe den von ihm mit der Berufung vorgelegten orthopädischen Befund vom 7. Juli 2008, laut dem die Belastbarkeit der Wirbelsäule herabgesetzt und regelmäßige Heilgymnastik notwendig sei, in seinem Gutachten nicht berücksichtigt, da er von keinerlei maßgeblichen Funktionsbehinderungen im Bereich der Wirbelsäule ausgegangen sei. Hätte sich die belangte Behörde mit den Unzulänglichkeiten der Gutachten auseinandergesetzt, wäre sie - nach Verfahrensergänzungen - zu einer höheren Einstufung beider Leiden des Beschwerdeführers und insgesamt aufgrund der Wechselwirkungen beider Gesundheitsschädigungen zu einer Einschätzung des Grades der Behinderung von mindestens 50 % gelangt. Dass eine Einstufung in dieser Höhe gerechtfertigt sei, mache auch der Umstand deutlich, dass sich der Beschwerdeführer wegen seiner Leiden seit Februar 2008 gerechtfertigt im Krankenstand befinde, also arbeitsunfähig sei.

3. Dieses Vorbringen ist im Ergebnis zielführend.

3.1. Klarzustellen ist zunächst, dass bei der Beurteilung des zur Einschätzung des Grades der Behinderung zu Grunde zu legenden Leidens des Beschwerdeführers für die belangte Behörde die im Zeitpunkt ihrer Entscheidung geltende Sachlage maßgebend war. Während des Berufungsverfahrens allenfalls eingetretene Änderungen des Leidenszustandes waren daher von der belangten Behörde ihrer rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 26. November 2002, Zl. 2001/11/0404, mwN).

Voranzustellen ist weiters, dass auch die Stellungnahmen der Sachverständigen Dr. M vom 23. März 2009 und vom 27. April 2009 ein Gutachten darstellen und damit ein Beweismittel, das gemäß § 45 Abs. 3 AVG dem Parteiengehör zu unterziehen gewesen wäre. Daran ändert die Auffassung der belangten Behörde, in diesen Stellungnahmen sei die bisherige Beurteilung bestätigt worden, ohne dass neue Sachverhaltselemente hervorgekommen seien, nichts, zumal sich die belangte Behörde entscheidend auf diese Beweismittel gestützt hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 30. September 2011, Zl. 2010/11/0018, mwN). Da sie entgegen ihrer Verpflichtung nach § 45 Abs. 3 AVG dem Beschwerdeführer dazu nicht Parteiengehör einräumte, hat sie den angefochtenen Bescheid mit einem Verfahrensmangel belastet. Diesem kommt auch Relevanz zu:

3.2. Zwar geht die Rüge des Beschwerdeführers betreffend die Beurteilung seines Wirbelsäulenleidens ins Leere, da der orthopädische Sachverständige den vorgelegten orthopädischen Befund vom 7. Juli 2008 in seinem Gutachten sehr wohl berücksichtigte, jedoch in nicht als unschlüssig zu erkennender Weise ausführte, dass die dort beschriebenen Einschränkungen bei der Untersuchung am 23. Oktober 2008 nicht mehr verifiziert werden konnten. Einwendungen dagegen hatte der Beschwerdeführer im Rahmen des ihm zu diesem Gutachten eingeräumten Parteiengehörs auch nicht erhoben.

Anders verhält es sich jedoch mit dem Vorbringen zum psychischen Leiden des Beschwerdeführers. Nach der Aktenlage hatte sich die beim Beschwerdeführer schon 2005 und 2006 diagnostizierte und medikamentös behandelte depressive Störung (vgl. AS 8 und 9), die im erstinstanzlichen Bescheid mit einem Grad der Gesundheitsschädigung von 20% bewertet worden war, in der Folge verschlechtert. Aus dem Akteninhalt ergibt sich auch, dass der Beschwerdeführer seit Februar 2008 wegen seiner durch die Depression bedingten dauernden Arbeitsunfähigkeit durchgehend im Krankenstand war und ihm deshalb die Kündigung drohte. Die durch vom Beschwerdeführer vorgelegte Befunde vom 8. Juli 2008 und vom 12. September 2008 belegte Verschlechterung des Leidenszustandes bestätigte Dr. M nach der von ihr vorgenommenen Untersuchung und bewertete sie in ihrem Gutachten vom 23. Oktober 2008 mit einer Erhöhung des Grades der Gesundheitsschädigung auf 30%. Zu den im Rahmen des Parteiengehörs vorgelegten weiteren Befunden, insbesondere jenem vom 20. Februar 2009, aus dem hervorgeht, dass der Beschwerdeführer (mittlerweile) auch an Panikattacken litt, dass seine Medikation seit dem letzten Befund vom 12. September 2008 wesentlich gesteigert und eine stationäre Therapie dringend empfohlen wurde, hatte Dr. M ohne neuerliche Untersuchung des Beschwerdeführers in den Stellungnahmen vom 23. März 2009 und vom 27. April 2009 angegeben, Anhaltspunkte für eine geänderte Einschätzung seines Leidenszustandes hätten sich seit der Untersuchung vom 23. Oktober 2008 nicht ergeben; begründet wurde dies im Wesentlichen mit einer fehlenden Änderung des therapeutischen Zugangs, ohne jedoch auf die aus dem Befund vom 20. Februar 2009 neu hervorgehenden und gegen diese Annahme sprechenden Elemente im Einzelnen einzugehen. Auf diese Stellungnahmen hatte sich die belangte Behörde maßgeblich gestützt, obwohl sie sie weder dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht noch sich im angefochtenen Bescheid nachvollziehbar mit den zum Beleg für eine weitere Verschlechterung des Leidens des Beschwerdeführers vorgelegten Befunden auseinandergesetzt hatte.

3.3. Vor dem dargelegten Hintergrund kann nicht ausgeschlossen werden, dass die belangte Behörde bei Vermeidung der Verfahrensmängel zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

4. Der angefochtene Bescheid war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 21. Februar 2012

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