VwGH 2008/01/0364

VwGH2008/01/036417.3.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde des I M alias I M I in L, geboren 1994 alias 1987, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1. April 2008, Zl. 318.275-1/5E-V/13/08, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §18 Abs1;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
AsylG 2005 §18 Abs1;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, reiste über eine griechische Außengrenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und gelangte in der Folge in das Bundesgebiet, wo er am 10. September 2007 um internationalen Schutz ansuchte.

Bei seiner Erstbefragung am selben Tag gab er als Geburtsdatum den 3. Mai 1987 an. In der (ersten) Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 29. Oktober 2007 gab der Beschwerdeführer demgegenüber an, er sei (in Wahrheit) am 12. Jänner 1994 geboren.

Das Bundesasylamt veranlasste in der Folge eine psychiatrische Begutachtung zur Frage, inwieweit eine Aussage getroffen werden könne, ob der Beschwerdeführer minderjährig oder volljährig sei. In einem psychiatrischen Gutachten vom 27. November 2007, basierend auf einer Untersuchung am 26. November 2007, gelangte der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer einen mittelgroßen, schlanken Körperbau, Faltenbildung im Gesichtsbereich, Bartwuchs und reife Gesichtszüge aufweise. Von psychosozialer Seite sei festzuhalten, dass er die Entscheidung zur Flucht alleine getroffen und sie selbstständig organisiert habe. Eine Zukunftsplanung sei bereits vorhanden. Es fänden sich keine Ablösungsprobleme vom Heimatland und nahestehenden Menschen. Daraus schloss der Gutachter, dass das Alter der körperlichen Ausreifung üblicherweise zwischen 18 und 21 Lebensjahren anzusetzen sei. Seitens des körperlichen Aspektes sei die Pubertät und das Erreichen von zumindest 18 Lebensjahren als sehr wahrscheinlich anzusehen; seitens der psychosozialen Reifung sei "dies ebenfalls nachzuweisen". Es fänden sich Hinweise für eine ausreichende geschlechtliche, soziale Reifung und auch Zukunftsperspektiven seien nachweisbar. Daher sei insgesamt auf Grund der Zusammenschau der Befunde das Erreichen bzw. Überschreiten des 18. Lebensjahres als sehr wahrscheinlich anzusehen.

In der darauf folgenden Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt am 17. Dezember 2007 wurde diesem das Gutachten vorgehalten. Der Beschwerdeführer gab an, wie könne der Arzt wissen, wann er geboren sei, man müsse glauben, was ihm seine Eltern gesagt hätten. Das zunächst angegebene Geburtsdatum (3. Mai 1987) erklärte der Beschwerdeführer damit, dass er mit zwei anderen somalischen Staatsangehörigen von der Polizei in Deutschland aufgegriffen (und nach Österreich überstellt) worden sei, diese hätte ihm gesagt, er solle dieses Geburtsdatum angeben.

Auf Grund eines Aufnahmeersuchens der österreichischen Behörden teilte die zuständige griechische Behörde mit Schreiben vom 8. Jänner 2008 mit, dass der Beschwerdeführer in Griechenland registriert worden sei. In diesem Schreiben wurde in der Rubrik "Geburtsdatum" des Beschwerdeführers angeführt: "01-01-1993 alias 03-05-1987". Über Vorhalt des in der Mitteilung der griechischen Behörde aufscheinenden Geburtsdatums (1. Jänner 1993) meinte der Beschwerdeführer bei einer weiteren Einvernahme vor dem Bundesasylamt, er habe in Griechenland keinen Dolmetscher gehabt, sein Geburtsjahr sei 1994.

Mit Bescheid vom 28. Februar 2008 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, erklärte für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c iVm Art. 20 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Griechenland für zuständig, und wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 dorthin aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Griechenland gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig.

Begründend ging die Behörde erster Instanz davon aus, dass der Beschwerdeführer bereits volljährig sei. Die Volljährigkeit ergebe sich insbesondere aus dem psychiatrischen Gutachten vom 27. November 2007. Darüber hinaus sei auch auf Grund der unterschiedlichen Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Geburtsdatum, des äußeren Erscheinungsbildes und der Art und Weise seiner Artikulation von seiner Volljährigkeit auszugehen. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer und einer von ihm bevollmächtigten Vertreterin zugestellt.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung bestritt der Beschwerdeführer mit einer mehrseitigen Begründung die Alterseinschätzung der Behörde erster Instanz. Soweit sie sich dabei auf ein Gutachten stütze, sei dieses - aus näher dargestellten Gründen - widersprüchlich. Der Beschwerdeführer brachte weiters vor, er sei seit 29. Februar 2008 wegen einer gravierenden psychischen Erkrankung in stationärer psychiatrischer Behandlung. Eine Überstellung nach Griechenland widerspreche Art. 3 EMRK.

Der Beschwerdeführer legte in weiterer Folge unter anderem ein (über gerichtlichen Auftrag im Hinblick auf eine mögliche Unterbringung des Beschwerdeführers erstelltes) Psychiatrisch-Neurologisches Gutachten vom 16. März 2008 vor, in dem beim Beschwerdeführer eine posttraumatische Belastungsstörung und schwere depressive Episode mit Zustand nach Selbstmordversuch diagnostiziert wurde.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 5 und 10 AsylG 2005 ab. Begründend führte sie zur Frage der Volljährigkeit des Beschwerdeführers zusammengefasst aus, der Behauptung des Beschwerdeführers, in Wahrheit minderjährig zu sein, sei entgegenzuhalten, dass dieser zunächst als sein Geburtsdatum den 5. Mai 1987 angegeben (und dies erst nachträglich revidiert) habe und ein fachärztliches Gutachten vorliege, in dem "anhand mehrerer logisch nachvollziehbarer Kriterien 'das Erreichen bzw. Überschreiten des 18. Lebensjahres als sehr wahrscheinlich'" eingestuft worden sei.

Zur Frage der geltend gemachten psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers wurde im Wesentlichen ausgeführt, eine am 5. Februar 2008 von einem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie durchgeführte Untersuchung habe keine schwere psychische Störung, die einer Überstellung nach Griechenland entgegenstehen würde, ergeben. Den vom Beschwerdeführer nachträglich (im März 2008) vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen sei zwar das Vorliegen einer "depressiven Episode" sowie eine medikamentöse Behandlung und die Empfehlung einer Psychotherapie zu entnehmen, daraus würden sich aber keine nachvollziehbaren Gründe, die einer Rückführung nach Griechenland aus medizinischer Sicht entgegenstehen würden, ergeben. In der Sache selbst sah die belangte Behörde die Zuständigkeit Griechenlands zur Prüfung des Asylantrages für gegeben an. Gründe für einen Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung lägen nicht vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

1. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seinem Erkenntnis vom 16. April 2007, Zl. 2005/01/0463, grundlegend festgehalten, dass eine Alterseinschätzung bei Asylwerbern überprüfbar zu erfolgen hat, wozu es - sollte die Altersfeststellung nicht auf weitere, nachvollziehbar dargestellte Umstände gestützt werden können - im Regelfall einer Untersuchung und Beurteilung durch geeignete (zumeist wohl medizinische) Sachverständige bedarf. Sollten auch danach noch keine hinreichend gesicherten Aussagen zur Volljährigkeit möglich sein, haben die Asylbehörden im Zweifel von den Angaben des Asylwerbers zu seinem Geburtsdatum (Alter) auszugehen (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0268).

2. Hinsichtlich des vorliegenden Gutachtens gleicht der vorliegende Fall jenem, der dem genannten hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0268, zu Grunde lag; es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf dessen Begründung verwiesen. Aus den dort dargestellten Gründen reicht dieses Gutachten nicht aus, um die Volljährigkeit des Beschwerdeführers mit der erforderlichen Sicherheit feststellen zu können.

3. Soweit die belangte Behörde die Annahme, der Beschwerdeführer sei entgegen seinen Angaben bereits volljährig, auf dessen anfängliche Aussagen zu seinem Geburtsdatum stützt, ist ihr zuzugestehen, dass diese Angaben die Glaubwürdigkeit der nachfolgenden Behauptungen des Beschwerdeführers beeinträchtigen. Angesichts der aktenkundigen ärztlichen Stellungnahme, die dem Beschwerdeführer nicht nur eine (schwere) depressive Episode, sondern auch eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert, hätte es aber auch unter diesem Aspekt einer beweiswürdigenden Auseinandersetzung mit dem Aussageverhalten des Beschwerdeführers bedurft. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass psychische Erkrankungen im Hinblick auf konstatierte Unstimmigkeiten im Aussageverhalten zu berücksichtigen sind (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 15. März 2010, Zl. 2006/01/0355, mwN). Davon ausgehend ist die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid auch in dieser Hinsicht mangelhaft geblieben.

4. Da die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer sei entgegen seinen Angaben bereits volljährig, somit einer tragfähigen Grundlage entbehrt, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen, ob die Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides an den Beschwerdeführer bzw. dessen bevollmächtigte Vertreterin wirksam erfolgen konnte und die belangte Behörde damit zu einer meritorischen Erledigung der Berufung berechtigt war (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 22. November 2005, Zl. 2005/01/0415).

5. Erweist sich die meritorische Behandlung der Berufung durch die belangte Behörde aber als zutreffend, so liegt eine weitere Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides darin, dass auch die Frage, ob die Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland seine durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte verletzen würde und Österreich deshalb von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätte machen müssen, keiner ausreichenden Prüfung unterzogen wurde. Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt festgehalten hat, könnte eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte einem Asylwerber dadurch drohen, dass er bei Überstellung nach Griechenland trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt wäre (Kettenabschiebung), dass er dort (schutzlos) körperlichen Misshandlungen insbesondere durch Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre oder dass ihm Unterkunft und Versorgung nicht (rechtzeitig) zur Verfügung gestellt würde und er deshalb keine Lebensgrundlage vorfindet (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0010, und vom 15. Dezember 2010, Zl. 2006/19/1354, jeweils mwH; siehe weiters das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 21. Jänner 2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (Große Kammer), Nr. 30696/09). Dazu hat die belangte Behörde aber eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Berufungsvorbringen unterlassen und sich insbesondere mit den Ungereimtheiten in den Länderfeststellungen der ersten Instanz betreffend die Versorgungslage von Asylwerbern nicht auseinander gesetzt (vgl. auch dazu das genannte hg. Erkenntnis Zl. 2008/19/0010 sowie das hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0195). Auch unter diesem Aspekt erweist sich der angefochtene Bescheid als mangelhaft.

6. Schon deshalb war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 17. März 2011

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