VwGH 2000/20/0020

VwGH2000/20/002021.11.2002

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Racek, über die Beschwerde des DA in Wien, geboren 1978, vertreten durch Dr. Manfred Weidinger, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Ferstelgasse 1, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Oktober 1999, Zl. 205.333/0- XII/37/98, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §8;
AVG §1;
B-VG Art129c Abs1;
FrG 1997 §57 Abs1;
FrG 1997 §57;
AsylG 1997 §8;
AVG §1;
B-VG Art129c Abs1;
FrG 1997 §57 Abs1;
FrG 1997 §57;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird in seinem zweiten, die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone feststellenden Spruchteil wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Sierra Leone, reiste am 21. August 1998 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 24. August 1998 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 27. August 1998 gab er im Wesentlichen an, Soldaten der RUF seien Ende Juli 1998 nachts in sein Heimatdorf im Osten Sierra Leones eingedrungen und hätten u.a. seinen Vater zur Übergabe seiner Kinder aufgefordert. Der Beschwerdeführer habe gehört, wie sein Vater gesagt habe, es seien keine Kinder im Haus. Danach habe er einen Schuss, Hilfeschreie seiner Mutter und einen zweiten Schuss gehört. Er sei durch ein Fenster geflüchtet und habe das Land "aus Furcht vor der RUF verlassen".

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 27. August 1998 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Es vertrat - ausgehend von den als glaubwürdig erachteten Angaben des Beschwerdeführers u.a. darüber, dass die RUF in den Dörfern junge Menschen rekrutiere, Menschen umbringe und Hände abhacke, wenn man sich ihr nicht anschließe - die Auffassung, bei diesem Vorgehen handle es sich um "Übergriffe, die nicht dem Staat zurechenbar sind, da diese von Privatpersonen ausgeführt werden", und hielt dem Beschwerdeführer auch entgegen, die "Rebellen und die ihnen nahestehende RUF" seien "besiegt und soweit man ihrer habhaft wurde, entwaffnet und abgeurteilt" worden. Die "übrigen" hätten sich "in den Untergrund" begeben. Aus welchen Quellen sich dies ergebe, ließ der erstinstanzliche Bescheid nicht erkennen. Ohne Quellenangabe wurde weiters festgestellt, die "politische Lage in Sierra Leone" habe sich "zusehends stabilisiert", im Osten des Landes fänden aber "dennoch Überfälle aufständischer Rebellen und Mitglieder der RUF auf die Zivilbevölkerung statt". Der Beschwerdeführer habe Sierra Leone "auf Grund der verworrenen und unsicheren Lage im Osten" des Landes verlassen. In der rechtlichen Würdigung des Sachverhaltes wurde ihm "wie oben ausgeführt" entgegen gehalten, die "Macht" sei "wieder in den Händen der ECOMOG-Truppen" und RUF-Mitglieder würden "entwaffnet".

In seiner Berufung gegen diesen Bescheid bestritt der Beschwerdeführer diese Annahmen zum Sachverhalt. Er legte Berichte von Amnesty International vom 11. Februar und 8. Mai 1998 über die an Zivilisten begangenen Gräueltaten und einen weiteren derartigen Bericht vom 24. Juli 1998 vor, in dem u.a. auf die seit April 1998 in Gang befindliche "Operation No Living Thing" der RUF hingewiesen wurde.

Die belangte Behörde wies die Berufung gegen die Abweisung des Asylantrages - nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung am 7. Oktober 1999 - mit dem angefochtenen Bescheid gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Bestätigung der Abweisung des Asylantrages beruht im angefochtenen Bescheid auf der Rechtsansicht, die vom Beschwerdeführer für den Fall der Rückkehr geltend gemachte Gefährdung durch Gewalttaten der Rebellen sei der Art nach - vor allem wegen des mangelnden Zusammenhanges mit einem der in der Flüchtlingskonvention genannten Verfolgungsgründe - keine asylrelevante Verfolgungsgefahr. Dieser im vorliegenden Fall im Ergebnis zutreffenden, auch für die gemäß § 8 AsylG getroffene Feststellung unter dem Gesichtspunkt des § 57 Abs. 2 FrG maßgeblichen Beurteilung versucht die Beschwerde keine Argumente entgegen zu setzen, weshalb sich nähere Ausführungen dazu erübrigen.

In Bezug auf die demnach entscheidende Frage, ob eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach den Maßstäben des § 57 Abs. 1 FrG zulässig sei, hat erst die belangte Behörde damit begonnen, sich mit dem maßgeblichen Sachverhalt ernsthaft auseinander zu setzen. Dies ist im vorliegenden Fall hervorzuheben, weil die Ausführungen des Bundesasylamtes in Bezug auf den bei Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides voll im Gang befindlichen, bekanntlich mit besonderen Grausamkeiten verbundenen Bürgerkrieg in Sierra Leone auf einem insgesamt wirklichkeitsfremden Bild der Lage beruhen. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes widerspricht es dem Gesetz, wenn die Behörde erster Instanz sich in Bezug auf wesentliche Aspekte des Sachverhaltes mit unbegründeten, objektiv falschen Behauptungen begnügt und eine Prüfung der tatsächlichen Lage im Herkunftsstaat des Asylwerbers erst im Berufungsverfahren stattfindet. Ein solches Vorgehen hat zur Folge, dass sich das Verfahren zum Nachteil des Asylwerbers einem eininstanzlichen Verfahren annähert und die belangte Behörde den vom Gesetzgeber mit ihrer Einrichtung bezweckten Qualitätsgewinn für das Asylverfahren nur unter erschwerten Bedingungen gewährleisten kann (vgl. auch die Erkenntnisse vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0084 und Zl. 2002/20/0315).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde auf Grund der von ihr in das Verfahren eingeführten Unterlagen, auf die im angefochtenen Bescheid auch nachvollziehbar verwiesen wird, letztlich festgestellt, dass der Bürgerkrieg in Sierra Leone inzwischen durch das Friedensabkommen vom 7. Juli 1999 beendet sei und "in Sierra Leone die Regierung, unterstützt von ECOMOG-Truppen, die Kontrolle ausübt". "Vereinzelt" komme es zu "Plünderungen von Hilfskonvois durch hungernde, noch nicht abgerüstete ehemalige Rebellen", doch sei "von Zwangsrekrutierungen durch die Rebellen nicht auszugehen". Es könne "nicht davon gesprochen werden, dass der Staat nicht schutzfähig oder schutzwillig wäre". Mit einer Bedrohung durch die RUF sei "umso weniger" zu rechnen, als das Friedensabkommen "eine Machtbeteiligung der Rebellenorganisation RUF vorsieht".

Diese Feststellungen, gegen die sich die Beschwerde u.a. mit einem Hinweis auf Inhalte der Resolution 1270 des UN-Sicherheitsrates vom 22. Oktober 1999 wendet, lassen sich nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes in der von der belangten Behörde gewählten, undifferenziert auf ganz Sierra Leone bezogenen Form aus den herangezogenen Quellen nicht schlüssig ableiten. Dabei braucht auf das von der belangten Behörde u.a. zitierte, hinsichtlich seines Beweiswertes zweifelhafte Schreiben des (österreichischen) Generalkonsuls von Sierra Leone in Wien vom 25. Mai 1999, worin ohne nähere Einzelheiten mitgeteilt wird, "die Hauptstadt Freetown sowie der überwiegende Großteil des Staatsgebietes der Republik Sierra Leone" befänden sich "vollständig unter der Kontrolle der Regierung bzw. ECOMOG", nicht näher eingegangen zu werden (vgl. zu einem ähnlichen Schreiben aber schon das Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 2000/20/0166, und das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0072). Den von der belangten Behörde noch herangezogenen, vergleichsweise aktuelleren und ausführlicheren Berichten über das Friedensabkommen vom 7. Juli 1999 (in der "taz" vom 31. Juli 1999) und über Ereignisse rund um das Eintreffen von Rebellenführern in Freetown Anfang Oktober 1999 (aus dem "Sierra Leone Web") war nämlich entnehmbar, was bei Erlassung des angefochtenen Bescheides ohnehin auch notorisch war, dass nämlich das Friedensabkommen damals erst am Beginn seiner erhofften Verwirklichung stand. Die aktuellste der von der belangten Behörde zitierten Quellen beschrieb u.a. einen Überfall von Rebellen, bei dem auch Personen entführt wurden. Dass nur mehr vereinzelte "Plünderungen" von "Hilfskonvois" durch "hungernde, noch nicht abgerüstete ehemalige" Rebellen stattgefunden hätten, ist schon im Hinblick auf diesen Vorfall nicht nachvollziehbar. Hätte die belangte Behörde darüber hinaus noch andere im Oktober 1999 verfügbare Berichte herangezogen, so hätte sie feststellen können, dass der erwähnte Vorfall kein Einzelfall war, weite Teile des Landes weiterhin unter der Kontrolle der Rebellen standen und schwerste Menschenrechtsverletzungen zumindest in diesen Gebieten noch immer an der Tagesordnung waren (vgl. etwa den Bericht des UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs-OCHA vom 9. Oktober 1999 und eine in einer Berufungsverhandlung am 6. Oktober 1999 dem mit dem vorliegenden Fall befassten Entscheidungsorgan der belangten Behörde vorgelegte ACCORD-Anfragebeantwortung vom 4. Oktober 1999, in der auch die Drohung einer Rebellengruppe mit einem neuerlichen Angriff auf Freetown erwähnt wurde). Bei dieser Sachlage hätte die Situation in Sierra Leone in Bezug auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Bedrohung durch Menschenrechtsverstöße der Rebellen und die Annahme der belangten Behörde, diese von ihr für die Vergangenheit nicht in Abrede gestellte Gefahr sei beseitigt, unter dem Gesichtspunkt des § 57 Abs. 1 FrG einer präziseren und insbesondere in regionaler Hinsicht differenzierenden Beurteilung bedurft, der sich die belangte Behörde nicht unterzogen hat.

Es war daher der angefochtene Bescheid in seinem auf die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone bezogenen Spruchteil gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben und die Beschwerde im Übrigen gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 21. November 2002

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