VwGH 2000/20/0072

VwGH2000/20/007221.11.2002

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Racek, über die Beschwerde des RI in Wien, geboren 1979, vertreten durch Dr. Kurt Ludwig Breit, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Dominikanerbastei 22, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 30. November 1999, Zl. 203.963/4-XII/37/99, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, seinen Angaben zufolge ein Staatsangehöriger von Sierra Leone, reiste am 22. Mai 1998 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 25. Mai 1998 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 3. Juni 1998 gab er im Wesentlichen an, sein Vater habe für Koroma gekämpft und sei deshalb von Soldaten Kabbahs getötet worden. Da die Soldaten auch den Beschwerdeführer bedroht hätten, sei dieser von einem Freund seines Vaters nach Freetown gebracht worden, von wo aus er mit einem Schiff das Land verlassen habe.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 24. Juni 1998 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Es zweifelte nicht an der Herkunft des Beschwerdeführers aus Sierra Leone, schenkte aber insbesondere seiner Behauptung, die Soldaten hätten geäußert, auch ihn später töten zu wollen, keinen Glauben.

Die belangte Behörde führte aufgrund der Berufung des Beschwerdeführers am 17. November 1999 eine mündliche Berufungsverhandlung durch. Mit dem angefochtenen Bescheid wies sie die Berufung gegen die Abweisung des Asylantrages gemäß § 7 AsylG ab und stellte erneut gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Sie ging davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht Staatsangehöriger von Sierra Leone sei und es auch nicht zutreffe, dass er staatenlos sei und dort seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, legte seine Angaben zum Fluchtweg und zu den Fluchtgründen der Entscheidung mangels Glaubwürdigkeit nicht zugrunde und traf allgemein gehaltene Feststellungen zur Lage in Sierra Leone. Zur Beweiswürdigung hinsichtlich der Angaben des Beschwerdeführers führte sie aus:

"Im Rahmen der öffentlich mündlichen Verhandlung teilte der Asylwerber mit, dass er Freetown kennen würde. Jedoch ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass der Asylwerber nicht wusste, dass Freetown am Meer liegt. Auch wurde der Asylwerber aufgefordert, die Fahne von Sierra Leone aufzuzeichnen bzw. die darin befindlichen Farben richtigerweise zu nennen, was dieser jedoch nicht imstande war zu tun. Überdies konnte er mit dem Begriff 'Cotton Tree' (dem Wahrzeichen von Sierra Leone) nichts anfangen. Weiters konnte der Asylwerber nicht erklären, was 'Plassas' bedeutet. Aufgrund der CD-ROM-Microsoft Encarta Weltatlas-Version 99, Information zu Sierra Leone, Punkt 'Essen und Trinken' handelt sich dabei um eine Soße aus zerstoßenen Manjokblättern, Palmöl und Cayennepfeffer, welche in Sierra Leone typischerweise mit dem wichtigsten Grundnahrungsmittel Reis zubereitet wird und jedem Staatsangehörigen von Sierra Leone bekannt ist. Der Asylwerber wusste jedoch auch mit diesem Begriff nichts anzufangen.

Angemerkt wird ferner, dass der Asylwerber nichts über die politischen Gruppierungen in Sierra Leone weiß. Dies zeigte sich dadurch, dass ihm die Namen 'Kamajors' oder 'Sankoh' nicht bekannt waren.

Im Hinblick darauf, dass der Berufungswerber trotz Berücksichtigung seiner geringen Schulbildung über keine elementaren Grundkenntnisse hinsichtlich seines angeblichen Heimatstaates verfügt, erscheint sein gesamtes Vorbringen als absolut unglaubwürdig."

In rechtlicher Hinsicht leitete die belangte Behörde daraus ab, dass eine asylrelevante Bedrohung des Beschwerdeführers in Bezug auf Sierra Leone als "Verfolgerstaat"demnach nicht in Betracht komme. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone begründete die belangte Behörde - im Anschluss an allgemein gehaltene Rechtsausführungen - wie folgt:

"In concreto ist es dem Asylwerber jedoch gerade nicht gelungen, sein Vorbringen auch nur annähernd glaubhaft zu machen, sodass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dieser in Sierra Leone einer konkret seine Person betreffende Gefährdung ausgesetzt sein kann. Es war diesem im durchgeführten Ermittlungsverfahren nicht möglich, Indizien aufzuzeigen, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass dieser Gefahr liefe in Sierra Leone für den Fall der Rückkehr einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch aus den Feststellungen zur allgemeinen Situation in Sierra Leone ergibt sich im übrigen nicht, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde einer Gefahr im Sinne des § 57 Abs. 1 oder 2 Fremdengesetz ausgesetzt wäre.

Weiters ist auszuführen, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Glaubhaftmachung einer konkreten Gefährdungssituation (im Sinne des § 57 FrG) das Feststehen der Identität voraussetzt (vgl. VwGH 21.2.1997, 97/18/0061). Da im konkreten Fall die Identität nicht feststeht, war schon allein deshalb auszusprechen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Sierra Leone zulässig ist."

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beweiswürdigung, mit der die belangte Behörde begründet, dass der Beschwerdeführer entgegen seinen Angaben nicht aus Sierra Leone komme, hält einer Schlüssigkeitsprüfung nicht stand. Die belangte Behörde beruft sich darauf, dass der Beschwerdeführer mitgeteilt habe, er würde Freetown "kennen", und leitet unter anderem aus der mangelnden Vertrautheit des Beschwerdeführers mit bestimmten Freetown betreffenden Einzelheiten ab, der Beschwerdeführer stamme nicht aus Sierra Leone. Dabei bleibt aber unberücksichtigt, dass sich der Beschwerdeführer nach seinen in diesem Punkt stets eindeutigen Angaben niemals länger als einige Tage in Freetown aufgehalten hat, weshalb im Besonderen nicht nachvollziehbar ist, dass ihm der dort befindliche "Cotton Tree" als "Wahrzeichen von Sierra Leone" ein Begriff sein müsste. Seine mangelnde Vertrautheit mit dem Ausdruck "Plassas", der die belangte Behörde fast ein Drittel der zitierten Ausführungen zur Beweiswürdigung widmet, soll wegen des Umstandes, dass die damit bezeichnete Soße "jedem Staatsangehörigen von Sierra Leone bekannt ist", gegen die Herkunft des Beschwerdeführers aus Sierra Leone sprechen. Der erwähnte Umstand soll sich aus dem Encarta Weltatlas ergeben. Die bezogene Stelle des dem Verhandlungsprotokoll beigeschlossenen Ausdrucks lautet aber nur wie folgt:

"Essen und Trinken

Das wichtigste Grundnahrungsmittel ist Reis, der oft mit Plassas, einer Soße aus zerstoßenen Manjokblättern, Palmöl und Cayennepfeffer, zubereitet wird. Andere wichtige Nahrungsmittel sind ..."

An späterer Stelle wird in dieser Unterlage noch erwähnt, "viele der Einwohner" von Sierra Leone könnten sich "nur Reis mit Blättersauce leisten". Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes kann aber bloß daraus, dass das Grundnahrungsmittel Reis in Sierra Leone "oft" mit einer im Encarta Weltatlas als "Plassas" bezeichneten Sauce zubereitet wird und - soweit sich die belangte Behörde auch darauf bezogen haben sollte - "viele" Einwohner von Sierra Leone sich der genannten Quelle zufolge nur "Reis mit Blättersauce" leisten können, nicht der Schluss gezogen werden, diese Sauce sei unter der Bezeichnung, die der Beschwerdeführer nicht habe erklären können, nicht nur vielen Staatsangehörigen, sondern "jedem Staatsangehörigen von Sierra Leone bekannt". Die zuletzt genannte, von der belangten Behörde als Hilfstatsache eingeführte und über die herangezogene Quelle hinausgehende Annahme ist nicht nachvollziehbar begründet. Sollte sie sich durch andere Quellen besser belegen lassen, so hätte es die belangte Behörde verabsäumt, diese zu bezeichnen. Da sich der - nur eine zweijährige Schulbildung aufweisende - Beschwerdeführer zutreffend auf den militärischen Konflikt zwischen den von Kabbah und Koroma angeführten Gruppierungen beziehen konnte, lässt sich auch nicht sagen, dass er "nichts" über die politischen Gruppierungen in Sierra Leone wisse. Hier wie auch in anderen Punkten hat es die belangte Behörde, wie die Beschwerde zutreffend aufzeigt, verabsäumt, dem zum Teil vorhandenen Wissen des Beschwerdeführers (der etwa einen Hafen und die Währung von Sierra Leone benennen konnte) Rechnung zu tragen und eine Abwägung der für und gegen die Herkunft des Beschwerdeführers aus Sierra Leone sprechenden Gesichtspunkte vorzunehmen (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 16. April 2002, Zl. 2000/20/0200 und Zl. 2001/20/0329, jeweils mit weiteren Nachweisen). Dass die Beiziehung eines landeskundigen Sachverständigen nach dem Gesamteindruck der Angaben des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall zumindest zweckmäßig gewesen wäre, sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt.

Da die belangte Behörde die Angaben des Beschwerdeführers über seine Fluchtgründe (deren Glaubwürdigkeit ihrerseits die Herkunft des Beschwerdeführers aus Sierra Leone indizieren würde) ausschließlich mit den wiedergegebenen Argumenten zu seiner Herkunft als unglaubwürdig erachtet hat, führt schon die nicht ausreichende Nachvollziehbarkeit dieser Argumente zur Rechtswidrigkeit des gesamten Bescheides.

In Bezug auf die gemäß § 8 AsylG getroffene Entscheidung wäre davon abgesehen anzumerken, dass die zur allgemeinen Situation in Sierra Leone getroffene Feststellung, "im Land" herrsche "Friede" und die Regierung übe "im gesamten Land die Kontrolle aus", in dem zugrunde gelegten Schreiben vom 14. Oktober 1999, worin das Generalkonsulat der Republik Sierra Leone in Wien dies in kurzen Worten mitteilt, keine ausreichende Grundlage hat (vgl. in dieser Hinsicht schon das hg. Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 2000/20/0166). Darüber hinaus träfe auch die Ansicht, ein Abschiebungsschutz komme "schon allein deshalb" nicht in Frage, weil die Identität des Beschwerdeführers nicht feststehe, nicht zu (vgl. etwa das schon zitierte Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 2000/20/0200).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 21. November 2002

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