OGH 7Ob111/24k

OGH7Ob111/24k28.8.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S* G*, vertreten durch Heinisch Weber Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei V* AG, *, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 30.176 EUR sA, über die Rekurse der klagenden und beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 11. April 2024, GZ 1 R 47/24z‑51, womit das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 30. Jänner 2024, GZ 28 Cg 59/21b‑46, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0070OB00111.24K.0828.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Rekurse werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Rekursverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

 

Begründung:

[1] Der Kläger kaufte am 21. 1. 2020 um 39.990 EUR einen PKW VW Tiguan. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Modells EA288 ausgestattet und nach der Abgasnorm Euro 6 typisiert. Die Beklagte ist die Herstellerin.

[2] Der Dieselmotor verfügt über eine Abgasrückführung über ein AGR‑System, sowie ein SCR‑System/AdBlue mit SCR‑Katalysator. Die Abgasrückführung erfolgt nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs, wohingegen sie bei Temperaturen darüber und darunter reduziert wird („Thermofenster“).

Rechtliche Beurteilung

[3] Die Rekurse gegen die aufhebende Entscheidung des Berufungsgerichts sind entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 526 Abs 2 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig; sie zeigen keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf. Die Entscheidung kann sich auf die Anführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

[4] 1. Die Rekurse der Parteien werden aus Gründen der Zweckmäßigkeit in einem behandelt.

[5] 2.1. Nach Art 5 Abs 2 Satz 1 VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig. Eine Abschalteinrichtung ist nach der Definition in Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ein Konstruktionsteil, der die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.

[6] 2.2. Nach der Rechtsprechung des EuGH bezieht sich der Begriff „normaler Fahrzeugbetrieb“ auf die Nutzung des Fahrzeugs unter normalen Fahrbedingungen, das heißt nicht nur auf die Verwendung eines Fahrzeugs unter den Bedingungen des Zulassungstests („New European Driving Cycle“ [NEDC]). Der Begriff verweist vielmehr auf die Verwendung des Fahrzeugs unter tatsächlichen Fahrbedingungen, wie sie im Unionsgebiet üblich sind (EuGH C‑128/20 , GSMB Invest, Rn 40; C‑134/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen, Rn 47). Der EuGH hat zudem entschieden, dass Art 3 Z 10 der VO 715/2007/EG iVm Art 5 Abs 1 leg cit dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung, die die Einhaltung der in dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte nur gewährleistet, wenn die Außentemperatur zwischen 15 Grad Celsius und 33 Grad Celsius liegt und der Fahrbetrieb unterhalb von 1.000 Höhenmetern erfolgt, eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Z 10 der VO 715/2007/EG ist (EuGH C‑128/20 , GSMB Invest, Rn 44; C‑134/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen, Rn 51; C‑100/21 , Mercedes‑Benz Group AG, Rn 58; vgl auch 3 Ob 146/22z).

[7] 2.3. Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG normiert ein grundsätzliches, von Ausnahmen (vgl dazu Art 5 Abs 2 Satz 1 lit a VO 715/2007/EG ) durchbrochenes Verbot von Abschalteinrichtungen (vgl 6 Ob 155/22w). Eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist, ist eine unzulässige Abschalteinrichtung (vgl EuGH C‑145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen,Rn 73, 81; 6 Ob 155/22w). Nur wenn dies nicht der Fall ist, kann die Abschalteinrichtung bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG zulässig sein.

[8] 2.4. Stützt der klagende Käufer eines Kraftfahrzeugs einen Schadenersatzanspruch auf das Vorhandensein einer Abschalteinrichtung nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG , hat er den Eintritt eines Schadens infolge des Vorhandenseins einer Abschalteinrichtung zu behaupten und zu beweisen. Soweit sich die Beklagte auf eine Ausnahme vom Verbot einer Abschalteinrichtung stützt, liegt es in weiterer Folge an ihr, die für die Verbotsausnahme erforderlichen Voraussetzungen zu behaupten und zu beweisen (RS0106638 [T20]; 6 Ob 155/22w; 1 Ob 149/22a; 9 Ob 53/23v uva).

[9] 3.1. Das Erstgericht konnte nicht feststellen, dass im Fahrzeug eine Funktion zur Steuerung des Abgasrückführungssystems in Abhängigkeit von der Meereshöhe verbaut ist und die AGR‑Rate ab einer Höhe von über 1.000 m verringert und ab einer Höhe von 1.250 m abgeschaltet wird. Vor dem Hintergrund dieser ausdrücklichen Negativfeststellungen verstand das Berufungsgericht die weiters getroffene Aussage, dass die Abgasrückführung wegen des sinkenden Sauerstoffgehalts „angepasst“ wird – jedenfalls vertretbar – nicht dahin, dass damit eine von der Meereshöhe abhängige Verringerung der Abgasrückführung festgestellt wurde. Die Auslegung der Urteilsfeststellungen im Einzelfall ist aber regelmäßig keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO (RS0118891).

[10] 3.2. Die rechtliche Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, dass die in diesem Zusammenhang getroffenen Negativfeststellungen zu Lasten des Klägers gehen, sodass nicht vom Vorliegen einer – von der Meereshöhe abhängigen – Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG auszugehen sei, entspricht der bereits dargestellten mittlerweile gesicherten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

[11] 4.1. Richtig verweist die Beklagte darauf, dass der Oberste Gerichtshof bereits klargestellt hat, dass einerseits zwischen verschiedenen Arten von (möglichen) Abschalteinrichtungen und andererseits zwischen den Systemen der Abgasrückführung („Thermofenster“) und der Abgasnachbehandlung (SCR‑Katalysator) als unterschiedliche Bestandteile des Emissionskontrollsystems zu unterscheiden ist. Greifen die(se) technischen Systeme ineinander, ist auf das Gesamtergebnis, also auf das „Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit“ abzustellen. Bei Vorliegen eines „Thermofensters“ kommt es daher darauf an, ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt (das heißt unter Einschluss der Abgasnachbehandlung) verringert wird (10 Ob 52/23d; 3 Ob 215/23y).

[12] 4.2. Nach den Feststellungen weist das Fahrzeug ein „Thermofenster“ auf, aufgrund dessen die volle Abgasrückführung nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs erfolgt, wohingegen sie bei Temperaturen darüber oder darunter sukzessive reduziert wird. Ein solches „Thermofenster“ ist grundsätzlich eine Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG (10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023).

[13] 4.3. Das Erstgericht traf weiters die Feststellung, dass nicht festgestellt werden konnte, in welchem Temperaturbereich es zu einer Reduktion der Abgasrückführung kommen könne. Insoweit das Berufungsgericht hier die Ansicht vertritt, das Erstgericht hätte den zu dieser Frage gestellten Antrag der Beklagten auf Einvernahme eines – konkret genannten – Zeugen (in vorgreifender Beweiswürdigung) nicht abweisen dürfen, womit es das Vorliegen eines zur Verfahrensaufhebung führenden primären Verfahrensmangels bejahte, kann dem der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht entgegentreten (RS0043414; RS0042179 [T17, T20]; 9 Ob 20/16f).

[14] 4.4. Wie bereits ausgeführt weist das konkrete Fahrzeug verschiedene Systeme der Abgasrückführung („Thermofenster“) und der Abgasnachbehandlung (SCR‑System, SCR‑Katalysator) auf. Zur Beurteilung, ob eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegt, kann daher beim konkreten Fahrzeug – wie zuvor dargelegt – nicht allein auf das Vorhandensein eines „Thermofensters“ abgestellt werden. Bereits aufgrund des Fehlens von Feststellungen zum „Thermofenster“, kann auch keine Beurteilung des Emissionssystems in seiner Gesamtheit vorgenommen werden.Das Erstgericht hat daher im fortgesetzten Verfahren die Feststellungen zum „Thermofenster“ zu ergänzen und darüber hinaus auch Feststellungen zum Zusammenwirken der verschiedenen Systeme zu treffen. Erst dann kann beurteilt werden, ob im Fall der Reduktion der Abgasrückführung (also bei aktivem „Thermofenster“) eine unveränderte „Wirksamkeit der Emissionskontrollsysteme insgesamt“ sichergestellt ist.

[15] 5. Beide Rekurse waren zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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