OGH 2Ds2/24b

OGH2Ds2/24b26.8.2024

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Richter und Staatsanwälte hat am 26. August 2024 durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer und Mag. Wurzer sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Wessely‑Kristöfel als weitere Richter in Gegenwart des Schriftführers Faulhammer LL.M. (WU) im Disziplinarverfahren gegen den Richter des Bezirksgerichts * wegen Pflichtverletzung nach § 57 Abs 3 und § 57a RStDG über die Beschwerde des Disziplinaranwalts gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Disziplinargericht für Richter und Staatsanwälte vom 29. Februar 2024, GZ 34 Ds 2/23g‑8, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020DS00002.24B.0826.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Beschluss stellte das Disziplinargericht das gegen * geführte Disziplinarverfahren gemäß § 130 Abs 1 erster Fall RStDG ein.

[2] Nach dem Einleitungsbeschluss (§ 123 Abs 1 RStDG) lag dem Beschuldigten zur Last, am 15. Juni 2023 gegen die ihn gemäß § 57 Abs 3 und § 57a RStDG treffenden Pflichten, sich im und außer Dienst so zu verhalten, dass das Vertrauen in die Rechtspflege sowie das Ansehen seines Berufsstandes nicht gefährdet wird sowie seinem Vorgesetzten mit Achtung zu begegnen, dadurch verstoßen zu haben, dass er dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes * ein E‑Mail an dessen dienstliche E‑Mail‑Adresse mit folgendem Inhalt schickte:

„Betreff: Beflaggung

Sehr geehrter Herr Präsident!

Das Land beflaggt sich endlich zeitgemäß. Da hängen auch die Judizierenden Fähnlein in den Wind und setzen, so würde ein Qualitätsjournalist formulieren, mutig ein Zeichen. Zu dieser gelungenen Übung im Haltungsturnen gratuliere ich vorbehaltlos, mit Respekt und der heutzutage mit Recht stets eingeforderten unterschiedslosen Wertschätzung. Ich meine den von des Justizpalastes Zinnen verwegen herabhängenden textilen Regenbogen. Dabei darf es jedoch nicht sein Bewenden haben. Denn: Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Ich antizipierte weitere Schritte. Zum Beispiel werden Familien‑Richtexe (ich glaube, so heißt das korrekt) die Talare auf- und die bornierte Vorstellungswelt transphober Geschlechtervielfaltsleugner umzukrempeln haben, und zwar in etwa so:

Ja, Lolas Mama hat einen Penis. Sie treibt sich gern, üblich bartbestanden, in Etablissements herum, die in Dunkelzeiten unter der Bezeichnung 'Damentoiletten' firmierten, und belästigt dort, zivilgesellschaftlich wohlwollensbegleitet, das notdurftverrichtende, binär-heteronormative Weibsvolk. Dafür verfügt Lolas – überwiegend als Frau gelesener – Papa, ein lesbischer Nymphomane, also ihr Elter 2, über eine Babyhöhle, was Lolas Ausbrüten zwar erheblich begünstigt, ihre anstehende Geschlechterwahl aber nicht unbedingt erleichtert hat. Für die Auswahl unter ca. 72 Geschlechtern – also ungefähr so vielen, wie den Märtyrern Allahs an Jungfrauen in Aussicht gestellt werden – wird es Handreichungen für unsere Heranwachsenden brauchen, die noch keine präzisen Vorstellungen darüber entwickelt haben, wie falsch der ihnen von Mutter Natur zugewiesene Körper ist. Zur Bewältigung dieser Herausforderung wird es des vielfach erprobten Schulterschlusses zwischen der avantgardistischen Ministerialbürokratie und der Zivilgesellschaft bedürfen.

Übrigens, geradezu bahnbrechend: Das zuständige deutsche Ministerium empfiehlt Pubertätsblocker (und kommentiert in der von ihm bevorzugten einfachen Sprache in etwa so: 'blocker kommt von stoppen; damit hast du länger Zeit, dir dein Geschlecht zu überlegen'). Umoperieren, Brustverstümmelungen, Penisextraktionen etc. kommen für unsere kleinen CO2-Schleudern allerdings – reaktionärer gesellschaftlicher Beharrungskräfte wegen – vorerst erst ab 18 in Betracht. Bilden Sie bitte weitere Beispiele aus dem schier unerschöpflichen Fundus der Genderlehre ...

Ich für meinen Teil wünsche den Regenbogenlappenhissenden vorerst gute Besserung und

verbleibe

mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung

Ihr *“

[3] Mit dem angefochtenen Beschluss stellte das Disziplinargericht das Disziplinarverfahren gemäß § 130 Abs 1 RStDG ein und wies den Antrag des Disziplinaranwalts auf Verhängung der Disziplinarstrafe des Verweises nach § 110 Abs 2 RStDG ab.

[4] Zum Bedeutungsinhalt des E-Mails hielt es fest, der Beschuldigte habe „seinen Unmut über die Genderideologie und das Hissen der Regenbogenfahne am Amtsgebäude des Oberlandesgerichtes * zum Ausdruck bringen“ wollen.

[5] Weiters nahm es an, der Beschuldigte habe eine Kenntniserlangung des E-Mails durch andere Personen (als den Präsidenten des Oberlandesgerichtes *) innerhalb oder außerhalb der Justiz nicht beabsichtigt. Er habe es allerdings in seinen Vorsatz aufgenommen, dass er dessen Inhalt „nicht in einem gegenüber einem Vorgesetzten gebotenen achtungsvollen Umgangston“ formuliert „und er seine Kritik nicht in der gebotenen sachlichen Form“ geäußert habe.

[6] Rechtlich ging das Disziplinargericht davon aus, der Beschuldigte habe durch diese Wortwahl „den Boden einer ihm nach Art 10 EMRK zustehenden sachlichen Kritik zur Genderideologie und des Hissens der Regenbogenfahne“ verlassen und solcherart einen „Meinungsäußerungsexzess“ begangen. Eine Pflichtverletzung im Sinne des § 57 Abs 3 RStDG liege dennoch nicht vor, weil der Inhalt des E-Mails nur gegenüber dem Adressaten geäußert worden und keine weitere Publizität gegeben gewesen sei, weshalb keine Gefahr bestanden habe, dass das Vertrauen der Bevölkerung in den Berufsstand gefährdet werde.

[7] Der abschließende Wunsch nach „guter Besserung“ gegenüber dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes (in dessen Sprengel der Beschuldigte als Richter tätig ist) entspreche jedoch nicht dem Gebot achtungsvollen Umgangs mit Vorgesetzten nach § 57a RStDG und sei – auch im Lichte des Art 10 EMRK – in dieser Form unzulässig und begründe eine Verletzung dieser Standespflicht. Das Vorliegen eines Dienstvergehens nach § 101 Abs 1 RStDG verneinte das Disziplinargericht mit Blick auf Art und (geringe) Schwere der Verfehlung sowie „das Fehlen erschwerender Umstände“.

Rechtliche Beurteilung

[8] Dagegen richtet sich die Beschwerde des Disziplinaranwalts, der eine Aufhebung dieses Beschlusses anstrebt, „in eventu das Absehen von der Einleitung zumindest mit der Verhängung eines Verweises“ (iSd § 130 Abs 1 zweiter Satz RStDG) zu verbinden. Inhaltlich wird– ohne die Annahmen zum Bedeutungsinhalt des inkriminierten Schreibens in Frage zu stellen – insbesondere argumentiert, der im angefochtenen Beschluss hervorgehobene Umstand fehlender Publizität sei „nicht entscheidend“, weshalb die aus dem inkriminierten Verhalten resultierende Pflichtverletzung disziplinarrechtlich zu ahnden sei.

[9] Der Beschwerde kommt – entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur – keine Berechtigung zu.

[10] Art 10 MRK garantiert jedem das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses umfasst – nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – auch das Recht, Ideen auszusprechen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen; dies verlangen Pluralismus, Toleranz und Weitsichtigkeit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft geben kann (RIS‑Justiz RS0050067, RS0075696).

[11] Eingriffe in dieses verfassungsgesetzlich geschützte Recht sind nach Art 10 Abs 2 MRK nur zulässig, soweit sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten. Sie bedürfen gesetzlicher Rechtfertigung.

[12] Regeln über Richtern und Staatsanwälten auferlegte Pflichten (§§ 57 ff RStDG) und die disziplinarrechtliche Ahndung deren Verletzung stellen– einem legitimen Ziel dienende – gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auch Angehörigen dieser Berufsgruppe zustehenden (Muzak, B-VG6, Art 10 MRK Rz 2) Rechts auf freie Meinungsäußerung dar. Verfassungs-konformität ihrer Anwendung setzt allerdings die Einhaltung der strengen Anforderungen des Art 10 Abs 2 MRK, insbesondere unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit, voraus (vgl RIS‑Justiz RS0056168; 2 Ds 4/17m; EGMR 15. 10. 2020, Nr 965/12, Guz/Polen [vgl Rz 90, wo eine klare Unterscheidung zwischen Kritik und Beleidigung eingefordert und eine Sanktionierung von Äußerungen im zweiteren Sinn als grundsätzlich mit der Grundrechtsgarantie vereinbar bezeichnet wird]; Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 23 Rz 33; Schiedermair, IntKomm EMRK Art 10 Rz 31; vgl auch Nogratnig, Beamt:innengeschwätz und das Dienstrecht, in FS Neumayr [2023], 2637 [2647: „Kritik an vermeintlichen Missständen“ müsse „auch zulässig sein“, „ohne dass der Kritiker für die objektive Richtigkeit oder erfolgreiche Beweisführung seiner Meinung disziplinär haftet“]).

[13] Von diesen Grundsätzen ausgehend erweist sich das inkriminierte E-Mail, soweit es über weite Strecken eine polemisch formulierte, satirische und (ersichtlich bewusst) grotesk überzeichnete (vgl VfGH 24. 2. 2021, E607/2020 [zu Übertreibung als – unter dem Aspekt des Art 10 MRK zulässigem – Stilmittel]; ähnlich Nogratnig, Beamt:innengeschwätz und das Dienstrecht, in FS Neumayr [2023], 2637 [2648]) Beschreibung dessen enthält, was der Beschuldigte als (mögliche) Fehlentwicklung bei der Umsetzung von ihm als „Genderlehre“ bezeichneter (gesellschafts‑)politischer Anliegen skizziert, als eine von Art 10 MRK (gerade noch) gedeckte Reaktion auf das (gesellschafts‑)politische Signal des Anbringens der „Regenbogenfahne“ auf dem Dach eines Amtsgebäudes der Justiz. Dass Reaktionen darauf nicht nur positiv, sondern auch verletzend, schockierend oder beunruhigend ausfallen können, ist in einer pluralistischen Gesellschaft zu akzeptieren.

[14] Die abschließende Formulierung, „den Regenbogenlappenhissenden vorerst gute Besserung“ zu wünschen, suggeriert unter Berücksichtigung des ansonsten persönlich nicht beleidigenden Textinhalts– entgegen den Ausführungen in der Disziplinaranzeige und der Stellungnahme der Generalprokuratur – nicht „Geisteskrankheit des Adressaten“. Dies auch mit Blick auf die Verantwortung des Beschuldigten, er betrachte „Sexualität als ausschließliche Privatsache, und es fiele“ ihm „im Traum nicht ein“, sich „wertend über das Sexualleben anderer zu äußern“. Er besitze „nicht die Rohheit, solche“ (im Zusammenhang als „Transpersonen“ bezeichnete) „Menschen verächtlich zu machen“. Wenn der Adressat seines E-Mails aus diesem „eine generelle Intoleranz oder Verachtung gegenüber diesen Menschengruppen herausgelesen hat, so tut es mir leid“ (vgl auch Nogratnig, Beamt:innengeschwätz und das Dienstrecht, in FS Neumayr [2023], 2637 [2648: „Die Verwendung vulgärer Phrasen an sich ist für die Beurteilung eines beleidigenden Ausdrucks nicht entscheidend“]). Der oben wiedergegebene abschließende „Wunsch“ bringt aber zum Ausdruck, der Adressat (als in Justizverwaltungssachen Vorgesetzter) oder ein sonstiger für das Anbringen der Regenbogenfahne Verantwortlicher handle auf Grund (gesellschafts-)politischer Vorstellungen, die im Sinne des Beschuldigten korrekturbedürftig seien. Auf Basis des solcherart angenommenen Bedeutungsinhalts (vgl RIS‑Justiz RS0125811 [zur Entscheidungsbefugnis des Beschwerde-gerichts im Disziplinarverfahren]) stellt diese Passage – im Sinn der demnach nicht korrekturbedürftigen Ausführungen des Disziplinargerichts erster Instanz (BS 7) –jedenfalls eine Pflichtverletzung nach § 57a RStDG (zu nicht achtungsvollem Umgang mit Vorgesetzten auch als Verletzung der in § 57 Abs 3 RStDG normierten Pflicht vgl im Übrigen Fellner/Nogratnig, RStDG, GOG und StAG I5 § 57a RStDG Rz 3), mit Rücksicht auf Art und Schwere der Verfehlung aber gerade noch kein (zu ahndendes) Disziplinarvergehen nach § 101 Abs 1 RStDG dar.

[15] Dabei ist entgegen der (ersichtlich zum Ausdruck gebrachten) Beschwerdeansicht zu berücksichtigen, dass das E-Mail nur an den Präsidenten des Oberlandesgerichtes adressiert und weitere Publizität vom Beschuldigten offenbar nicht intendiert war (erneut 2 Ds 4/17m; vgl auch RIS‑Justiz RS0055086, RS0054927). Unabhängig von der Frage, ob die Verletzung einer Amts- oder Standespflicht besondere Publizität voraussetzt (verneinend Nogratnig, Beamt:innengeschwätz und das Dienstrecht, in FS Neumayr [2023], 2637 [2644, vgl aber auch S 2653 zur Bedeutung des Vertrauens der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Disziplinarrecht]), ist diese jedenfalls für das Ausmaß der mit dem inkriminierten Verhalten verbundenen Gefahr (vgl 2 Ds 4/19i) für das Vertrauen in die Rechtspflege sowie das Ansehen des Berufsstandes, und damit als Kriterium für die Beurteilung des Verhaltens als Disziplinarvergehen gleichwohl von Bedeutung.

[16] Der unbegründeten Beschwerde war sohin der Erfolg zu versagen.

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