OGH 10ObS48/24t

OGH10ObS48/24t13.8.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und FI Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei U*, vertreten durch Dr. Michael Celar, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr.in Simone Metz und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. März 2024, GZ 9 Rs 140/23 h‑22, mit dem das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 19. September 2023, GZ 35 Cgs 67/23h‑16, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00048.24T.0813.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden im Umfang der Anfechtung aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin und ihre am 22. August 2019 geborene Tochter sind ukrainische Staatsbürgerinnen. Zumindest seit der Geburt leben sie in einer dauerhaften Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse, an der sie hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Sie haben in Österreich den Mittelpunkt der Lebensinteressen. Von August 2019 bis Juni 2022 erhielt die Klägerin für ihre Tochter die österreichische Familienbeihilfe als Ausgleichszahlung. Die Klägerin und ihre Tochter verfügten zumindest seit der Geburt über einen Aufenthaltstitel als Studierende. Vor Ablauf der Gültigkeitsdauer brachten sie jeweils einen Verlängerungsantrag ein; die Entscheidung darüber wurde am 25. November 2021 rechtskräftig. Nunmehr verfügen die Klägerin und ihre Tochter über einen Aufenthaltstitel als Vertriebene.

[2] Der Ehemann der Klägerin und Vater des Kindes ist ebenfalls ukrainischer Staatsbürger, lebte von März 2018 bis Jänner 2020 als Student in Wien und ging in diesem Zeitraum keiner Beschäftigung nach. Am 9. Jänner 2020 zog er nach Polen, um dort einer unselbständigen Beschäftigung nachzugehen; mittlerweile lebt er wieder in Wien.

[3] Die Klägerin beantragte am 19. Februar 2020 anlässlich der Geburt der Tochter pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage ab der Geburt, somit für den Zeitraum 22. August 2019 bis 20. August 2020.

[4] Die beklagte Österreichische Gesundheitskasse entschied darüber bis zum 5. Mai 2023 nicht.

[5] In der am 5. Mai 2023 eingebrachten Säumnisklage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto für ihre Tochter in der Variante 365 Tage ab Geburt in gesetzlicher Höhe.

[6] Die Beklagte hielt dem Klagebegehren unter anderem entgegen, dass der Vater ab 9. Jänner 2020 in Polen eine Erwerbstätigkeit ausübe und daher ab 1. Februar 2020 Polen als Tätigkeitsstaat vorrangig und Österreich (bloß) nachrangig für Familienleistungen zuständig sei. Es seien daher die mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbaren polnischen Familienleistungen, nämlich Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) und Erziehungszulage („dodatek z tytułu opieki nad dzieckiem w okresie korzystania z urlopu wychowawczego“), gemäß § 6 Abs 3 KBGG anzurechnen.

[7] Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin für den Zeitraum 22. August 2019 bis 20. August 2020 (pauschales) Kinderbetreuungsgeld im Ausmaß von insgesamt 13.085,25 EUR (35,85 EUR x 365 Tage) für die Tochter zu zahlen. Es bejahte die Säumnis der Beklagten und das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 Abs 1 KBGG. Es verneinte eine Vergleichbarkeit der von der Klägerin bezogenen polnischen Leistung „500 Plus“ mit dem Kinderbetreuungsgeld. Eine kinderbetreuungsgeldähnliche Leistung hätten weder die Klägerin noch der Vater in Polen erhalten.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin für den Zeitraum 22. August 2019 bis 20. August 2020 pauschales Kinderbetreuungsgeld im Ausmaß von insgesamt 12.366,20 EUR (33,88 EUR x 365 Tage) für ihre Tochter zu zahlen. Der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 sei nicht eröffnet, weswegen sich nur die Frage stelle, ob und bejahendenfalls inwieweit der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld im Sinn des § 6 Abs 3 KBGG ruhe, weil Anspruch auf eine vergleichbare ausländische Familienleistung bestehe. Das in Polen gewährte Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) werde allen Einwohnern gewährt, die nicht versichert seien. Da die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum nicht Einwohnerin Polens gewesen sei, habe sie diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Ob das Abstellen auf den Wohnort der VO (EG) 883/2004 widerspreche, könne mangels Anwendbarkeit derselben dahingestellt bleiben. Auf die polnische Erziehungszulage („dodatek z tytułu opieki nad dzieckiem w okresie korzystania z urlopu wychowawczego“) habe die Klägerin ebenfalls keinen Anspruch gehabt. Zutreffend wende sich die Beklagte jedoch gegen den Zuspruch eines Tagsatzes von 35,85 EUR, weil dieser im anwendbaren Zeitraum nur 33,88 EUR betragen habe. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[9] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn eines Zuspruchs von Kinderbetreuungsgeld von 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 und von Kinderbetreuungsgeld in Form einer Ausgleichszahlung von 1. Februar 2020 bis 20. August 2020 von 29,34 EUR täglich; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] Die Klägerin beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[12] 1.1. Die Beklagte wendet sich (wie schon in der Berufung) nicht gegen die Beurteilung des Erstgerichts, das eine zur Erhebung der Klage nach § 67 Abs 1 Z 2 ASGG (iVm § 27 Abs 4 KBGG) berechtigende Säumnis annahm. Diese Frage ist daher nicht zu prüfen (RS0114196 [T9, T9a]; RS0039774 [T20]).

[13] 1.2. Die Revision zielt erkennbar auf die Anrechnung einer (bestimmten) polnischen Familienleistung ab, nämlich des Elterngelds („świadczenie rodzicielskie“). Sie führt dabei zwar (zusätzlich) aus, dass in der Literatur auch das „Erziehungsgeld“ (Erziehungszulage, „dodatek z tytułu opieki nad dzieckiem w okresie korzystania z urlopu wychowawczego“) als eine dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistung angeführt werde, sie begründet aber eine Anrechnung der Erziehungszulage nicht näher, insbesondere setzt sie sich mit der Beurteilung des Berufungsgerichts nicht auseinander, nach der die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erziehungszulage mangels Vorliegens einer Erwerbstätigkeit nicht erfüllt seien. Sofern die Revision dahin zu verstehen wäre, dass sie auch eine Anrechnung eines „Erziehungsgelds“ anstrebte, wäre die Rechtsrüge in diesem Punkt nicht gesetzmäßig ausgeführt, sodass auf die Frage der Anrechenbarkeit einer solchen Leistung nicht einzugehen ist.

[14] 1.3. Die Beklagte stellt auch nicht in Abrede, dass die Anspruchsvoraussetzungen für das pauschale Kinderbetreuungsgeld nach § 2 Abs 1 KBGG bei der Klägerin erfüllt sind und sich daraus grundsätzlich ein Anspruch in der vom Berufungsgericht errechneten Höhe von insgesamt 12.366,20 EUR ergibt, sodass dies der Entscheidung ohne Weiteres zugrunde zu legen ist.

[15] Nach den Revisionsausführungen und dem Revisionsantrag begehrt die Beklagte allerdings (nur) die Anrechnung eines Betrags von 1.657,67 EUR und bekämpft den weiteren Zuspruch an die Klägerin durch das Berufungsgericht von insgesamt 10.708,53 EUR (entsprechend einem Betrag von gerundet 29,34 EUR täglich) somit nicht. Der Zuspruch von pauschalem Kinderbetreuungsgeld an die Klägerin in Höhe von 10.708,53 EUR ist damit mangels Bekämpfung durch die Beklagte rechtskräftig. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist umgekehrt lediglich die Frage, ob infolge Anrechnung des polnischen Elterngelds („świadczenie rodzicielskie“) der darüber hinausgehende Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in der Höhe von 1.657,67 EUR (nicht) besteht.

[16] 2. Die Berücksichtigung ausländischer Familienleistungen regelt § 6 Abs 3 KBGG. Danach ruht der Anspruch auf Leistungen nach dem KBGG, sofern Anspruch auf ausländische Familienleistungen besteht, in der Höhe der ausländischen Leistungen (§ 6 Abs 3 Satz 1 KBGG). Der Differenzbetrag zwischen den ausländischen Familienleistungen und den Leistungen nach diesem Bundesgesetz wird nach Ende der ausländischen Familienleistungen auf die laufenden Leistungen nach diesem Bundesgesetz angerechnet (§ 6 Abs 3 Satz 2 KBGG).

[17] 2.1. Die Ruhensbestimmung des § 6 Abs 3 KBGG ist eine international umfassend ausgestaltete Antikumulierungsregel (RS0125752) und erfasst (seit 1. März 2017 [§ 50 Abs 15 KBGG idF BGBl I 2016/53]) sämtliche (und nicht nur gleichartige oder vergleichbare) ausländische Familienleistungen (sofern sie nicht bereits eine andere österreichische Familienleistung zum Ruhen brachten und auf diese angerechnet wurden; § 6 Abs 3 Satz 3 KBGG). Da der Anspruch auf diese Leistungen genügt, treten das Ruhen und die Anrechnung auch dann ein, wenn die ausländischen Leistungen (noch) nicht beantragt wurden (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP  9).

[18] 2.2. Aufgrund der in § 6 Abs 3 KBGG angeordneten Gesamtbetrachtungsweise ist dabei der Gesamtbetrag der ausländischen Leistung anzurechnen und es kommt nicht darauf an, ob oder inwiefern sich die Bezugszeiträume überschneiden (vgl 10 ObS 123/23w Rz 23).

[19] 2.3. Für den Fall des Zusammentreffens gleichartiger Familienleistungen, legt – in ihrem Anwendungsbereich – auch die VO (EG) 883/2004 Prioritätsregeln in Form einer Kaskade fest: Die Rangfolge bestimmt sich nach dem Grund, aus dem die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Anwendung kommen (10 ObS 117/22m Rz 18 mwN). Darauf aufbauend enthält Art 68 Abs 2 der Koordinierungsverordnung Antikumulierungsvorschriften für den Fall, dass (gleichartige) Ansprüche zusammentreffen: Der nach Abs 1 prioritär zuständige Mitgliedstaat hat die Leistung zu erbringen, wohingegen jene des nachrangig zuständigen Staats bis zur Höhe der prioritären Leistung auszusetzen ist. Ist die Leistung des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats höher als die prioritäre Leistung, hat er – wenn sich die prioritäre Zuständigkeit aus einer Beschäftigung ergibt – ergänzend die Differenz (den Unterschiedsbetrag) zu leisten. Damit wird der Familie im Ergebnis die der Höhe nach günstigste Leistung garantiert (Günstigkeitsprinzip; 10 ObS 117/22m Rz 18; 10 ObS 42/19b ErwGr 3.; Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg] Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 7; Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG4 § 2 Rz 63; Burger‑Ehrnhofer, KBGG und FamZeitbG3 § 2 KBGG Rz 55).

[20] 2.4. Ist Österreich nach der VO (EG) 883/2004 vorrangig leistungszuständig, wäre § 6 Abs 3 KBGG mit Art 68 Abs 2 VO 883/2004 nicht vereinbar, ruhen doch nach der genannten Bestimmung nur die Familienleistungen des nachrangig zuständigen Staats (RS0125752 zur insofern vergleichbaren Vorgängerverordnung). Auch im Fall der bloß nachrangigen Zuständigkeit Österreichs widerspricht diese Regelung, soweit sie auch die Anrechenbarkeit nicht vergleichbarer Leistungen normiert, der genannten Antikumulierungsregel (10 ObS 110/19b ErwGr 2.3.; Sonntag, Unions-, verfassungs‑ und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG‑Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 f). In den genannten Fällen hat § 6 Abs 3 KBGG folglich wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts von den Gerichten unangewendet zu bleiben.

[21] Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs schließt es Art 68 Abs 2 Koordinierungsverordnung aber nicht aus, auch dann einen Unterschiedsbetrag auf Basis der jeweiligen Gesamtbeträge zu ermitteln, wenn gleichartige Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten, die im selben Anspruchszeitraum beansprucht werden könnten, in sich gar nicht oder sich nur zum Teil überschneidenden Zeiträumen bezogen werden (RS0125752 [T7]).

[22] 3. Die Frage, ob bzw inwieweit (der Anspruch auf) eine ausländische Leistung nach § 6 Abs 3 KBGG zu berücksichtigen ist, richtet sich daher auch danach, ob die VO (EG) 883/2004 zur Anwendung gelangt bzw ob Österreich vorrangig oder nachrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig ist.

[23] 3.1. Der (im vorliegenden Fall allein strittige) persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist in ihrem Art 2 festgelegt. Danach gilt sie für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin nicht als Flüchtling im Sinn des Art 2 VO (EG) 883/2004 anzusehen ist, wird in der Revision nicht in Zweifel gezogen, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

[24] 3.1.1. Aufgrund der Einschränkung auf solche Personen, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, erfordert die Anwendung der VO (EG) 883/2004 das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (10 ObS 144/23h Rz 11; 10 ObS 61/19x ErwGr 3.1. mwN).

[25] 3.1.2. Darüber hinaus schränkt die VO (EG) 883/2004 ihre Anwendbarkeit auf Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen ein. Fallen Drittstaatsangehörige ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die Koordinierungsverordnung, gilt sie (und die Durchführungsverordnung [EG] 987/2009) allerdings auch für Drittstaatsangehörige und ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen aufgrund der VO (EU) 1231/2010, sofern sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und sich in einer Lage befinden, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betrifft (Art 1 VO [EU] 1231/2010). Bei Erfüllung dieser zwei zusätzlichen Voraussetzungen können sich daher auch Angehörige eines Drittstaats auf die Koordinierungsverordnung und ihre Durchführungsverordnung berufen (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg] Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 16).

[26] Der als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Unionsrechts geforderte Unionsbezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen (Spiegel in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 17). Dieser Bezug muss nicht in der Person des Leistungsberechtigten vorliegen; für Ansprüche aus abgeleiteter Sicherung genügt es, wenn er in der Person eines Familienangehörigen erfüllt ist (Spiegel in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 17). Ein ausreichender Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat wird etwa bejaht, wenn ein Drittstaatsangehöriger in einem Mitgliedstaat arbeitet und dessen Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat leben (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg] Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 16).

3.2. Als Zwischenergebnis ist demnach festzuhalten:

[27] 3.2.1. Im Zeitpunkt des beantragten Bezugsbeginns (Geburt der Tochter) bis zum 9. Jänner 2020 waren beide Elternteile in Österreich wohnhaft und es lag auch sonst kein Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat vor. Mangels Erstreckung der Wirkung durch die VO (EU) 1231/2010 kann die VO (EG) 883/2004 für diesen Zeitraum daher nicht zur Anwendung gelangen, sodass das Unionsrecht einer Anwendung des § 6 Abs 3 KBGG auf den in diesem Zeitraum bestehenden Anspruch nicht entgegen steht. Der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in diesem Zeitraum unterliegt daher einer Anrechnung durch sämtliche (auch nicht vergleichbare und auch nicht zeitlich kongruente) ausländische Familienleistungen, sofern darauf ein Anspruch besteht.

[28] Für den Fall, dass sich – wie hier – die Zuständigkeit für die Gewährung von Familienleistungen ändert, sieht die Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 vor, dass der Träger, der die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gezahlt hat, nach denen die Leistung zu Beginn des Monats gewährt wurden, unabhängig von den in den Rechtsvorschriften dieser Mitgliedstaaten für die Gewährung von Familienleistungen vorgesehenen Zahlungsfristen die Zahlungen bis zum Ende des laufenden Monats fortsetzt (Art 59 Abs 1 Durchführungsverordnung [EG] 987/2009). Das bedeutet, dass ein zu Beginn des Monats Jänner 2020 (nur) nach den österreichischen Rechtsvorschriften zu beurteilender Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld bis zum Ende dieses Kalendermonats fortzuzahlen wäre und eine Zuständigkeitsänderung erst ab 1. Februar 2020 Berücksichtigung fände.

[29] 3.2.2. Ab dem 9. Jänner 2020 war der Ehemann der Klägerin und Vater jedoch unselbständig in Polen beschäftigt, wodurch jedenfalls ein grenzüberschreitender Sachverhalt im Sinn der VO (EG) 883/2004 hergestellt wurde. Da der rechtmäßige Aufenthalt der Beteiligten in einem Mitgliedstaat nicht strittig ist und aufgrund der Beschäftigung eines Familienangehörigen in Polen eine Verbindung zu mehr als nur einem einzigen Mitgliedstaat (Österreich und Polen) hergestellt wurde, ist ab diesem Zeitpunkt die VO (EG) 883/2004 im Weg der VO (EU) 1231/2010 anzuwenden.

[30] Nach Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 könnte ab diesem Zeitpunkt der Beschäftigungsstaat (Polen) vorrangig und der Aufenthaltsstaat (Österreich) nachrangig für die Leistungsgewährung zuständig sein, sodass das Kinderbetreuungsgeld gemäß Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 bis zum Betrag einer vergleichbaren polnischen Leistung ausgesetzt würde.

[31] 3.3.3. Soweit die Klägerin in der Revisionsbeantwortung auf dem Standpunkt steht, dass der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 mangels Flüchtlingseigenschaft der Klägerin nicht eröffnet sei, ist nicht ersichtlich, warum dies einem auf die VO (EU) 1231/2010 gestützten Anwendungsbereich entgegen stehen sollte. Auf eine solche Flüchtlingseigenschaft stützt sich die Beklagte in der Revision auch nicht.

4. Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

[32] 4.1. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass ein Anspruch auf das polnische Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) daran scheitere, dass die Klägerin nicht als Einwohnerin Polens anzusehen sei. Die weitere Beurteilung, dass die VO (EG) 883/2004 hier nicht anwendbar und die Frage, ob das Abstellen auf den Wohnort ihrem Art 7 widerspreche, somit nicht entscheidungsrelevant sei, trifft allerdings nur für Zeiträume vor dem 9. Jänner 2020 zu.

[33] Ab dem 9. Jänner 2020 gelangt demgegenüber die VO (EG) 883/2004 im Wege der VO (EU) 1231/2010 zur Anwendung. Nach Art 7 VO (EG) 883/2004 dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Eine Person hat vielmehr auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden (Art 67 VO [EG] 883/2004). Aufgrund der Exportpflicht könnte einem nach polnischem Recht zustehenden Anspruch der Klägerin somit nicht entgegen gehalten werden, dass ihr Wohnort nicht in Polen, sondern in Österreich liegt.

[34] 4.2. Entgegen der Beurteilung des Berufungsgerichts könnte ein allfälliger Anspruch der Klägerin auf polnisches Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) somit ab dem 1. Februar 2020 (Art 59 Durchführungsverordnung [EG] 987/2009) nicht am Wohnort der Klägerin in Österreich scheitern, sodass ein Anspruch der Klägerin zu bejahen sein könnte, der auf den Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld anzurechnen wäre. Diese Berücksichtigung könnte (mangels Anwendbarkeit der VO [EG] 883/2004) im Zeitraum 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 unabhängig von einer Vergleichbarkeit mit dem pauschalen Kinderbetreuungsgeld erfolgen, während eine Anrechnung im Zeitraum 1. Februar 2020 bis 20. August 2020 (wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts) die Vergleichbarkeit der Leistungen voraussetzen würde.

[35] 4.3. Entgegen der Rechtsansicht der Klägerin ist dabei nicht entscheidend, dass sie ihren Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht aus der Beschäftigung des Vaters des Kindes ableitet. Der Anspruch der Klägerin auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld steht vielmehr ohnedies außer Frage (oben ErwGr 1.3.).

[36] Soweit die Klägerin auf dem Standpunkt steht, die Beklagte hätte nach Art 68 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 eine vorläufige Leistung bis zur Höhe des beantragten Kinderbetreuungsgelds zu gewähren, ist dies insofern unrichtig, als der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nachrangig gelten, danach erforderlichenfalls bloß den in Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 genannten Unterschiedsbetrag zu zahlen hat. Die Frage, ob ein solcher Unterschiedsbetrag (der in der Differenz von Kinderbetreuungsgeld und polnischem Elterngeld bestünde) im vorliegenden Fall als Vorschuss zu gewähren gewesen wäre, stellt sich allerdings nicht (mehr), weil der Klägerin dieser ohnedies bereits rechtskräftig zuerkannt wurde (oben ErwGr 1.3.). Im Übrigen bedarf es im vorliegenden Fall schon deswegen keiner vorläufigen Zahlung nach der VO (EG) 883/2004 und der Durchführungsverordnung (EG) 987/2009, weil diese Rechtsvorschriften auf den Anspruch der Klägerin vor dem 1. Februar 2020 nicht zur Anwendung gelangen können.

[37] Da es um die Frage der Anrechnung einer polnischen Leistung geht, ist somit relevant, ob sie einen solchen Anspruch aus der Beschäftigung ihres Ehemannes in Polen ableiten könnte, der sodann auf den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld der Klägerin anzurechnen sein könnte.

[38] 5.1. Mangels Ermittlung der diesbezüglichen polnischen Rechtsvorschriften lässt sich aber nicht beurteilen, ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf das polnische Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) überhaupt besteht und, bejahendenfalls, ob es sich um eine mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung handelt. Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin kommt einer allfälligen – von der Klägerin nicht näher bezeichneten – Mitteilung der polnischen Behörden über das Bestehen eines solchen Anspruchs dabei keine wesentliche Bedeutung zu.

[39] 5.2. Das stellt einen Verfahrensmangel besonderer Art dar, der zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen zur amtswegigen Ermittlung des ausländischen Rechts führt (10 ObS 123/23w Rz 24; 10 ObS 50/23k Rz 24). Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren das für das Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) maßgebliche polnische Recht (die relevanten polnischen Bestimmungen einschließlich der Anwendungspraxis im Ursprungsland) zu ermitteln haben. Ausgehend davon ist zu prüfen, ob der Klägerin ein Anspruch auf Elterngeld („świadczenie rodzicielskie“) im Zeitraum 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 bzw 1. Februar 2020 bis 20. August 2020 zustand. Sollte der Anspruch auf Elterngeld nach polnischem Recht von einem Wohnsitz in Polen abhängig gemacht werden, stünde dies einem derartigen Anspruch im Zeitraum 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 (mangels Anwendbarkeit des Unionsrechts in diesem Zeitraum) entgegen, sodass in diesem Umfang auch eine Anrechnung auf das Kinderbetreuungsgeld ausscheiden würde (und zwar unabhängig vom Anspruchszeitraum). Sollte im Zeitraum ab 1. Februar 2020 (bis zum Ende der Anwendbarkeit der VO [EG] 883/2004, das mangels diesbezüglicher Feststellungen noch nicht feststeht) ein Anspruch auf Elterngeld nach polnischem Recht ausschließlich daran scheitern, dass der Wohnsitz der Klägerin außerhalb Polens lag, wäre ein Anspruch auf Elterngeld wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in diesem Zeitraum zu bejahen, sodass er auf das im Zeitraum 22. August 2019 bis 31. Jänner 2020 gebührende Kinderbetreuungsgeld unabhängig von einer Vergleichbarkeit der Leistungen und auf das im Zeitraum 1. Februar 2020 bis 20. August 2020 gebührende Kinderbetreuungsgeld nur nach Maßgabe einer – gegebenenfalls zu prüfenden – Gleichartigkeit der Leistung anzurechnen sein könnte.

[40] 6.1. Der Revision ist daher Folge zu geben und die Rechtssache im Umfang der Anfechtung zur Verfahrensergänzung im dargestellten Sinn und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[41] 6.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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