OGH 10ObS41/24p

OGH10ObS41/24p13.8.2024

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Mag. Günther Holzapfel, MBA, Rechtsanwalt in Andorf, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Anfechtung eines Vergleichs, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. März 2024, GZ 12 Rs 36/24 m‑6, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. Februar 2024, GZ 14 Cgs 19/24i‑2, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00041.24P.0813.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 28. Jänner 2022 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers, ihm Pflegegeld zu gewähren, ab.

[2] Im deswegen geführten sozialgerichtlichen Verfahren zu 3 Cgs 49/22t des Landesgerichts Ried im Innkreis (künftig: Vorverfahren) schlossen die Parteien einen Vergleich, mit dem sich die Beklagte verpflichtete, dem Kläger Pflegegeld der Stufe 1 zu zahlen.

[3] Mit seiner nunmehr eingebrachten Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass dieser Verglich unwirksam sei, weil er im Vorverfahren einem Irrtum unterlegen sei.

[4] Das Erstgericht wies die Klage a limine wegen sachlicher Unzuständigkeit zurück. Abgesehen von hier nicht vorliegenden Ausnahmen könne der Versicherte nur Klagebeim Sozialgericht erheben, wenn vom Versicherungsträger entweder ein Bescheid über den geltend gemachten Anspruch erlassen worden oder der Versicherungsträger damit säumig sei. Beides sei hier nicht Fall. Die Klage führe auch nicht zur Fortsetzung des durch den Vergleich beendeten Vorverfahrens, sodass keine Sozialrechtssache vorliege, für die eine Zuständigkeit des Arbeits- und Sozialgerichts gegeben sei. Da der Kläger die Klage nicht bewertet habe, sei vom Zweifelsstreitwert des § 56 Abs 2 JN auszugehen, sodass das Landesgericht Ried im Innkreis sachlich unzuständig sei.

[5] Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der dagegen erhobene, gemäß § 521a Abs 1 iVm Abs 2 ZPO einseitige (RS0039200 [T45]) Revisionsrekurs ist zur Klarstellung zulässig. Er ist aber nicht berechtigt.

1. Voranzustellen ist zweierlei:

[7] 1.1. Zum einen sind Rechtssachen, die von den Vorinstanzen formell, also nach der Zusammensetzung der Senate (§ 11 ASGG) und nach der Bezeichnung (§ 36 ASGG), als Sozialrechtssachen behandelt wurden, vom 10. Senat als dem für alle nicht dem 8. Senat zugewiesenen Sozialrechtssachen iSd § 65 ASGG zuständigen Fachsenat des Obersten Gerichtshofs zu entscheiden. Darauf, ob nach dem Inhalt des Begehrens und den Klagebehauptungen tatsächlich eine Sozialrechtssache iSd § 65 ASGG vorliegt, kommt es dabei nicht an (10 ObS 5/24v Rz 8).

[8] 1.2. Zum anderen richten sich jedenfalls dann, wenn Anspruchsgrundlage und Zuständigkeitstatbestand auseinanderfallen, die Besetzung des Rechtsmittelgerichts und die anzuwendenden Rechtsmittelzulassungsvorschriften aus Gründen der systematischen Einheit nach dem ASGG, auch wenn keine Arbeits- und Sozialrechtssache vorliegt, darüber aber ein Senat entschieden hat, der nach den Bestimmungen des ASGG zusammengesetzt war (RS0112481 [T1]; vgl 1 Ob 143/18p ua). Die Entscheidung hat hier daher gemäß § 11a Abs 3 ASGG zu erfolgen; der Wert des Entscheidungsgegenstands ist für die Zulässigkeit des Rechtsmittels ohne Bedeutung.

[9] 2. Nach der ständigen Rechtsprechung ist die Unwirksamkeit gerichtlicher Vergleiche wegen materieller Mängel, wie sie hier der Kläger behauptet, mit Feststellungsklage geltend zu machen (RS0032501 [insb T5]; RS0037318). Diese übernimmt in diesem Bereich die Funktion der insoweit nicht zulässigen Rechtsmittelklagen (RS0037333 [insb T2, T3]). Auch wenn der Prozessvergleich materiell unwirksam ist, kann er prozessual weiterhin wirksam sein und umgekehrt (RS0032546 [T1]; RS0032464 [T2, T3]; 9 ObA 47/23m Rz 23 ua). Der Vergleich behält daher seine prozessbeendende (prozessuale) Wirkung auch dann, wenn er mit selbständiger Klage materiell erfolgreich bekämpft wurde (8 Ob 9/15d).

[10] 3. § 65 Abs 1 ASGG umschreibt den Begriff der Sozialrechtssachen und bildet im Zusammenhang mit den §§ 3 und 1 ASGG die Grundlage für die sachliche Zuständigkeit der Arbeits- und Sozialgerichte in diesen Angelegenheiten (10 ObS 124/17h ErwGr 1.; 10 ObS 166/13d ErwGr II.1.2).

[11] 3.1. Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 65 Abs 1 Z 1 ASGG liegt eine Sozialrechtssache (nur) dann vor, wenn zwischen dem Versicherten und dem Sozialversicherungsträger entweder der Grund oder die Höhe (der Umfang) des Anspruchs auf Versicherungsleistungen oder das Ruhen eines solchen Anspruchs streitig ist (RS0085473; 10 ObS 19/21y Rz 15 ua). Kern eines solchen Verfahrens ist daher die Frage der Gewährung oder Nichtgewährung von Versicherungsleistungen (RS0085473 [T1]; 10 ObS 67/22h Rz 11 ua).

[12] 3.2. Gemäß § 67 Abs 1 ASGG darf in einer Leistungssache nach (unter anderem) § 65 Abs 1 Z 1 ASGG vom Versicherten eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger bereits mit Bescheid darüber entschieden (Z 1) oder den Bescheid nicht innerhalb der in § 67 Abs 1 Z 2 ASGG genannten Fristen erlassen hat (sukzessive Kompetenz). Außerhalb von Säumnisfällen setzt jede Klage somit einen Bescheid voraus, der „darüber“, das heißt über den der betreffenden Leistungssache zugrunde liegenden Anspruch des Versicherten ergangen sein muss (RS0085867; 10 ObS 56/22s Rz 8). Dies gilt auch für Feststellungsbegehren nach § 65 Abs 2 ASGG (RS0085867).

[13] 4. Die vorliegende Klage betrifft weder Fragen der (Nicht-)Gewährung von Versicherungsleistungen, noch kann der Ausgang des Verfahrens etwas an der Beendigung des Vorverfahrens ändern. Zu prüfen ist ausschließlich die Frage der materiellen Wirksamkeit des im Vorverfahren geschlossenen Vergleichs, nicht aber der damit verglichene Anspruch. Es liegt auch kein Bescheid vor, mit dem über den hier geltend gemachten Anspruch (auf Feststellung der Unwirksamkeit des Vergleichs) abgesprochen worden wäre – ein solcher ist hier auch nicht denkbar.

[14] 4.1. Eine Sache iSd § 65 Abs 1 Z 1 ASGG, die die (sachliche) Zuständigkeit der Sozialgerichte begründen könnte, liegt daher nicht vor. Soweit der Kläger dem – wie schon im Rekurs – bloß entgegenhält, nur das Sozialgericht könne einen vor ihm geschlossenen Vergleich „beseitigen“ bzw für unwirksam erklären, bleibt er dafür weiterhin jegliche Begründung schuldig.

[15] 4.2. Ausgehend davon lässt sich als Zwischenergebnis folgender Rechtssatz formulieren:

Eine selbständige Klage, mit der die Unwirksamkeit eines in einem sozialgerichtlichen Verfahren geschlossenen Vergleichs über einen Leistungsanspruch geltend gemacht wird, ist keine in die Zuständigkeit der Sozialgerichte fallende Sozialrechtssache.

[16] 5. Dass darauf aufbauend die bezirksgerichtliche Wertgrenze (§ 49 Abs 1 JN) nicht überschritten und demnach das Landesgericht Ried im Innkreis sachlich unzuständig ist, bestreitet der Kläger zu Recht nicht.

[17] 6. Ob die Sache anders zu beurteilen wäre, wenn anstatt Erhebung einer Feststellungsklage der verglichene (sozialrechtliche) Anspruch neu eingeklagt wird, sodass über die Wirksamkeit des Vergleichs lediglich als Vorfrage zu entscheiden wäre (vgl Trenker in Kodek/Oberhammer, §§ 204–206 ZPO Rz 67), muss hier ebenso wenig entschieden werden wie die Frage, ob die Anfechtungsklage und die (neue) Leistungsklage gemeinsam erhoben werden könnten (vgl Klicka in Fasching/Konecny, §§ 204–206 ZPO‑ON Rz 44 [aE]).

[18] 7. Kosten wurden nicht verzeichnet.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte