OGH 5Ob27/24t

OGH5Ob27/24t27.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi, die Hofrätin Dr. Weixelbraun‑Mohr und den Hofrat Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen L*, geboren am * 2017, *, Mutter K*, *, vertreten durch die Allen & Oberdorfer Rechtsanwältinnen OG in Wien, Vater Dr. M*, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr.in Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 6. Dezember 2023, GZ 23 R 475/23k‑102, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0050OB00027.24T.0627.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist (nur) die Frage, welcher Elternteil bei vereinbarter gemeinsamer Obsorge zum „Domizilelternteil“ iSd § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB bestimmt werden soll.

[2] Das Erstgerichtlegte den hauptsächlichen Aufenthalt der Minderjährigen unter Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge beim Vater fest. Es sprach aus, dass es sich hierbei lediglich um einen nominellen Anknüpfungshaushalt für andere Rechtsfolgen handle, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort ist, wie für die Bestimmung des Hauptwohnsitzes des Kindes im Sinn des Melderechts oder die Geltendmachung von Familien- und Wohnbeihilfe. Die Wohnortbestimmung komme dem Vater iSd § 162 Abs 2 ABGB nicht allein zu.

[3] Das Berufungsgericht gab dem Rekurs der Mutter Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahin ab, dass der hauptsächliche Aufenthalt der Minderjährigen unter Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge gemäß § 162 Abs 2 ABGB im Haushalt der Mutter festgelegt werde. Eine Beschränkung der Bestimmung des Hauptaufenthaltsorts auf dessen Funktion als bloß nominellen Anknüpfungspunkt nahm es nicht vor.

Rechtliche Beurteilung

[4] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs desVaters. Dieser zeigt keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSv § 62 Abs 1 AußStrG auf und ist daher zurückzuweisen.

[5] 1.1. Wird die Ehe oder die häusliche Gemeinschaft der Eltern aufgelöst, so bleibt die Obsorge beider Eltern aufrecht. Sie können jedoch vor Gericht eine Vereinbarung schließen, wonach ein Elternteil allein mit der Obsorge betraut wird oder die Obsorge eines Elternteils auf bestimmte Angelegenheiten beschränkt wird (§ 179 Abs 1 ABGB). Im Fall der Beibehaltung der Obsorge beider Elternteile haben diese vor Gericht eine Vereinbarung darüber zu schließen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird (§ 179 Abs 2 ABGB).

[6] Wenn binnen angemessener Frist eine Vereinbarung nach § 179 ABGB nicht zustande kommt, hat das Gericht eine Obsorgeregelung zu treffen (§ 180 Abs 1 Z 1 ABGB). Wenn das Gericht beide Eltern mit der Obsorge betraut, hat es auch festzulegen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird (§ 180 Abs 2 ABGB). Das gilt – dem Zweck der Regelung entsprechend – auch für den Fall, dass die vereinbarte Obsorge beider Elternteile aufrecht erhalten werden soll, aber über den Antrag eines Elternteils zu entscheiden ist, der die hauptsächliche Betreuung des Minderjährigen in seinem Haushalt anstrebt (vgl 5 Ob 106/20d [§ 180 Abs 3 ABGB]).

[7] 1.2. Die Festlegung des Haushalts der hauptsächlichen Betreuung gemäß § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB ist auch bei einer Doppelresidenz, also im Fall gemeinsamer Obsorge und Betreuung des Kindes zu gleichen Teilen erforderlich (RS0130918). Er dient in diesem Fall aber nur als nomineller Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort ist, wie insbesondere für die Bestimmung des Hauptwohnsitzes des Kindes im Sinn des Melderechts oder die Geltendmachung von Familien- und Wohnbeihilfe. Dies ist im Spruch der Entscheidung des Gerichts zum Ausdruck zu bringen (RS0130981).

[8] 1.3. Maßstab für die Entscheidung über die Obsorge und die Frage, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird, ist (grundsätzlich) das Kindeswohl (2 Ob 120/23w). Bei der Beurteilung des Wohls des Kindes darf nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden, sondern es sind auch Zukunftsprognosen zu stellen (RS0048632). Auch der Grundsatz der Erziehungskontinuität ist mitzuberücksichtigen, aber dem Kindeswohl unterzuordnen (2 Ob 120/23w; RS0047928). Es kommt darauf an, welcher Elternteil in einer Gesamtschau unter Gegenüberstellung der Persönlichkeit, der Eigenschaften und der Lebensumstände besser zur Wahrnehmung des Kindeswohls geeignet ist. Neben dem materiellen Interesse an möglichst guter Verpflegung und guter Unterbringung des Kindes sind auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, möglichst sorgfältiger Beaufsichtigung und an möglichst günstigen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen seelischen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen (2 Ob 120/23w; RS0047832).

[9] Bei einer Doppelresidenz ist hingegen bei erstmaliger Bestimmung des (nominellen) Hauptbetreuungshaushalts des Kindes darauf abzustellen, von welchem Elternteil die mit der nominellen Anknüpfung verbundenen Aufgaben bisher ausgeübt wurden und ob dieser Elternteil dazu geeignet ist (RS0130981 [T4a]). Die Eignung bezieht sich somit nicht auf die Betreuung des Kindes, sondern die (primäre) Wahrnehmung jener Aufgaben, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort der Minderjährigen ist, also beispielsweise Bestimmung eines Hauptwohnsitzes, Geltendmachung von Familien‑ oder Wohnbeihilfe (vgl 3 Ob 71/17p; 9 Ob 82/16y).

[10] Die Festlegung des hauptsächlichen Betreuungshaushalts erfolgt demnach grundsätzlich nach unterschiedlichen Kriterien, je nachdem ob ein Doppelresidenzmodell oder ein Heim erster Ordnung („Eingliederungsmodell“) gewählt oder gerichtlich angeordnet wurde.

[11] 1.4. Die Frage, welchem Elternteil die hauptsächliche Betreuung iSd § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB zukommen soll, hängt – unabhängig davon, ob es sich um einen bloß nominellen oder einen tatsächlichen hauptsächlichen Betreuungsort handelt – von den Umständen des Einzelfalls ab (3 Ob 72/19p; RS0130918 [T3]; RS0115719 [T14]; RS0007101 [T19]). Sie wirft daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[12] 2.1. Im vorliegenden Fall ist strittig, ob auf Basis der von den Eltern getroffenen Kontaktvereinbarung von einem Fall der Doppelresidenz auszugehen ist oder nicht. Die jeweiligen Anträge der beiden Elternteile, sie als Domizilelternteil zu bestimmen, sehen keine für den Fall der Doppelresidenz gebotene Einschränkung vor, das Erstgericht bejahte das Vorliegen einer solchen und das Rekursgericht verneinte dies.

[13] 2.2. Von der Doppelresidenz eines Kindes spricht man, wenn seine Eltern nicht im gemeinsamen Haushalt leben und das Kind sowohl bei der Mutter als auch beim Vater wohnt, indem es in etwa gleichen Zeiträumen zwischen den Haushalten der Eltern wechselt. Alle paar Tage, wochenweise oder in einem anderen Rhythmus betreuen die Eltern abwechselnd das Kind in ihrem jeweiligen Haushalt. Im Gegensatz zum Eingliederungsmodell, bei dem das Kind hauptsächlich im Haushalt eines Elternteils lebt, besteht bei der Doppelresidenz faktisch kein „Heim erster Ordnung“, weil der Aufenthalt des Kindes annähernd gleichmäßig auf zwei Haushalte verteilt wird (Fischer‑Czermak, Doppelresidenz aus obsorge- und kontaktrechtlicher Sicht, EF‑Z 2019/138, 250).

[14] Der Oberste Gerichtshof spricht in den von ihm entschiedenen Doppelresidenzfällen zwar von einer „Betreuung des Kindes zu gleichen Teilen“ (RS0130981). Dieser und ähnlichen Formulierungen liegt aber nicht das Verständnis zu Grunde, dass zwingend eine völlig gleichteilige Betreuung vorliegen muss und eine Doppelresidenz nicht auch bei einer bloß annähernd gleichteiligen Betreuung vorliegen kann. Fraglich ist aber, ab wann von einer annähernd gleichteiligen Betreuung gesprochen werden kann, wo also die Grenze zwischen einer Doppelresidenz und der Hauptbetreuung durch einen Elternteil mit umfassender Kontaktregelung zum anderen liegt (Fischer‑Czermak, EF‑Z 2019/138, 250).

[15] Für die Ermittlung des Betreuungsausmaßes ist zwar auf die Kontakttage abzustellen, aber nicht in Form einer „Berechnung“ schlicht nach (exakter) stundenweiser Zeiterfassung der persönlichen Anwesenheit und deren Summation; sie ist vielmehr in einer generalisierenden und wertenden Betrachtung vorzunehmen (vgl zu dem ebenfalls auf annähernd gleichteilige Betreuung abstellenden betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodell 6 Ob 26/24b; 4 Ob 45/19z). Diese nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmende wertende Betrachtung eröffnet einen gewissen Beurteilungsspielraum. Solange das Gericht zweiter Instanz seine Entscheidung innerhalb dieses Beurteilungsspielraums trifft, liegt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG vor.

[16] 2.3. Eine vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit ausnahmsweise auch im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung dieser Frage durch das Rekursgericht zeigt der Revisionsrekurs nicht auf.

[17] Die Betreuung der Minderjährigen erfolgt hier nach dem vereinbarten und gelebten Regelkontaktrecht in einem wochenweisen Wechsel. Das Betreuungsverhältnis beträgt bezogen auf Übernachtungen in geraden Kalenderwochen 3:4 (zugunsten des Vaters) und in ungeraden Kalenderwochen 5:2 (zugunsten der Mutter), über einen vierzehntägigen Zeitraum somit insgesamt 8:6 (rund 43 % zu rund 57 %) zugunsten der Mutter. Die Beurteilung des Rekursgerichts, angesichts dieses Überhangs von Betreuungstagen bzw -nächten zugunsten der Mutter und des noch deutlicheren Unterschiedsbei den der Vereinbarung entsprechenden Betreuungsstunden (bei 14 Tagen ohne Betreuungszeit im Kindergarten 190 Betreuungsstunden durch die Mutter, 146 Betreuungsstunden durch den Vater), bestehe zeitlich keine annähernd gleichteilige Betreuung im Sinn des Doppelresidenzmodells, ist jedenfalls keine auffallende Fehlbeurteilung.

[18] An der Vertretbarkeit der Beurteilung des Rekursgerichts ändert sich auch nichts, wenn man für die Beurteilung des Ausmaßes der Betreuung die tatsächliche Betreuung im gesamten (Kalender-)Jahr heranzieht und die Betreuung in den Ferien in gleichem Maße berücksichtigt (vgl zum betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodell RS0131331 [T3]). Die Ferienregelungen sehen zwar – nach dem Vorbringen des Vaters – eine gleichteilige Betreuung vor, sodass zwar nach Kontakttagen insgesamt zu dessen Gunsten ein etwas anderes Betreuungsverhältnis erreicht wird, diese rechnerische Änderung kann aber die wertende Gesamtbetrachtung des Rekursgerichts nicht ausschlaggebend in Frage stellen.

[19] Das vom Rekursgericht erzielte Ergebnis steht – auch wenn diese nicht ohne Weiteres auf Obsorgeentscheidungen zu übertragen ist – durchaus im Einklang mit der Rechtsprechung zum „betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodell“. Wiederholt hat der Oberste Gerichtshof in diesem Zusammenhang betont, dass es jeweils im konkreten Einzelfall zu beurteilende (6 Ob 26/24b) Kriterium „Gleichwertigkeit der Betreuungsleistungen“ – wenn überhaupt – nur ganz geringfügige Unterschiede erlaubt (8 Ob 89/17x mwN). So verneinte der Oberste Gerichtshof das Vorliegen einer nahezu gleichwertigen Betreuung etwa bei einem Betreuungsverhältnis von 42 % zu 58 % oder noch geringerer Betreuungsleistungen jenes Elternteils, bei dem sich das Kind nicht hauptsächlich aufhält. Demgegenüber erachtete er eine Betreuung durch diesen Elternteil zu rund 43 % oder mehr als annähernd gleichwertig (6 Ob 26/24b mwN; vgl auch RS0130654). Im vorliegenden Fall bewegt sich das Betreuungsverhältnis damit im Grenzbereich einer gleichwertigen Betreuung im Sinn des betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodells.

[20] 3.1. Auf Basis des Ergebnisses, dass im vorliegenden Fall keine Doppelresidenz vorliegt, weil nicht die dafür erforderliche annähernd gleichteilige Betreuung gegeben ist, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien hier der Domizilelternteil festzulegen ist.

[21] 3.2. Das Ausmaß des Kontakts zum Kind und die Betreuungsverhältnisse stehen hier aufgrund einer Kontaktrechtsvereinbarung zwischen den Eltern bereits fest (und werden mit der gerichtlichen Entscheidung auch nicht abgeändert). Die nach den für die Obsorge- und Kontaktrechtsentscheidungen entwickelten Kriterien zu beurteilenden Fragen sind in diesem Sinn entschieden. In Anbetracht dessen ist der Ansatz des Rekursgerichts, im vorliegenden Fall auf das (vereinbarte und tatsächliche) Betreuungsausmaß abzustellen und die hauptsächliche Betreuung im Haushalt jenes Elternteils festzulegen, der nach der gelebten Kontaktrechtsvereinbarung die Minderjährige zeitlich mehr betreut, nicht zu beanstanden. Die Entscheidung des Rekursgerichts spiegelt die von den Eltern akzeptierte Kontaktregelung und die faktische Betreuungssituation wider und ist jedenfalls nicht korrekturbedürftig (vgl 8 Ob 20/15x).

[22] 4. Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht.

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