European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129271
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die in Ansehung der Abweisung des Obsorgeantrags der Mutter, der Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge der Eltern und des dem Vater eingeräumten Kontaktrechts als unangefochten unberührt bleiben, werden hinsichtlich der Abweisung des Antrags auf Bestellung eines Rechtsbeistands bestätigt. Im Übrigen werden sie aufgehoben und dem Erstgericht insoweit die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufgetragen.
Begründung:
Der derzeit knapp dreizehnjährige D* und der vierjährige F* entstammen der 2003 geschlossenen und 2017 geschiedenen Ehe der Eltern. Bis 2016 lebten sie gemeinsam in Bonn. Im Oktober 2016 nutzte die Mutter die Abwesenheit des Vaters, um mit beiden Kindern Deutschland zu verlassen und nach Wien zu fahren, ohne ihn davon vorher zu informieren. Das Erstgericht ordnete mit Beschluss vom 17. November 2016 die Rückführung der Minderjährigen nach Deutschland an. In dem vor dem Oberlandesgericht Köln geführten Pflegschaftsverfahren vereinbarten die Eltern am 8. Mai 2018 die Beibehaltung des gemeinsamen Obsorge‑ und Aufenthaltsbestimmungsrechts für beide Kinder, wobei der Lebensmittelpunkt von D* beim Vater (der inzwischen ebenfalls nach Wien übersiedelt war) und für F* eine wöchentlich abwechselnde Betreuung festgelegt wurde.
Die Mutter beantragte am 23. November 2018, ihr die alleinige Obsorge für beide Minderjährige zu übertragen und eine vorläufige Obsorgeregelung in diesem Sinn. Der mj F* werde vom Vater vernachlässigt, der mj D* habe Suizidabsichten geäußert.
Der Vater sprach sich gegen die alleinige Obsorge der Mutter aus, die alles unternehme um ihn negativ dastehen zu lassen.
Das Erstgericht befragte den mj D* am 13. Februar 2019 (ON 39) und holte Stellungnahmen der Familien‑ und Jugendgerichtshilfe (ON 42) und der Wiener Kinder‑ und Jugendhilfe (ON 57) ein. Während die Familiengerichtshilfe keine abschließende Empfehlung abgab, meinte die Wiener Kinder‑ und Jugendhilfe, eine weitere Obsorge der Mutter lasse eine nachteilige Entwicklung der Minderjährigen befürchten, weil sie den mj D* zum Lügen zu Ungunsten des Vaters anhalte.
Die vom Erstgericht bestellte kinderpsychologische Sachverständige (ON 69) sprach sich für die Übertragung der alleinigen Obsorge für beide Kinder an die Mutter aus.
Das Erstgericht ordnete mit rechtskräftigem Beschluss vom 6. 6. 2019 (ON 72) an, dass die Obsorge in Teilbereichen, und zwar betreffend D* in schulischen Angelegenheiten und betreffend F* für die Entscheidung über den Kindergartenbesuch vorläufig allein der Mutter zukomme und der vorläufige hauptsächliche Aufenthalt beider Minderjährigen bei der Mutter sei.
Im Zug der Tagsatzung zur Erörterung des Gutachtens beantragte der Vater, beiden Minderjährigen einen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen. Seinen Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge für beide Kinder an ihn zog der Vater zurück, begehrte aber, im Fall der gemeinsamen Obsorge den hauptsächlichen Aufenthalt der Minderjährigen bei ihm festzulegen.
Das Erstgericht ordnete die Beibehaltung der Obsorge beider Eltern für die Minderjährigen an, wobei der hauptsächliche Aufenthalt beider Kinder bei der Mutter sei (Punkt 1). Es sah ein Kontaktrecht des Vaters zu den Minderjährigen jeweils von Freitag nach der Schule/dem Kindergarten bis Montag Schul‑/Kindergartenbeginn vor (Punkt 2), wies den Antrag der Mutter auf alleinige Obsorge ab (Punkt 3), ebenso den Antrag des Vaters, den hauptsächlichen Aufenthalt der Minderjährigen bei ihm festzulegen (Punkt 4) und seinen Antrag auf Bestellung eines Rechtsbeistands für die Minderjährigen (Punkt 5). Aufgrund des Sachverständigengutachtens stellte es beim Vater eine Tendenz zur Abwertung und Überheblichkeit fest, was seine nicht ausreichende Beziehungsfähigkeit zur Folge habe. Die größtmögliche Förderung der Kinder sei durch die Mutter zu erwarten. Da zwischen den Eltern eine Kommunikationsbasis bestehe, sei die Obsorge beider Eltern für beide Kinder beizubehalten, wobei aufgrund des Kontinuitätsgrundsatzes der hauptsächliche Aufenthalt der Kinder bei der Mutter festzulegen sei, die keine Einschränkung in ihrer Erziehungsfähigkeit aufweise. Die Bestellung eines Kinderbeistands sei nicht erforderlich. Ein Rechtsbeistand der Minderjährigen, der für diese Anträge stellen und Rekurs erheben könne, sei im österreichischen Recht nicht vorgesehen.
Das Rekursgericht gab den von beiden Eltern dagegen erhobenen Rekursen nicht Folge. Es führte Erhebungen durch Einholung einer Auskunft der Schule des mj D*, Einsicht in die im Rekursverfahren vorgelegten Urkunden und Einvernahme beider Eltern im Zug einer mündlichen Verhandlung durch und traf ergänzende Festellungen zur schulischen Situation des mj D* und zur Wohnsituation bei den Eltern. Das Rekursgericht konzedierte Unklarheiten im Sachverständigengutachten, die grundsätzlich vom Gericht zu klärende Sachverhaltsfragen beträfen, so etwa zur väterlichen Vernachlässigung der Gesundheitsfürsorge für D* nach dessen Suizidgedanken und zur Bindungstoleranz der Mutter. Dessen ungeachtet hielt es eine weitere Verfahrensergänzung für nicht erforderlich. Beide Minderjährigen hätten seit 2016 mehrfach gravierende Änderungen ihrer Lebensumstände erfahren. D* sei in seiner neuen Schule „gut angekommen“ und erhalte eine Therapie, F* besuche einen Kindergarten in der Nähe des Wohnorts der Mutter. Hinweise darauf, dass sie die Kinder vernachlässige, hätten sich nicht ergeben. Die vom Vater angestrebte überwiegende Betreuung beider Kinder in seinem Haushalt bedeute aber eine neuerliche Übersiedlung beider Kinder verbunden mit Schul‑ bzw Kindergartenwechsel. Ein Herausreißen der Kinder aus dem derzeitigen Umfeld sei weder in ihrem Interesse noch zu ihrem Wohl erforderlich. Da beide Eltern in ihrer Erziehungsfähigkeit eingeschränkt seien, fehlten die Voraussetzungen für die Übertragung der alleinigen Obsorge an die Mutter oder für den abermaligen Wechsel der hauptsächlichen Betreuung der Minderjährigen zum Haushalt des Vaters. Die Bestellung eines Verfahrensbeistands, hilfsweise Kollisionskurators sei im österreichischen Recht nicht vorgesehen.
Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zu.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters, in dem er die Festlegung der hauptsächlichen Betreuung beider Minderjährigen in seinem Haushalt, hilfsweise die Aufhebung der Entscheidung und die Bestellung eines Verfahrensbeistands, hilfsweise Kollisionskurators für beide Minderjährigen anstrebt.
Die Mutter beantragt in der ihr freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist unter Berücksichtigung der darin vorgebrachten Neuerungen zulässig und im Sinn einer teilweisen Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.
1. Nach seiner Anfechtungserklärung richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters formell gegen den gesamten Inhalt der angefochtenen Beschlüsse. Nach seinem Rechtsmittelantrag zieht er aber die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge beider Eltern wie schon im Rekursverfahren nicht in Zweifel, ihm geht es nur um die Festlegung der hauptsächlichen Betreuung bei ihm. Das ihm eingeräumte Kontaktrecht (sinnvoll nur bei vorläufiger Festlegung des Aufenthalts beider Kinder bei der Mutter, bei einer hauptsächlichen Betreuung durch ihn ohnedies obsolet), focht er schon im Rekursverfahren nicht an. Die Abweisung des Antrags der Mutter auf alleinige Obsorge ist bereits in Rechtskraft erwachsen. Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens sind daher nur mehr die Frage, bei welchem Elternteil die beiden Minderjährigen im Rahmen der gemeinsamen Obsorge hauptsächlich betreut werden sollen, und die vom Vater beantragte Bestellung eines „Rechtsbeistands“, hilfsweise Kollisionskurators.
2. Vorauszuschicken ist, dass die Eltern im Rahmen der vor dem deutschen Pflegschaftsgericht getroffenen Vereinbarung die Obsorge an sich endgültig geregelt haben. Dass diese Maßnahme in Österreich anzuerkennen ist, ist nicht strittig (vgl Art 23 Abs 1 des mit 1. 1. 2011 für Deutschland und 1. 4. 2011 für Österreich in Kraft getretenen KSÜ), sodass § 180 Abs 3 iVm Abs 2 letzter Satz ABGB anzuwenden ist (9 Ob 20/17g; 6 Ob 19/17p; 5 Ob 10/18h). § 180 Abs 3 ABGB gilt – dem Zweck der Regelung entsprechend – auch für den Fall, dass die vereinbarte Obsorge beider Elternteile aufrecht erhalten werden soll, aber über den Antrag eines Elternteils zu entscheiden ist, der die hauptsächliche Betreuung des Minderjährigen in seinem Haushalt anstrebt (3 Ob 212/14v; 5 Ob 118/17i; 7 Ob 77/19d). Eine derartige, am Kindeswohl zu orientierende Bestimmung des Aufenthaltsorts (RIS‑Justiz RS0128811) setzt eine „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ voraus, nicht aber eine Gefährdung des Kindeswohls iSd § 181 ABGB (5 Ob 118/17i; 5 Ob 10/18h). Die Änderung des hauptsächlichen Aufenthaltsorts des Kindes muss – um eine Neuregelung begründen zu können – bei Beurteilung des Kindeswohls in der Gesamtschau unter Berücksichtigung einer Zukunftsprognose so gewichtig sein, dass das Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (Hopf/Höllwerth in KBB6 § 180 Rz 15 mwN; 5 Ob 118/17i; RS0047928 [T16]). Ob bei einer derartigen Gesamtschau die Änderung der Verhältnisse so wesentlich ist, dass ein Aufenthaltswechsel der Minderjährigen zu befürworten ist, ist typischerweise eine nach den Umständen des Einzelfalls zu lösende Frage (5 Ob 118/17i; 5 Ob 10/18h), der in der Regel daher keine grundsätzliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zukommt, wenn durch die Entscheidung nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung oder das Kindeswohl verletzt wurden (vgl RS0115719). Dies ist hier aufgrund zulässiger Neuerungen zu prüfen:
3. Gemäß § 138 Z 5 ABGB ist ein wichtiger Aspekt des Kindeswohls die Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis oder Fähigkeit der Meinungsbildung. Der Wille des Kindes ist ein relevantes Kriterium (RS0048820), wobei nach der Rechtsprechung ab dem 12. Lebensjahr von der Urteilsfähigkeit eines Kindes bezüglich einer Obsorgezuteilung auszugehen ist (RS0048820 [T9]; 5 Ob 10/18h). Der unbeeinflusste, mit seinem Wohl vereinbare ernstliche Wunsch des Minderjährigen kann ein wichtiges Interesse für die Änderung der Obsorgeregelung sein (1 Ob 172/01b; 1 Ob 248/06m). Demgemäß ist der Grundsatz der Kontinuität, der bei der Obsorgeentscheidung von besonderer Bedeutung ist, nicht um seiner selbst willen aufrecht zu erhalten, sondern dem Wohl des Kindes unterzuordnen, wenn eine Neuregelung im Interesse der Kinder geboten ist (vgl RS0047928 [T2 und T17]). Die „hauptsächliche Betreuung“ ist bei dem Elternteil zu belassen, der die damit verbundenen Aufgaben bisher (überwiegend) wahrgenommen hat, sofern nicht Gründe für die Annahme bestehen, dass der andere Elternteil diese Verpflichtungen wesentlich besser wahrnehmen könnte (9 Ob 82/16y; 8 Ob 15/19t; vgl auch Weitzenböck in Schwimann/Kodek ABGB5 § 180 Rz 36). Da eine vorläufige Maßnahme einem noch anhängigen Verfahren über den Antrag auf endgültige Zuweisung der elterlichen Rechte nicht vorgreifen darf und der sonst gültige Grundsatz der Kontinuität der Erziehung in diesen Fällen zu relativieren ist, kann die bisherige, vorläufige Unterbringung bei einem Elternteil nicht der (ausschließliche) Grund einer Obsorgezuteilung sein (7 Ob 253/01h mwN; 5 Ob 163/11y). Jedenfalls ist eine Obsorgeentscheidung, für die in erster Linie das Kindeswohl maßgeblich ist (RS0048632), immer zukunftsbezogene Rechtsgestaltung und daher nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktueller Sachverhaltsgrundlage beruht (RS0048632 [T4]; 5 Ob 163/11y).
4.1. Hier hat der Vater seinem Revisionsrekurs den vom mj D* verfassten und mit 19. Mai 2020 datierten Brief beigelegt, in dem dieserschreibt, er wolle auf jeden Fall noch befragt werden, weil es um seine Zukunft gehe. Als er gehört habe, er müsse bei seiner Mama bleiben, sei er sehr enttäuscht gewesen. Dass er in der Schule gesagt habe, er wolle nicht mehr leben, sei mit seiner Mutter abgesprochen gewesen, was ein großer Fehler gewesen sei. Auch bei der Befragung durch das Erstgericht habe er gelogen, weil die Mutter ihm mehr Taschengeld versprochen habe. Er halte es bei seiner Mutter nicht mehr aus. Sie schimpfe über den Vater. Er sei am überlegen, ob er weglaufen solle.
4.2. Grundsätzlich herrscht im Revisionsrekursverfahren Neuerungsverbot (RS0119918). Im Obsorgeverfahren sind aber dessen ungeachtet relevante aktenkundige Entwicklungen und Umstände, die die Tatsachengrundlage wesentlich verändern, im Interesse des Kindeswohls zu berücksichtigen (9 Ob 20/18h; RS0122192), selbst wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind. Ein solcher Fall liegt hier vor:
4.3. Der mj D* war anlässlich seiner Anhörung durch das Erstgericht erst 11 Jahre alt und dieses stützte sich bei seiner Entscheidungsfindung unter anderem darauf, dass er damals keinen stabilen zielorientierten Wunsch für seinen hauptsächlichen Aufenthalt äußern habe können. Im Rahmen der vom Rekursgericht veranlassten Beweisergänzung wurden zwar beide Eltern vernommen, nicht aber der Minderjährige. Seinem Wunsch noch einmal gehört zu werden (ON 42) entsprach das Rekursgericht nicht, um ihn nicht zusätzlich zu belasten. Die Entscheidung basierte damit aber nicht auf einer aktuellen Tatsachengrundlage. Bei der – an sich hier nicht mehr strittigen – Obsorgeentscheidung selbst bildet der Wille des Kindes ein relevantes Kriterium (RS0048820), auch wenn er nicht allein den Ausschlag geben kann (RS0048981). Der Wunsch des Kindes ist aber (neben der Betreuungskontinuität) dann besonders bedeutsam, wenn zwar die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Beibehaltung oder Begründung der Obsorge beider Eltern vorliegen, jedoch strittig ist, welcher Elternteil hauptsächlich betreuen soll (Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 180 Rz 36).
4.4. Der Brief des mj D* ist daher im Interesse des Kindeswohls als aktenkundige Entwicklung zu berücksichtigen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich zu verändern in der Lage ist (RS0006893). Das Erstgericht wird durch eine (neuerliche) persönliche Anhörung des Minderjährigen zu klären haben, inwieweit sein im Brief zum Ausdruck kommender Wille seinem unbeeinflussten und mit seinem Wohl vereinbaren ernstlichen Wunsch entspricht (1 Ob 248/06m) oder ob dieses Schreiben dem Minderjährigen – wie in der Revisionsrekursbeantwortung behauptet – vom Vater „aufoktroyiert“ wurde. Ob das Erstgericht hiezu sachkundiger Unterstützung bedarf, wird es selbst zu entscheiden haben. Sinnvollerweise wird es sich auch einen aktuellen persönlichen Eindruck von beiden Eltern zu verschaffen haben. Auch die Behauptung der Mutter in der Revisionsrekursbeantwortung, nunmehr fürchte sich der Minderjährige vor seinem Vater, wird zu überprüfen sein. Die Frage nach dem hauptsächlichen Aufenthalt beider Minderjährigen wird sich erst nach Ergänzung der Sachverhaltsgrundlage in diesem Sinn abschließend beantworten lassen.
5.1. Die im Revisionsrekurs geäußerten Bedenken zur Übereinstimmung der Bestimmungen des österreichischen Rechts mit der UN‑Kinderrechte Konvention sind nicht zu teilen. § 105 Abs 1 AußStrG ordnet an, dass das Gericht Minderjährige im Verfahren über Pflege und Erziehung oder das Recht auf persönlichen Verkehr grundsätzlich persönlich zu hören hat. Abs 2 sieht ein Absehen von der Befragung nur in zwei Fällen vor, wenn durch die Befragung und einem damit verbundenen Aufschub das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist. Die Bestimmung entspricht damit Art 12 Abs 1 des Übereinkommens über die Rechte von Kindern vom 26. Jänner 1990 BGBl 1993/7 (UN‑Kinderrechte Konvention), in der die Vertragsstaaten dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zuerkannten, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern und die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife zu berücksichtigen. Nach Abs 2 wird zu diesem Zweck dem Kind Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts‑ oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden. Der österreichische Gesetzgeber verankerte mit dem am 16. 2. 2011 in Kraft getretenen Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern BGBl I 2011/4 Teile der innerstaatlich nur als einfaches Gesetz umgesetzten UN‑Kinderrechte Konvention im Verfassungsrang.
5.2. Demgemäß führte der österreichische Gesetzgeber mit dem Kinderbeistandsgesetz BGBl I 2009/137 in § 104a AußStrG das Rechtsinstitut des Kinderbeistands ein. Danach ist einem Minderjährigen im Verfahren über die Obsorge oder über die persönlichen Kontakte ein Kinderbeistand zu bestellen, wenn dies im Hinblick auf die Intensität der Auseinandersetzung zwischen den übrigen Parteien zur Unterstützung der Minderjährigen geboten ist und dem Gericht geeignete Personen zur Verfügung stehen. Die Bestellung hat nur von Amts wegen zu erfolgen, ein Antragsrecht der Verfahrensbeteiligten sieht das Gesetz nicht vor (RS0130158). Ein in diesem Sinn bestellter Kinderbeistand ist „Vertreter“ des Kindes im Sinn des Art 12 der UN‑Kinderrechte Konvention (8 Ob 19/11v). Er hat als Ansprechpartner und Vertrauter des Kindes, nicht hingegen als sein gesetzlicher Vertreter zu fungieren, und soll dessen Beistand und Sprachrohr sein. Er ist Bote und Überbringer des Kindeswillens und hat Unterstützungs‑ und Beistandsfunktion (10 Ob 47/14f). Vertretungshandlungen für das Kind kann er nicht vornehmen (Beck in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG I § 104a Rz 4). Grundsätzlich obliegt es dem gebundenen Ermessen des Gerichts, ob eine Auseinandersetzung in einem Obsorge‑ und Besuchsrechtsverfahren die in § 104a AußStrG geforderte Intensität erreicht (RS0126752). Das wird vor allem dann der Fall sein, wenn eine gütliche Einigung der Streitparteien nicht möglich ist und die Eltern so deutliche Differenzen aufweisen, dass sie sachlichen Argumenten nicht mehr zugänglich sind und das Kind durch das Verfahren emotional schwerwiegend belastet und in einem Loyalitätskonflikt verstrickt wird (8 Ob 19/11v).
5.3. Das Unterbleiben der Bestellung des Kinderbeistands ist nicht anfechtbar (1 Ob 72/15t). Ob unter Berücksichtigung des nunmehrigen Schreibens des mj D*und der im Revisionsrekursverfahren ins Treffen geführten Neuerungen die Voraussetzungen für die Bestellung eines Kinderbeistands neuerlich zu überprüfen sind, obliegt dem Ermessen des Erstgerichts.
5.4. Die vom Vater auch im Revisionsrekurs noch verfolgte Bestellung eines „Verfahrensbeistands“ entbehrt nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanzen einer rechtlichen Grundlage. Ob die Bestellung eines Kollisionskurators für D* aufgrund des hocheskalierten Obsorgestreits in Betracht käme (grundsätzlich bejahend die zweitinstanzliche Judikatur – EFSlg 117.086; EFSlg 119.787; EFSlg 123.429; vgl auch Pfurtscheller in Schwimann/Neumayr, Taschenkommentar ABGB4 § 277 nF Rz 10; Barth/Haidvogel, RZ 2007, 14 [16] mwN; Deixler‑Hübner in Barth/Deixler‑Hübner, Handbuch 124), kann dahinstehen: Dies würde gemäß § 277 Abs 2 ABGB idF 2. ErwSchG BGBl I 2017/59 iVm § 5 Abs 2 Z 1a AußStrG voraussetzen, dass die Interessen des Minderjährigen dadurch gefährdet sind, dass in einer bestimmten Angelegenheit ihre Interessen jenen ihres gesetzlichen Vertreters oder eines anderen Minderjährigen, die vom gleichen gesetzlichen Vertreter vertreten wird, widerstreiten. Die Bestellung hat zu unterbleiben, wenn die Interessen des minderjährigen Kindes vom Gericht ausreichend wahrgenommen werden können (Stefula in KBB6 § 277 ABGB Rz 7). Welche bestimmte Angelegenheit des mj D* hier kollisionsbehaftet iSd § 277 Abs 2 ABGB sein soll, ergibt sich aus dem Antrag nicht. Überdies bietet die Aktenlage keinen Hinweis darauf, dass nicht das Pflegschaftsgericht selbst seine Interessen ausreichend wahrnehme.
5.5. Dieser Antrag des Vaters wurde daher zu Recht abgewiesen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)