OGH 7Ob253/01h

OGH7Ob253/01h12.6.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen Martina P*****, geboren am 21. September 1996, derzeit bei der mütterlichen Großmutter Ingrid G*****, vertreten durch Dr. Hans Forcher-Mayr, Rechtsanwalt in Innsbruck, über die Revisionsrekurse der mütterlichen Großmutter und der Kindeseltern 1. Norbert P***** und 2. Sabine P*****, beide*****, beide vertreten durch Dr. Johann Buchner und Dr. Ingeborg Haller, Rechtsanwälte in Salzburg, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgericht vom 1. Juni 2001, GZ 54 R 37/01i-103, womit infolge Rekurses der Eltern der Beschluss des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 19. April 2001, GZ 3 P 164/98t-96 abgeändert bzw aufgehoben wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs der Eltern wird nicht Folge gegeben.

Dem Revisionsrekurs der mütterlichen Großmutter wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen (jene des Rekursgerichtes mit Ausnahme ihres ohnehin bereits aufhebenden Teiles) werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Die Minderjährige Martina P***** ist die am 21. 9. 1996 außer der Ehe geborene Tochter der Sabine P*****, geboren am 8. 12. 1975 und des Norbert P*****, geboren am 25. 8. 1976. Die Eltern wohnen mittlerweile mit ihrem zweiten Kind, dem am 25. 9. 1999 geborenen Sohn Thomas P***** in Salzburg und haben bereits am 3. 7. 1998 die Ehe geschlossen, wodurch die Minderjährige Martina legitimiert wurde. Bis September 1997 lebte sie bei der Mutter. In dieser Zeit hielten sich die beiden sich bis auf drei Monate, die sie beim Vater in Salzburg verbrachten, bei der mütterlichen Großmutter (im Folgenden: Großmutter) in *****Tirol, auf. Seit September 1997 lebt das Kind ständig bei seiner Großmutter, welche die Mutter, als sie zum Vater nach Salzburg zog, daran hinderte, die Minderjährige mitzunehmen. Am 30. 9. 1997 stellte die Großmutter den Antrag, ihr die Obsorge über die Minderjährige zu übertragen und der Mutter zu entziehen, weil diese an einer Behinderung und seit der Entbindung auch an einer psychischen Krankheit (Depression) leide und daher nicht in der Lage sei, das Kind selbst ausreichend zu versorgen. Auch der Vater sei nicht in der Lage, für das Kind zu sorgen, weil er ebenfalls geistig behindert sei (ON 5).

Der Jugendwohlfahrtsträger befürwortete diesen Antrag. Es sei anzunehmen, dass die Mutter das Kind infolge ihrer Behinderung nicht alleine versorgen könne (ON 16).

Mit Beschluss vom 17. 12. 1997 (ON 17) wurde angeordnet, dass die Minderjährige vorläufig bis auf weiteres in Pflege und Erziehung und im Aufenthalt bei der Großmutter zu verbleiben habe. Den Eltern wurde untersagt, das Kind ohne Zustimmung der Großmutter von ihrem derzeitigen Pflegeplatz zurückzuholen.

Der gegen diesen Beschluss erhobene Rekurs der Eltern hatte keinen Erfolg. Allein der von den Rekurswerbern gar nicht in Abrede gestellte Umstand, dass die Mutter am 24. 9. 1997 ohne Vorwarnung aus dem Haushalt der Großmutter ausgezogen sei und die gerade erst dem Säuglingsalter entwachsene Minderjährige einfach dort zurückgelassen habe, rechtfertige die vom Erstgericht getroffene vorläufige Anordnung. Dem Erstgericht sei aber auch darin beizupflichten, dass eine unverzügliche Übersiedlung des Kindes in den elterlichen Haushalt (nach Salzburg) nicht bloß eine Änderung der Pflegesituation mit sich brächte, sondern dass hierdurch das stets vorrangig zu wahrende Kindeswohl akut gefährdet erschiene (ON 23). Nach Einvernahme der Eltern und weiteren Erhebungen über deren Erziehungsfähigkeit wies das Erstgericht mit Beschluss vom 2. 3. 2000 (ON 74) den Antrag der Großmutter, ihr die Obsorge über die Minderjährige zu übertragen, ab. Die Großmutter habe ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihrem Schwiegersohn, den sie nicht akzeptiere. Die Mutter halte zu ihrem Mann und befinde sich daher in einem gewissen Loyalitätskonflikt; einerseits wisse sie, dass sie die Minderjährige jederzeit sehen und auch besuchen könne, aber nur dann, wenn der Vater nicht anwesend sei, andererseits möchte sie aber, dass dieser ebenso regelmäßigen Kontakt zu seiner Tochter habe. Die Großmutter unterstelle immer wieder, ihre Tochter sei nicht fähig die Minderjährige ordnungsgemäß zu erziehen. Die Mutter biete jedoch keine körperlich-neurologischen Störungen und auch ein hirnorganisches Psychosyndrom sei nicht mehr nachweisbar. Auch der Vater biete keine körperlich-neurologischen Ausfälle und erreiche in einem bildungsfreien Intelligenztest den Intelligenzquotienten von 85, was durchaus noch im Normbereich, wenn auch an der unteren Grenze der Norm, liege. Auch er könne nicht als erziehungsunfähig bezeichnet werden.

Die Umstände die dazu geführt hätten, dass die Minderjährige in Pflege und Erziehung zu ihrer Großmutter gebracht worden sei (depressive Verstimmung der Mutter nach der Geburt und deren Überforderung durch den Konflikt zwischen ihren Eltern und dem Vater des Kindes sowie die daraus folgende objektive Erziehungsunfähigkeit) lägen nicht mehr vor. Der Mutter, deren Depression abgeklungen sei, sei es gelungen, persönlich eine klare Position einzunehmen. Beide Eltern seien als erziehungsfähig einzustufen.

Dadurch, dass die Eltern die Minderjährige aber nur sehr selten besuchen konnten, sei jedoch eine weitgehende Entfremdung eingetreten. Um das Kind letztlich endgültig zu ihren Eltern rückführen zu können, seien die Kontakte zwischen Eltern und Kind behutsam aufzubauen. Es entspreche daher dem Kindeswohl, wenn die Besuchssituation wie bisher weiter abgewickelt werde, nämlich im Rahmen von begleiteten Besuchstagen, wobei die Großmutter jedoch nicht anwesend sein sollte, da es aufgrund der Spannungen zwischen dem Vater und der Großmutter immer wieder zu unliebsamen Vorfällen komme.

Mit Beschluss vom 20. 4. 2000 (ON 79) gab das Rekursgericht dem gegen diese Obsorgeentscheidung erhobenen Rekurs der Großmutter Folge und verwies die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Im Rahmen der endgültigen Entscheidung über den Antrag der Großmutter auf Entziehung der Obsorge sei zu prüfen, ob die anlässlich der vorläufigen Maßnahme festgestellte Gefährdung des Kindes noch bestehe. Zur Beurteilung dieser Frage reiche die erarbeitete Sachverhaltsgrundlage nicht aus. Das Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Eltern gehe nur davon aus, die Minderjährige könne den Eltern zur Wahrung ihres Besuchsrechtes übergeben werden, wobei das Besuchsrecht nur in einer begleiteten Besuchssituation abzuwickeln sei, bis das Kind mit seinen Eltern vertraut sei. Wenn der Sachverständige derzeit nicht einmal einen Besuchskontakt der Minderjährigen mit ihren Eltern ohne Hilfestellung von dritter Seite befürworte, seien seine Ausführungen jedenfalls nicht geeignet, als Argument dafür zu dienen, dass die Eltern in der Lage seien, die Obsorge auszuüben. Es bleibe auch offen, welche Situation die Minderjährige letztendlich bei einer Verlegung ihres Lebensmittelpunktes nach Salzburg vorfinden würde, wie sich die Rückkehr in den Haushalt der Eltern auf das Kind auswirken würde und in welcher Art und Weise diese allenfalls längerfristig erfolgen könne. Die für das Kindeswohl relevanten Umstände könnten derzeit aber auch deshalb nicht abschließend beurteilt werden, weil noch ein kinderpsychologisches Gutachten einzuholen sei, ob die Übertragung der Obsorge an die Großmutter oder die Rückführung des Kindes in den Haushalt seiner Eltern dem Kindeswohl entspreche.

Im zweiten Rechtsgang entzog das Erstgericht der Mutter die Obsorge, übertrug sie der mütterlichen Großmutter und wies den Antrag der Eltern, der Großmutter zu untersagen, bei der Ausübung des Besuchsrechts anwesend zu sein, ab (ON 96). Dazu traf es - zusammengefasst - folgende (zusätzliche) Feststellungen:

Die Eltern wohnen in einer geräumigen Zweizimmerwohnung mit Wohnküche und kleinem Balkon in Salzburg. Das zweite Kind der Familie, Thomas, wächst bei seinen Eltern in Salzburg auf und wird von ihnen gut betraut.

Trotz all der positiven Entwicklungen auf Seiten der Eltern bleibt die mütterliche Großmutter, bei der die Minderjährige seit Jahren lebt und sich sichtlich wohl fühlt, ihre primäre Bezugsperson. Neben der Versorgung, Erziehung und Förderung durch die Großmutter besteht zwischen dieser und ihrer Enkelin ein gut spürbares Band der Liebe. Die Großmutter kann der Minderjährigen viel Sicherheit vermitteln, es werden Zärtlichkeiten ausgetauscht, andererseits besteht auch Freiheit für die Minderjährige, sich von der Großmutter selbständig und ohne Bedenken ablösen zu können.

Die Beziehung zu den Eltern hat für die Minderjährige nur marginale Bedeutung. Bei etwaigen Unsicherheiten wandte sie sich immer an die Großmutter. Die Beziehungsbasis zwischen Eltern und Kind ist nicht entfaltet. Sie haben mit der Minderjährigen nur Kontakt auf nonverbaler Basis. Eine Rückführung der Minderjährigen in den elterlichen Haushalt ist insgesamt mit einer enormen Gefährdung des Wohles des Kindes verbunden. Aufgrund der räumlichen Entfernung konnten die Eltern das Kind nur selten besuchen. Durch diesen Umstand ist eine weitgehende Entfremdung eingetreten.

Ausgehend von diesem Sachverhalt gelangte das Erstgericht in rechtlicher Hinsicht zu dem Ergebnis, dass es mit einer Gefährdung des Kindeswohles verbunden wäre, die Minderjährige aus ihrer gewohnten Umgebung zu verbringen. Die Obsorge sei daher an die Großmutter zu übertragen. Für eine positive Entwicklung der Minderjährigen wäre es günstig, wenn die Großmutter und die Eltern eine einvernehmliche Abwicklung erreichen könnten. Da eine starre Besuchsregelung nicht zielführend sei, habe das Gericht lediglich einen Rahmen vorzugeben. Die Großmutter sollte anfangs einmal im Monat für zwei Stunden mit der Minderjährigen bei den Eltern in Salzburg bleiben. Dies sei unbedingt notwendig, weil jedenfalls beim Kennenlernen einer neuen Situation die Großmutter bei ihr zu sein habe. Deswegen sei der Antrag, dieser zu untersagen, bei der Ausübung des Besuchsrechtes anwesend zu sein, abzuweisen.

Mit dem angefochtenen Beschluss (ON 103) änderte das Rekursgericht diese Entscheidung in seinem Punkt 1 (Obsorge) dahin ab, dass der Antrag der Großmutter abgewiesen werde. Im Übrigen wurde sie aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen. Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs sowohl hinsichtlich des aufhebenden als auch hinsichtlich des abändernden Teils zulässig sei. Bei der endgültigen Entscheidung nach § 176 ABGB sei darauf abzustellen, ob die elterlichen Pflichten nicht erfüllt oder subjektiv gröblich vernachlässigt worden seien oder ob die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährdeten. Nur besonders gravierende Umstände könnten die Obsorgeentziehung, die im Interesse des Kindes dringend geboten sein müsse, rechtfertigen. Die mit Beschluss vom 17. 12. 1997 angeordnete vorläufige Maßnahme habe ihre Rechtfertigung darin gefunden, dass die Mutter zum damaligen Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen sei, das Kind zu versorgen, sodass es mit einer Gefährdung des Wohles der Minderjährigen einhergegangen wäre, wenn man sie in der Obhut der Mutter belassen hätte. Bei der nun endgültig zu treffenden Entscheidung über den Antrag der Großmutter auf Obsorgeentziehung stelle sich aber die Frage, ob die anlässlich der vorläufigen Maßnahme festgestellte Gefährdung des Kindeswohls noch bestehe.

Das Erstgericht habe zu konkreten Lebenssituation der Eltern festgestellt, dass sie in einer geräumigen Zweizimmerwohnung in Salzburg lebten, ihr zweites Kind gut betreuten und eine Versorgung der Minderjährigen durch die Eltern gewährleistet sei. Es stehe auch dezidiert fest, dass die Eltern als erziehungsfähig anzusehen seien. Anhaltspunkte dafür, dass der zur vorläufigen Maßnahme Anlass gebende Missstand (Depression, verbunden mit einer Erziehungsunfähigkeit; Vernachlässigung der Minderjährigen durch die Mutter) weiterhin zu befürchten sei, bestünden nicht.

Zwar finde sich im angefochtenen Beschluss auch die Feststellung, dass eine Rückführung der Minderjährigen in den elterlichen Haushalt mit einer enormen Gefährdung des Kindeswohls verbunden wäre, welche sich im Hinblick auf die lange Dauer des Verfahrens, die seither eingetretene Entfremdung zu den Eltern einerseits und die Intensivierung des Zusammenlebens mit der Großmutter andererseits als unbedenklich darstelle; es entspreche jedoch der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, dass durch die vorläufige Entziehung der Obsorge der endgültigen Entscheidung nicht vorgegriffen werden dürfe, sodass der sonst gültige Grundsatz der Kontinuität von Pflege und Erziehung gesondert beurteilt werden müsse. In solchen Fällen sei ein Wechsel der Wohnung und der Hauptbezugsperson des Kindes in Kauf zu nehmen. Wenngleich durch die Änderung des seit langem gegebenen Zustandes gravierend in die Pflegesituation des Kindes eingegriffen werde und durch einen abrupten Wechsel zweifellos eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohles gegeben wäre, reiche dies nicht aus, den nach dem Gesetz obsorgeberechtigten Eltern die Obsorge zu entziehen. Dem Umstand, dass mit dem Pflegeplatzwechsel eine Gefährdung des Kindeswohls einhergehe, sei jedoch insoweit Rechnung zu tragen, als dieser Wechsel zur Vermeidung von gravierenden Nachteilen für das Kind behutsam, allmählich und fließend vorgenommen werden müsse, um schwerwiegende Folgen abzuwehren. Um dies zu verwirklichen, müsse vorerst die mit Beschluss vom 17. 12. 1997 angeordnete Maßnahme aufrecht bleiben und durch ein dem Zweck der Rückführung des Kindes in die elterliche Obsorge angepasstes, erweitertes Besuchsrecht eine neuerliche Annäherung zwischen der Minderjährigen und ihren Eltern so lange gefördert werden, bis gewährleistet sei, dass mit dem Pflegeplatzwechsel keine gravierenden Nachteile mehr für das Kind verbunden seien und die vorläufige Maßnahme aufgehoben werden könne. Da zur Beurteilung der Frage, wie dieses Besuchsrecht ausgestaltet werden könne und solle, die Verfahrensergebnisse bislang nicht hinreichend seien, werde die Entscheidung in ihrem Punkt 2 aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen. Im fortgesetzten Verfahren werde zu erheben sein, welche Möglichkeiten für die Eltern und die mütterliche Großmutter bestünden unter allfälliger Mitwirkung der Jugendwohlfahrtsbehörden die Besuchskontakte in dynamischer Form zu intensivieren.

Das Rekursgericht hat den Zulassungsausspruch sowohl hinsichtlich des abändernden Teiles (Obsorge) als auch hinsichtlich des aufhebenden Teiles (Besuchsrecht) seiner Entscheidung damit begründet, dass es sich (zwar) in Bezug auf die Frage der [abgewiesenen] Entziehung der Obsorge an die oberstgerichtliche Rechtsprechung gehalten habe, aber zur Frage, ob trotz endgültiger Obsorgeentscheidung eine angeordnete Provisorialmaßnahme (vorläufiger Verbleib der Minderjährigen in Pflege und Erziehung und im Aufenthalt bei der antragstellenden Großmutter) aufrecht erhalten werden dürfe, sodass den nach der endgültigen Entscheidung Obsorgeberechtigten die Pflege und Erziehung des Kindes nicht zukomme und daher eine Ausgestaltung des Besuchsrechts [der Eltern] erforderlich werde, eine höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionsrekurse sind aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig; der Revisionsrekurs der Eltern ist jedoch nicht berechtigt, während dem Revisionsrekurs der Großmutter Berechtigung zukommt. Als Rechtsfrage des materiellen Rechts, bei der die Rekursentscheidung von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abweiche, macht der Revisionsrekurs der Eltern geltend, das Rekursgericht habe zwar ausgesprochen, die lange Verfahrensdauer könne nicht zum Verlust der Obsorge für die nach dem Gesetz Obsorgeberechtigten führen; diese hätten im vorliegenden Fall aber nur mehr "formell" und "ohne materielle Grundlagen" die Obsorge inne, während weiterhin die Pflege und Erziehung des Kindes der unterlegenen Antragstellerin [= Großmutter] zukomme. Eine Einschränkung der Obsorge der Eltern könne gemäß § 176 Abs 1 ABGB nur bei Gefährdung des Kindeswohles, nicht aber auf Grund einer früheren Provisorialmaßnahme, die keine sachliche Grundlage mehr habe, geschehen. Diese Grundlage, nämlich die Gefährdung des Kindeswohles, sei aber nach dem Standpunkt der Revisionsrekurswerber nicht mehr vorhanden (S 4 des Revisionsrekurses).

Dabei wird zunächst übersehen, dass die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, welchem (Groß-)Elternteil bei Gegenüberstellung der Persönlichkeit, Eigenschaften und Lebensumstände die Obsorge für das Kind übertragen werden soll, immer eine solche des Einzelfalles ist, die sich einer Beurteilung als erhebliche Rechtsfrage iSd § 14 Abs 1 AußStrG entzieht (RIS-Justiz RS0007101; 7 Ob 114/01t mwN; zuletzt: 9 Ob 12/02h). Ein vom Obersten Gerichtshof aufzugreifender Ermessensmissbrauch liegt aber nicht vor:

Bei der Entscheidung nach § 177 Abs 2 ABGB steht das Wohl des Kindes im Vordergrund, die Interessen der (Groß-)Eltern haben dabei zurückzutreten (RIS-Justiz RS0048969). Die Rechtsprechung hat zur Obsorgeentscheidung verschiedene Leitgedanken entwickelt. Hiezu gehört der Grundsatz, dass bei Kleinkindern im Allgemeinen der Betreuung durch die Mutter der Vorzug zu geben ist, ohne dass diese daraus ein Vorrecht ableiten könnte (RIS-Justiz RS0047839 und RS0047911), genauso wie derjenige, dass der Obsorge durch leibliche Elternteile solange der Vorzug gegenüber jener durch Großeltern zukommt, als beim Elternteil keine Gefährdung der Kinder zu besorgen ist (RIS-Justiz RS0048690; SZ 69/20 = EFSlg 81.208), oder der Grundsatz, dass auch bei der Erstzuteilung nach § 177 Abs 2 ABGB die Grundsätze der Kontinuität der Erziehungs- und Lebensverhältnisse nicht zu vernachlässigen sind (RIS-Justiz RS0047903 [T6]; zuletzt: 7 Ob 165/01t und 7 Ob 216/01t). Bei einer Kollision verschiedener Leitgedanken kommt es immer auf die vorzunehmende Gesamtschau an (RIS-Justiz RS0047832 [T7]).

Im vorliegenden Fall steht nun - entgegen den Rechtsmittelausführungen der Eltern - ausdrücklich fest, dass eine Rückführung der Minderjährigen in den elterlichen Haushalt mit einer [sogar] "enormen Gefährdung" des Kindeswohles verbunden wäre, wobei diese Feststellung vom Rekursgericht ausdrücklich als "unbedenklich" qualifiziert wurde (S. 7 f der Rekursentscheidung). Eine Fehlbeurteilung, die der Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedürfte, kann daher in der Ermessensentscheidung, die Minderjährige vorerst weiterhin in Pflege und Erziehung der mütterlichen Großmutter zu belassen, nicht erkannt werden; entsprechen doch die - insoweit im Ergebnis übereinstimmenden - Entscheidungen der Vorinstanzen auch dem Grundsatz der Rechtsprechung, dass bei der allein nach dem Wohl des Kindes zu treffenden Entscheidung über die Obsorge nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu erstellen sind (RIS-Justiz RS0048632), und dass ein Wechsel in den Pflegeverhältnissen und Erziehungsverhältnissen nur dann vorzunehmen ist, wenn besonders wichtige Gründe vorliegen, die im Interesse des Kindes eine so einschneidende Maßnahme dringend geboten erscheinen lassen, etwa dann, wenn eine wesentliche Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes zu erwarten ist (RIS-Justiz RS0047903 [T4 und T5]).

Dem Revisionsrekurs der Eltern war daher ein Erfolg zu versagen. Dem Rechtsmittel der Großmutter kommt hingegen Berechtigung zu, weil eine endgültige Entscheidung über die Obsorge derzeit noch nicht getroffen werden kann:

Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Gericht bis zur endgültigen Entscheidung nach § 176 ABGB vorläufige Maßnahmen treffen, wie beispielsweise die vorläufige Entziehung und Übertragung der Obsorge (Schwimann in Schwimann, ABGB2 I § 176 Rz 18 mwN). Daran hat sich durch das Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 (KindRÄG 2001), BGBl I 2000/135, das nach Art XVIII § 1 Abs 1 mit 1. 7. 2001 in Kraft trat, nichts geändert (RV 296 BlgNR 21. GP 64). Diese Maßnahmen setzen grundsätzlich eine akute Gefährdung des - ausschließlich relevanten (RIS-Justiz RS0048632) - Kindeswohls voraus. Eine solche Gefährdung liegt vor, wenn die Obsorgepflichten objektiv nicht erfüllt oder subjektiv gröblich vernachlässigt worden sind, oder wenn die Obsorgepflichtige durch ihr Gesamtverhalten schutzwürdige Interessen des Minderjährigen ernstlich und konkret gefährdet (Schwimann aaO § 176 Rz 2 ff; EFSlg 87.000, 89.772 ua; RIS-Justiz RS0007035; zuletzt: 9 0b 268/01d mwN).

Die dargestellten Voraussetzungen für die mit Beschluss vom 17. 12. 1998 angeordnete Maßnahme, wonach die Minderjährige vorläufig in Pflege und Erziehung und im Aufenthalt bei der Großmutter zu verbleiben hat (was einer Entziehung der Obsorge der Mutter gleich kommt, sodass nur besonders gravierende Umstände eine solche Vorgangsweise rechtfertigen konnten: RIS-Justiz RS 0007009 [T2]), sind vorliegend auch derzeit noch erfüllt; wäre doch - wie bereits ausgeführt - eine "Rückführung" der Minderjährigen in den elterlichen Haushalt mit einer "enormen Gefährdung" des Kindeswohles verbunden. Die angeordnete Provisorialmaßnahme muss daher - wie bereits das Rekursgericht zutreffend aufzeigt - aufrecht bleiben. Daran kann schon deshalb kein Zweifel bestehen, weil selbst die Erlassung einer vorläufigen Maßnahme, die dahin zielt, jahrelange, wenn auch nur faktisch bestehende Verhältnisse bis zur Entscheidung über einen Obsorgeantrag nicht zu verändern, möglich ist (RIS-Justiz RS0007008;).

Das Rekursgericht hat zwar zu Recht auf die stRsp des Obersten Gerichtshofes verwiesen, wonach durch die vorläufige Entziehung der Obsorge der endgültigen Entscheidung nicht (ohne zwingende Notwendigkeit) vorgegriffen werden darf (RIS-Justiz RS0007012), sodass der sonst gültige Grundsatz der Kontinuität der Erziehung gesondert zu beurteilen ist. Zu Recht hat das Gericht zweiter Instanz auch festgehalten, dass der Oberste Gerichtshof dazu ausgesprochen hat, durch eine vorläufige Übertragung der Obsorge solle die endgültige Entscheidung über eine Entziehung des allein nach dem Gesetz Obsorgeberechtigten nicht dadurch verhindert werden, dass durch eine lange Verfahrensdauer eine Kontinuität der Erziehung beim nur vorläufig Berechtigten entstanden sei. In solchen Fällen müsse ein Wechsel der Wohnung und der Hauptbezugsperson des Kindes (das im dortigen Fall bereits den Kindergarten besuchte und vor dem Schuleintritt stand) in Kauf genommen werden (EFSlg 81.184). Richtig ist auch, dass der Oberste Gerichtshof den in der zitierten Rekursentscheidung allein herangezogenen Grund für die Entziehung der Obsorge (wonach durch die faktische Änderung des nunmehr seit langem gegebenen Zustandes so gravierend in die Sozialsituation des Kindes eingegriffen werde, dass damit eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohles gegeben wäre) als nicht ausreichend angesehen hat, der Mutter die Obsorge zu entziehen (EFSlg 81.184).

Gerade dieser Entscheidung (der angesichts des dort festgestellten "ausgedehnten persönlichen Kontakts" zwischen Mutter und Kind auch ein erheblich anders gelagerter Sachverhalt zu Grunde liegt) ist aber auch folgender Grundsatz zu entnehmen:

"Eine lange Verfahrensdauer widerstreitet dem Zweck jeder Sorgerechtsentscheidung, die auf eine tunlichst rasche Anpassung der Pflege und Erziehungsverhältnisse an die konkreten Gegebenheiten ausgerichtet sein muss. Hat aber nun einmal das Verfahren eine lange Zeitspanne beansprucht, dann müssen auch alle innerhalb dieses Zeitraumes eingetretenen Entwicklungen voll berücksichtigt werden."

Demgemäß konnte auch im dortigen Verfahren eine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht nicht getroffen werden. Es wurden vielmehr die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Klärung der Frage, "ob die Mutter zum Entscheidungszeitpunkt so schwere Beeinträchtigungen aufweist oder doch in Zukunft mit größter Wahrscheinlichkeit erwarten lässt, dass sie zur Pflege und Erziehung des Kindes in einem Ausmaß unfähig ist, das eine ernsthafte ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Kindeswohles befürchten lässt", aufgehoben.

Richtig ist, dass im Rahmen einer Obsorgeentscheidung auch Zukunftsprognosen zu stellen sind. Die zukunftsbezogene Rechtsgestaltung ist aber nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktueller Sachverhaltsgrundlage beruht (RIS-Justiz RS0048632 [T4]; zuletzt: 9 Ob 8/02w). Nach der aktuellen Sachverhaltsgrundlage steht im vorliegenden Fall aber eine solche Beeinträchtigung des Kindeswohls bei "Rückführung" der Minderjährigen in den elterlichen Haushalt zum jetzigen Zeitpunkt - wenn auch nicht infolge Erziehungsunfähigkeit der Mutter - fest, und es bleibt offen, ob die vom Rekursgericht zu Recht angestrebte Annäherung zwischen dem Kind und seinen Eltern tatsächlich soweit gefördert werden kann, dass mit dem Pflegeplatzwechsel keine gravierenden Nachteile mehr für die Minderjährige verbunden sind.

Eine abschließende Entscheidung kommt daher hier (auch) im Bereich der Obsorge - genauso wie in der Frage des Besuchsrechts - derzeit noch nicht in Betracht: Die Aufhebung von Maßnahmen nach § 176 ABGB sowie eine allfällige Obsorgerückübertragung setzen nämlich voraus, dass eine Beeinträchtigung der Kindesinteressen nicht mehr zu befürchten ist, wobei auch vor einer Rückübertragung der Obsorge von Dritten auf einen Elternteil zusätzlich die Vor- und Nachteile beider Möglichkeiten abzuwägen sind (Schwimann in Schwimann I² Rz 19 und Rz 5 zu § 176 ABGB mwN). Nichts anderes kann im vorliegenden Fall gelten.

Dabei wird nicht übersehen, dass es dem Kindeswohl entspricht, wenn das Gericht seine Erhebungen möglichst rasch und ohne Verzögerungen durchführt und nach ausreichender Klärung aller maßgeblichen Umstände eine nicht nur vorläufige, sondern endgültige Entscheidung über die Zuweisung der elterlichen Rechte und Pflichten trifft (SZ 59/160; RIS-Justiz RS0104363). Die bei Kollision verschiedener Leitgedanken zur Obsorgeentscheidung vorzunehmende Gesamtschau (RIS-Justiz RS0047832 [T7]) führt hier jedoch dazu, dass über die Obsorge noch nicht entschieden werden kann, und die Provisorialmaßnahme vorläufig aufrecht zu bleiben hat. Die Frage, ob die vorläufige Maßnahme (auch) im Fall einer endgültigen Obsorgeentscheidung aufrecht erhalten werden könnte, stellt sich somit nicht.

Dem Revisionsrekurs der Großmutter war daher Folge zu geben.

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