OGH 8Ob42/24w

OGH8Ob42/24w22.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka, Dr. Stefula, Dr. Thunhart und Mag. Dr. Sengstschmid als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S* GmbH, *, vertreten durch Mag. Martin Josef Walser, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Fonds *, vertreten durch Dr. Martin Neuwirth und Dr. Alexander Neurauter, Rechtsanwälte in Wien, wegen 142.435,14 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 30. Jänner 2024, GZ 16 Nc 4/24w‑2 (in der Fassung des Ergänzungsbeschlusses vom 1. März 2024), mit dem der Delegierungsantrag der beklagten Partei abgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0080OB00042.24W.0522.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass anstelle des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien das Handelsgericht Wien zur Verhandlung und Entscheidung bestimmt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.437,44 EUR (darin enthalten 406,24 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin begehrt insgesamt 142.435,14 EUR sA als Honorar für IT‑Dienstleistungen. Zur Zuständigkeit des angerufenen Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien berief sie sich auf eine Gerichtsstandsvereinbarung, wonach als ausschließlicher Gerichtsstand für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Parteien das sachlich in Betracht kommende Gericht in Wien vereinbart wurde.

[2] Der Beklagte, ein öffentlich-rechtlicher Fonds, beantragte die Delegierung des Verfahrens gemäß § 31 JN an das gemäß § 96 JN zuständige Handelsgericht Wien zur Verbindung mit dem dort zu 27 Cg 19/23h anhängigen Verfahren, in welchem er die Klägerin des gegenständlichen Verfahrens auf Zahlung von 357.658,22 EUR sowie Feststellung in Anspruch nehme. Gegenstand beider Verfahren sei die Ausschreibung eines Bezugs von Softwarelizenzen, deren Wartung, Support und Implementierungsarbeiten über die Bundesbeschaffung GmbH. Das Verfahren vor dem Handelsgericht Wien befinde sich im Stadium der Beweisaufnahme; in der nächsten Verhandlung solle in Anwesenheit eines Sachverständigen eine Vielzahl von Zeugen befragt werden. Die Zuständigkeit des Handelsgerichts Wien für die gegenständliche Widerklage wäre gemäß § 96 JN gegeben. Die Möglichkeit der Verfahrensverbindung spreche für die Zweckmäßigkeit der begehrten Delegation.

[3] Die Klägerin sprach sich gegen diese Delegierung aus. Die Klagsforderung resultiere nicht aus der im Verfahren vor dem Handelsgericht Wien gegenständlichen Rahmenvereinbarung, sondern aus Einzelverträgen. Eine Delegierung werde auch nicht zu einer rascheren Erledigung oder zu einem geringeren Kostenaufwand führen. Besonders schwerwiegende Gründe, um die Rechtssache gegen den Willen der Klägerin dem zuständigen Gericht abzunehmen, lägen nicht vor.

[4] Das Erstgericht legte den Akt mit der Stellungnahme vor, die beantragte Delegierung sei zweckmäßig.

[5] Das Oberlandesgericht Wien wies den Delegierungsantrag ab. Ein Gericht gleicher Gattung iSd § 31 JN sei nur ein Gericht, das im konkreten Fall sachlich zuständig sein könnte. Unter sachlicher Zuständigkeit sei nicht nur die Zugehörigkeit einer Rechtssache zu einem bestimmten Gerichtstyp (Bezirksgericht oder Gerichtshof erster Instanz), sondern auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kausalgerichtsbarkeit (zB allgemeine Zivilsache oder Handelssache) zu verstehen, weshalb die Zulässigkeit einer Delegierung allgemeiner Zivilsachen an das Handelsgericht Wien abgelehnt werde. Wenn die Delegierung an ein Handelsgericht beantragt werde, die konkrete Rechtsstreitigkeit aber nicht in den Zuständigkeitskatalog des § 51 JN falle, sei der Delegierungsantrag abzuweisen. Der Umstand, dass die Klägerin die Klage als „Widerklage“ unter Inanspruchnahme des Gerichtsstands der Widerklage nach § 96 JN beim Handelsgericht Wien hätte einbringen können, ändere daran nichts.

[6] Dagegen richtet sich der von der Klägerin beantwortete Rekurs des Beklagten mit dem Antrag auf Stattgebung des Delegierungsantrags.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Rekurs ist berechtigt.

[8] 1. Nach § 31 Abs 1 JN kann aus Gründen der Zweckmäßigkeit auf Antrag einer Partei anstelle des zuständigen Gerichts ein anderes Gericht gleicher Gattung zur Verhandlung und Entscheidung bestimmt werden.

[9] 2.1. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Gericht gleicher Gattung im Sinn dieser Bestimmung nur ein Gericht, das im konkreten Fall sachlich zuständig sein könnte. Unter sachlicher Zuständigkeit ist nicht nur die Zugehörigkeit einer Rechtssache zu einem bestimmten Gerichtstyp (Bezirksgericht oder Gerichtshof erster Instanz), sondern auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kausalgerichtsbarkeit (zB allgemeine Zivilsache oder Handelssache) zu verstehen (RS0046151 [T2]). Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrmals die Zulässigkeit einer Delegierung allgemeiner Zivilsachen an das Handelsgericht Wien verneint (2 Ob 599/89; 8 Ob 668/89; 8 Ob 532/91; 4 Nc 18/03i).

[10] 2.2. Zu 7 Ob 152/15a wurde im Zuge der Prüfung eines Delegierungsantrags der dortigen Beklagten jedoch darauf hingewiesen, dass das Handelsgericht Wien aufgrund des Wahlgerichtsstands des § 262 Z 3 IO sachlich zuständig sein könnte. Die Zweckmäßigkeit der Delegierung wurde inhaltlich geprüft.

[11] 2.3. Der erkennende Senat schließt sich der in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommenden Rechtsansicht an, dass bei der Prüfung, ob es sich um ein Gericht gleicher Gattung iSd § 31 JN handelt, nicht nur der Zuständigkeitskatalog des § 51 JN, sondern auch außerhalb desselben normierte Gerichtsstände relevant sind, die eine individuelle Zuständigkeit und damit die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts Wien begründen.

[12] 2.4. Die Klägerin argumentiert in ihrer Rekursbeantwortung, die Inanspruchnahme des Wahlgerichtsstands der Widerklage sei ein ihr als Beklagten der Vorklage zukommendes Abwehrmittel und kein Recht des (Wider‑)Beklagten.

[13] Es entspricht dem Wesen von Wahlgerichtsständen, dass dem Kläger – und nicht dem Beklagten – die Wahl zukommt, ob er sie in Anspruch nimmt oder nicht (Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 Vor § 76 JN Rz 1; Stefula in Höllwerth/Ziehensack, ZPO, Vor §§ 76–85 JN Rz 2). Dies bildet keine Besonderheit des Gerichtsstands der Widerklage; es trifft etwa gleichermaßen auf den Gerichtsstand nach § 262 Z 3 IO zu.

[14] Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass sich der Beklagte in einem Delegierungsantrag nicht auf einen Wahlgerichtsstand stützen könnte, der potenziell die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts Wien begründet (7 Ob 152/15a). Auch die durch den Gerichtsstand der Widerklage nach § 96 JN gegebene individuelle Zuständigkeit ist demnach in die Prüfung der Frage miteinzubeziehen, ob es sich beim Handelgericht Wien um ein Gericht gleicher Gattung iSd § 31 JN handelt.

[15] 2.5. Demgemäß ist bei einer Widerklage eine Delegierung vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien an das Handelsgericht Wien nicht ausgeschlossen.

[16] 3. Haben die Parteien eine Gerichtsstandsvereinbarung getroffen, so ist eine Delegierung wegen bloßer Zweckmäßigkeitsgründe unstatthaft, sofern nicht nachträglich Umstände eintreten, auf die bei Abschluss der Vereinbarung nicht Bedacht genommen werden konnte (RS0046198). Hier haben die Parteien aber nur die örtliche Zuständigkeit der Wiener Gerichte festgelegt, sodass die Gerichtsstandsvereinbarung der beantragten Delegierung nicht entgegensteht.

[17] 4.1. Eine Delegierung darf nur den Ausnahmefall darstellen und soll nicht zu einer Durchbrechung der an sich maßgeblichen gesetzlichen Zuständigkeitsordnung führen. Gegen den Willen der anderen Partei kann die Delegierung daher nur dann ausgesprochen werden, wenn die Frage der Zweckmäßigkeit eindeutig zu Gunsten aller Parteien des Verfahrens gelöst werden kann (RS0046589 ua).

[18] 4.2. Zweckmäßig ist eine Delegierung nur dann, wenn die Rechtssache bei einem anderen Gericht aller Voraussicht nach rascher und mit geringerem Kostenaufwand zu Ende geführt werden kann (RS0046333; RS0053169).

[19] 4.3. Ein Delegierungsantrag kann begründet sein, wenn die Ansprüche, welche mit verschiedenen Klagen bei verschiedenen Gerichten geltend gemacht werden, untereinander im Zusammenhang stehen (RS0046528 [T20]), und insbesondere dann, wenn durch Verbindung von zwei Prozessen eine doppelte Beweisaufnahme vermieden und eine nicht unerhebliche Kostenersparnis erzielt werden kann (RS0046528 [T12]).

[20] 4.4. Bei einer Widerklage spricht im Falle der Delegierung der Vorklage der Zusammenhang des mit der Vorklage geltend gemachten Anspruchs mit dem in der Widerklage erhobenen Anspruch, die weitgehende Identität der Beweismittel und die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer Verbindung für die Delegierung auch der Widerklage (RS0046123). Ein solcher Fall liegt zwar nicht vor; die vorliegende Konstellation ähnelt aber jener im Zeitpunkt vor der Delegierung auch der Widerklage (vgl 5 Ob 33/85). Hier ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die in der Vorklage geltend gemachte Forderung im gegenständlichen Verfahren als Gegenforderung eingewendet wurde.

[21] 4.5. Zu Wahlgerichtsständen wird zwar judiziert, dass bei der Delegierung eines anderen Gerichts über Antrag des Beklagten ein besonders strenger Maßstab anzulegen ist (RS0046357 [T7]). Ob diese Judikatur, die auf den Charakter der dort maßgeblichen Wahlgerichtsstände als Schutzvorschriften Bezug nimmt, auf den gegenständlichen Fall zu übertragen ist, kann dahingestellt bleiben, weil selbst unter Anlegung dieses besonders strengen Maßstabs die Zweckmäßigkeit der Delegierung für alle Parteien zu bejahen ist.

[22] 5. In Abänderung des angefochtenen Beschlusses war die Rechtssache daher an das Handelsgericht Wien zu delegieren.

[23] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Ist die Delegierung strittig, so ist das darüber geführte Verfahren ein Zwischenstreit, über dessen Kosten unabhängig vom Ausgang der Hauptsache zu entscheiden ist (RS0036025). Im erstinstanzlichen Verfahren sind dem Beklagten keine abgrenzbaren Kosten entstanden. Für den Rekurs gebührt nur der einfache Einheitssatz (§ 23 Abs 9 RATG).

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