OGH 4Ob79/24g

OGH4Ob79/24g26.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M. und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der betroffenen Person *, geboren * 1975, *, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Erwachsenenvertreters *, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 14. März 2024, GZ 54 R 255/23f‑18, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00079.24G.0426.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Erwachsenenschutzrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Betroffene leidet an einer schizoaffektiven Störung und organisch affektiven Psychose. Seine Intelligenz ist gemindert und entspricht einem mentalen Alter von 9 bis unter 12 Jahren. Dadurch sind die Exekutivfunktionen (wie Planen, Entwickeln von Strategien, Prioritäten setzen und kognitive Flexibilität), das Kurzzeitgedächtnis sowie die funktionelle Verwendung von schulischen Fertigkeiten (wie Lesen, Umgang mit Geld) beeinträchtigt.

[2] Der Betroffene wurde im Mai 2023 bedingt aus einem forensisch-therapeutischen Zentrum entlassen und erhielt die Weisung, seinen Wohnsitz während der fünfjährigen Probezeit in einem vollbetreuten Wohnheim zu nehmen.

[3] Er ist türkischer Staatsangehöriger und verfügt über keinen gültigen Aufenthaltstitel für Österreich. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl plant, den Betroffenen noch während offener Probezeit abzuschieben.

[4] Die Vorinstanzen bestellten einen Rechtsanwalt als Erwachsenenvertreter für die Vertretung vor Behörden, Gerichten und Sozialversicherungsträgern, insbesondere im anhängigen Aufenthaltsverfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie für die Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten. Andere geeignete Personen stünden nicht zur Verfügung.

[5] Der Erwachsenenvertreter bekämpft seine Bestellung mit außerordentlichem Revisionsrekurs und argumentiert, dass im Aufenthaltsverfahren ohnehin ein Rechtsanspruch auf Vertretung durch einen Rechtsberater nach § 52 Abs 1 BFA-VG 2014 bestehe, sodass die Besorgung der Angelegenheiten des Betroffenen nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordern würde.

Rechtliche Beurteilung

[6] Damit zeigt er keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[7] 1. Das Pflegschaftsgericht ist bei der Bestellung eines Erwachsenenvertreters an den gesetzlichen „Stufenbau“ des § 274 ABGB gebunden. Wenn – wie hier – weder eine vom Betroffenen selbst gewählte noch eine ihm nahestehende Person, oder ein Vereins-Erwachsenenvertreter zur Verfügung steht, so ist grundsätzlich ein Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) oder Notar (Notariatskandidat) zu bestellen (RS0123297).

[8] Angehörige dieser Rechtsberufe müssen nach § 275 ABGB gerichtliche Erwachsenenvertretungen grundsätzlich übernehmen, es sei denn, es liegt ein in dieser Bestimmung genannter Ablehnungsgrund vor. Eine Ablehnung nach § 275 Z 1 ABGB setzt voraus, dass die Besorgung der Angelegenheiten nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert.

[9] Rechtliche Fachkenntnisse werden in der Regel für die Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten (insbesondere zur Durchsetzung von Ansprüchen) oder für den Abschluss komplizierter Verträge erforderlich sein (5 Ob 190/23m; 6 Ob 125/23k; 5 Ob 40/23b). Es muss eine Angelegenheit vorliegen oder konkret absehbar sein, die von einer Person ohne juristische Ausbildung nicht eigenständig erfüllt werden könnte. Die bloß abstrakte Möglichkeit, dass in Zukunft Prozesse und Verfahren anfallen oder Rechtskenntnisse künftig von Vorteil sein könnten, genügt nicht. Vielmehr müssen diese Angelegenheiten aktuell oder in naher Zukunft zu besorgen sein (5 Ob 190/23m; 6 Ob 125/23k; 4 Ob 41/23t).

[10] 2. Ob Angelegenheiten zu besorgen sind, für die vorwiegend Rechtskenntnisse erforderlich sind, ist immer nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei dem Gericht ein Beurteilungsspielraum zukommt (RS0117452 [T2]; 5 Ob 190/23m Rz 7 mwN). Nur eine eklatante Überschreitung dieses Ermessensspielraums wäre vom Obersten Gerichtshof als im Sinn der Rechtseinheit erhebliche Rechtsfrage aufzugreifen.

[11] Die Ansicht der Vorinstanzen, dass das laufende Abschiebungsverfahren des Betroffenen rechtliche Fachkenntnisse erfordert, hält sich im Rahmen des durch die Rechtsprechung gesteckten Beurteilungsspielraums (vgl etwa 5 Ob 190/23m Rz 11 mwN).

[12] Der Revisionsrekurs zeigt auch mit der zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung auf. Dass danach wegen des Rechtsanspruchs auf Vertretung durch einen Rechtsberater nach § 52 Abs 1 BFA‑VG 2014 kein Anspruch auf einen Verfahrenshilfeverteidiger bestehe (Ra 2016/20/0043), ist hier nämlich nicht einschlägig. Im vorliegenden Fall war nämlich nicht zu prüfen, ob gemäß § 40 VwGVG für eine eigenberechtigte Person ein Verteidiger im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung erforderlich und grundrechtlich geboten ist.

[13] Die Vorinstanzen hatten vielmehr bei der Auswahl eines Erwachsenenvertreters zu beurteilen, ob die Besorgung der Angelegenheiten des Betroffenen vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert. Die Bejahung dieser Frage ist bei einem anhängigen Abschiebungsverfahren jedenfalls vertretbar, wenn der Betroffene – wie hier – auch trotz Unterstützung durch einen Rechtsberater das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht selbst bewältigen könnte.

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