European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0090OB00025.23A.0424.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Unterhaltsrecht inkl. UVG
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller ist schuldig, dem Antragsgegner die mit 602,54 EUR (darin enthalten 100,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsrekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Der Antragsteller ist der Vater des 1997 geborenen Antragsgegners. Mit Beschluss vom 23. 8.2017 (ON 13) wurde er von seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Antragsgegner mit Ablauf Juni 2017 enthoben. Mit Abänderungsantrag vom 4. 9. 2018 (ON 41) beantragte der Antragsgegner diesen Beschluss für nichtig zu erklären, weil er im Verfahren trotz psychischer Erkrankung nicht durch einen gesetzlichen Vertreter vertreten gewesen sei.
[2] Mit dem (revisionsgegenständlichen) Beschluss vom 3. 10. 2022 (ON 219) sprach das Erstgericht aus, dass der Beschluss vom 23. 8. 2017 gemäß § 77 Abs 2 AußStrG dahingehend abgeändert werde, dass der Antrag abgewiesen sowie das Verfahren für den Bemessungszeitraum ab 1. 7. 2017 aufgehoben und für nichtig erklärt werde. Der Antragsgegner sei im Verfahren nicht durch einen gesetzlichen Vertreter vertreten gewesen. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung sei er nach wie vor nicht selbsterhaltungsfähig. Rechtsmissbrauch sei auszuschließen. Weder die Familienbeihilfe noch die Mindestsicherung stellten Einkünfte des Unterhaltsberechtigten dar und würden daher seinen Unterhaltsanspruch nicht schmälern.
[3] Dem gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs des Antragstellers gab das Rekursgericht nicht Folge. Mindestsicherungsansprüche nach dem Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG) sowie Leistungen nach dem Wiener Sozialhilfegesetz (WSHG) seien im Hinblick auf die darin geregelte aufgeschobene Legalzession sowie die Rückersatzverpflichtung gegenüber Unterhaltsansprüchen subsidiär. Eine für einen Forderungsübergang erforderliche Anzeige wäre vom Antragsteller nachzuweisen gewesen. Damit sei der Antragsgegner weiterhin zur Geltendmachung von Unterhalt legitimiert.
[4] Sei die Selbsterhaltungsfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung des Kindes nicht eingetreten, wäre ein Unterhaltsanspruch nur bei Rechtsmissbrauch zu verneinen. Das Verhalten des Beklagten sei bei objektiver Betrachtung aber Ausdruck und Folge der festgestellten psychischen Erkrankung, weshalb keine Selbsterhaltungsfähigkeit vorliege.
[5] Der Revisionsrekurs wurde vom Rekursgericht nachträglich über Antrag des Antragstellers zugelassen, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung des § 23 WMG bestehe.
[6] Gegen den Beschluss des Rekursgerichts wendet sich der Revisionsrekurs des Antragstellers mit dem Antrag, die Beschlüsse der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass der Abänderungsantrag des Antragsgegners zurückgewiesen wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[7] Der Antragsgegner beantragt, den Revisionsrekurs zurückzuweisen in eventu ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) – Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.
[9] 1. Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind dann, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist (RS0047567 [T4]). Fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit liegt vor, wenn das unterhaltsberechtigte Kind nach Ende des Pflichtschulalters weder eine weitere zielstrebige Schulausbildung oder sonstige Berufsausbildung absolviert noch eine mögliche Erwerbstätigkeit ausübt, also arbeits- und ausbildungsunwillig ist, ohne dass ihm krankheits- oder entwicklungsbedingt die Fähigkeit fehlt, für sich selbst aufzukommen (vgl RS0114658). Voraussetzung der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit ist, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft (vgl RS0047605).
[10] 2. Ist die Selbsterhaltungsfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung des Kindes nicht eingetreten, wäre sein Unterhaltsanspruch nur bei Rechtsmissbrauch zu verneinen (RS0047330 [T3]). Voraussetzung ist allerdings nach allgemeinen Grundsätzen ein vorsätzliches Verhalten, das die durch die Unterhaltsleistungen abzudeckenden Bedürfnisse erst schafft oder das Zulangen der vor dem Akutwerden der geltend gemachten Fremdleistungspflicht auszuschöpfenden Mittel (also etwa auch einer eigenen Erwerbstätigkeit des unterhaltsberechtigten Kindes) beeinträchtigt (RS0047330).
[11] Ob ein derartiger Rechtsmissbrauch anzunehmen ist, hängt in aller Regel von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und vermag daher – von Fällen krasser Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz abgesehen – die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht zu rechtfertigen (RS0047330 [T4]).
[12] 3. Aus den Feststellungen ergibt sich zwar eine Krankheitseinsicht und die Zumutbarkeit einer Therapie. Maßgebend ist aber, ob die Verweigerung einer Therapie Folge bzw Symptom der psychischen Erkrankung ist. Davon ist das Rekursgericht in Bezug auf das – manipulative, eine Veränderung der Situation und empfohlene therapeutische Maßnahmen verhindernde – Verhalten des Antragsgegners ausgegangen und hat einen Rechtsmissbrauch vertretbar verneint.
[13] 4. Der Grundsatz, dass einer Person, deren Unterhaltsbedürfnisse aufgrund einer öffentlichen Verpflichtung zur Gänze von einem Dritten gedeckt werden, schon deswegen keine Unterhaltsansprüche gegen einen zivilrechtlich Unterhaltspflichtigen stellen kann, weil ihr ein Anspruch auf Doppelversorgung nicht zusteht (vgl etwa RS0080395), kann dort nicht angewendet werden, wo der Gesetzgeber durch Anordnung (aufgeschobener) Legalzession ausdrücklich das Weiterbestehen des Anspruchs des Unterhaltsberechtigten vorausgesetzt hat (RS0063121). Nur wenn das jeweilige Sozialhilfegesetz keine den Sozialhilfeempfänger betreffende Rückzahlungsverpflichtung oder keine (aufgeschobene) Legalzession des Unterhaltsanspruchs vorsieht, also die einmal gewährte Sozialhilfe nicht (mehr) zurückgefordert werden kann, istsie als anrechenbares Eigeneinkommen des Unterhaltsberechtigten anzusehen (RS0118565 [T2]; RS0063121 [T2]).
[14] 5. § 23 des Wiener Mindestsicherungsgesetzes (WMG) sieht eine solche aufgeschobene Legalzession vor. Nach dieser Bestimmung gehen die Ansprüche für die Dauer der Hilfeleistung bis zur Höhe der entstandenen Kosten auf den Träger der Wiener Mindestsicherung über, sobald dem Dritten die Hilfeleistung angezeigt wird.
[15] Dass eine solche Anzeige durch den Träger der Wiener Mindestsicherung erfolgt ist, behauptet auch der Antragsteller nicht. Entgegen der Revision ist aus der Systematik und dem Gesetzeszweck eindeutig abzuleiten, dass es nicht ausreicht, dass diese Anzeige durch eine dritte Person erfolgt. Vielmehr soll der Träger der Wiener Mindestsicherung unter den gesetzlichen Voraussetzungen die Wahl haben, ob er sich im Wege der Legalzession nach § 23 WMG bei den/der unterhaltspflichtigen Person/en regressiert oder von der die Mindestsicherung empfangenden Person Kostenersatz nach § 24 WMG fordert.
[16] Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt aber dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn das Gesetz selbst eine klare, das heißt eindeutige Regelung trifft. So, wenn eine Rechtsfrage im Gesetz so eindeutig gelöst ist, dass nur eine Auslegungsmöglichkeit ernstlich in Betracht zu ziehen ist und Zweifel nicht entstehen können (RS0042656 [T8]).
[17] 6. Erst kürzlich hat der Oberste Gerichtshof zu den insoweit vergleichbaren Bestimmungen des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes ausgesprochen, das dieses eine „aufgeschobene“ Legalzession vorsehe, was die Anrechnung der dem Unterhaltsberechtigten gewährten Sozialleistungen als dessen Eigeneinkommen ausschließe. Bei Bezug einer Mindestsicherung bleibt daher der volle Unterhaltsanspruch bestehen; die vom Unterhaltsberechtigten bezogene Mindestsicherung ist bei Bemessung des Unterhalts im Verhältnis zum Unterhaltsverpflichteten nicht als Eigeneinkommen zu berücksichtigen (5 Ob 213/22t; 9 Ob 110/22z).
[18] Damit ist aber eine Verjährung von Rückforderungsansprüchen des Sozialhilfeträgers gegen den Unterhaltsberechtigten ohne Auswirkung auf den Anspruch gegenüber dem Unterhaltsverpflichteten.
[19] 7. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG ist der Revisionsrekurs des Antragstellers zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Zurückweisungsbeschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).
[20] 8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 78 Abs 2 AußStrG. Der Antragsgegner hat in der Revisionsrekursbeantwortung zutreffend auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen (RS0122774).
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