European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00084.23F.1023.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:
1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 8.257,92 EUR samt 4 % Zinsen seit 3. 3. 2021 Zug um Zug gegen Übergabe des Kraftfahrzeugs VW Tiguan mit der Fahrzeugidentifikationsnummer * zu zahlen.
2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 12.360,10 EUR (darin 1.002,52 EUR Umsatzsteuer und 6.345 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger kaufte am 23. 3. 2016 von einer privaten Verkäuferin ein von der Beklagten hergestelltes Fahrzeug, und zwar einen Gebrauchtwagen der Marke VW Tiguan (Fahrgestellnummer *). Dieses Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe EA189 ausgestattet. Es war darin bei Übergabe an den Kläger eine Motor-Software (in der Folge als Umschaltlogik bezeichnet) verbaut, die erkannte, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand (= Modus 1) oder im normalen Fahrbetrieb im Straßenverkehr befand (= Modus 0).
[2] Dazu war es aufgrund einer für den Konzern der Beklagten getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung gekommen, im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse die Fahrzeuge mit Dieselmotoren dieser Baureihe (EA189) ab der zweiten Hälfte der 2000er Jahre mit einer Motorsteuerungs‑Software auszustatten, die bewusst und gewollt so programmiert war, dass die Software im Sinne der genannten „Umschaltlogik“ erkannte, ob ein Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (fortan: NEFZ) unterzogen wird, und diesfalls vom regulären Abgasrückführungsmodus 0 in einen Stickoxid-optimierten Abgasrückführungsmodus 1, schaltete, sodass nur auf dem Prüfstand die Grenzwerte der Euro 5-Norm eingehalten, diese hingegen im normalen Fahrbetrieb überschritten wurden. Das deutsche Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hätte in Kenntnis dieser Steuerungssoftware für damit ausgestattete Fahrzeuge keine EU-Betriebserlaubnis erteilt.
[3] Die Beklagte brachte diese Fahrzeuge nicht nur mit dem Ziel, damit das KBA als Typgenehmigungsbehörde zu täuschen, sondern auch unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, welche die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzten, in Verkehr. Zudem nahm die Beklagte die damit einhergehende Belastung der Umwelt und die Gefahr, dass bei einer Aufdeckung dieses Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte, bewusst in Kauf. Dieses Verhalten änderte die Beklagte nach außen erkennbar erst ab September 2015, indem sie, wenngleich wegen des medialen Drucks, an die Öffentlichkeit trat, nunmehr „Unregelmäßigkeiten“ einräumte und Maßnahmen zur Beseitigung des gesetzwidrigen Zustands erarbeitete, um die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung zu bannen. Nach Bekanntwerden des Vorwurfs der Manipulation im September 2015 war diese unter Bezeichnungen wie „Dieselskandal“ oder „V*-Abgasskandal“ in Presse, Funk und Fernsehen monatelang „ein beherrschendes Thema“.
[4] Die Beklagte erstellte einen Maßnahmenplan, der für alle betroffenen Fahrzeuge vorbehaltlich einer abschließenden Überprüfung und Freigabe durch das KBA ein Software-Update des Motorsteuergeräts vorsah. Sie schaltete zudem auf ihrer Website einen Link zu einer Suchmaschine frei, mit deren Hilfe durch Eingabe der Fahrzeugidentifizierungsnummer festgestellt werden konnte, ob ein konkretes Fahrzeug mit der beanstandeten Steuerungssoftware ausgestattet war.
[5] In Pressemitteilungen vom 16. 12. 2015 und 27. 1. 2016 machte die Beklagte Mitteilungen über diese „Abhilfemaßnahmen“ (Sofware-Update) und die Dauer der dafür benötigten Arbeitszeit.
[6] Am 27. 1. 2016 bestätigte das KBA (ebenfalls in einer Pressemitteilung) die Anordnung des verbindlichen Rückrufs aller betroffenen V*-Dieselmodelle im Oktober 2015 und (nur) die Freigabe der technischen Lösung für das Fahrzeugmodell Amarok 2,0-Liter. Die Freigaben für die weiteren betroffenen Modelle befänden sich „derzeit“ noch beim KBA in der Prüfung. Mit Schreiben vom 1. 6. 2016 bestätigte das KBA der Beklagten (auch) die Eignung des für den Fahrzeugtyp VW Tiguan vorgestellten Software-Update, die Vorschriftsmäßigkeit dieses Fahrzeugtyps wiederherzustellen, sodass die Beklagte nunmehr auch mit diesem Fahrzeugtyp mit ihrer Rückrufaktion zum Entfernen der unzulässigen Steuerungssoftware und dem Aufspielen dieses Software-Updates beginnen konnte.
[7] Die Generalimporteurin teilte dem Kläger mit Schreiben vom 31. 1. 2018 mit, dass in seinem Fahrzeug ein Dieselmotor verbaut worden war, durch dessen Motorsteuergeräte-Software die Stickoxidwerte (NOx) im Vergleich zwischen Prüfstandslauf (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert würden und daher eine Umprogrammierung des Motorsteuergeräts erforderlich sei. Die technische Lösung für sein Fahrzeug stehe nun zur Verfügung. Er solle sich mit einem V*-Betrieb seiner Wahl zur Terminvereinbarung in Verbindung setzen.
[8] Nach dessen Erhalt vereinbarte der Kläger einen Termin bei einer V*-Vertragswerkstätte. Es wurde dort am 13. 3. 2018 das Software-Update an seinem Fahrzeug aufgespielt. Seither findet die Abgasrückführung nur bei Außentemperaturen zwischen 15 Grad und 33 Grad Celsius in vollem Umfang statt („Thermofenster“). Bei niedrigeren oder höheren Temperaturen und bei Verwendung des Fahrzeugs in einer (Meeres-)Höhe von mehr als 1.000 m kommt es hingegen zu einem „Ausrampen“ der Abgasrückführung, das heißt, je tiefer oder je höher die Temperaturen sind, umso stärker wird die Abgasrückführung zurückgenommen und bei Extremtemperaturen im Minusbereich oder jenseits von 40 Grad Celsius sogar gänzlich unterbunden.
[9] Ob und, wenn ja, in welcher Informationstiefe der Kläger bis zum Zeitpunkt des Erwerbs des Klagsfahrzeugs, aufgrund der medialen Berichterstattung Kenntnis vom „V*‑Dieselskandal“ hatte, steht nicht fest. Bevor er es kaufte, ließ er bei einem ÖAMTC-Stützpunkt einen Ankaufstest durchführen, in dessen Zuge er nicht darauf hingewiesen wurde, dass das Klagsfahrzeug vom „Diesel‑Skandal“ betroffen war, darin also eine unzulässige Motorsteuerungs-Software eingebaut sein könnte. Auch die Verkäuferin thematisierte von sich aus nicht, dass das Klagsfahrzeug vom „Diesel-Skandal“ betroffen sein könnte. Beim Kauf war dem Kläger wichtig, dass es sich um ein Allradfahrzeug handelt, und er vertraute darauf, dass das Fahrzeug über eine gültige Typengenehmigung verfügt und die hierfür geltenden Abgas-Emissionswerte einhält. Hätte der Kläger bei Kauf gewusst, dass das Fahrzeug mit einer unzulässigen Motorsteuerungs‑Software ausgestattet ist, hätte er es nicht gekauft.
[10] Das Fahrzeug wurde mit einer Kilometerlaufleistung von 66.800 km im Ankaufszeitpunkt übernommen und wies zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung eine Kilometerleistung von ca 126.000 km auf.
[11] Der Kläger begehrt von der Beklagten als Herstellerin Schadenersatz in Höhe von 8.257,92 EUR unter Anrechnung eines Benützungsentgelts gegen „Rückgabe“ des Fahrzeugs, in eventu Zahlung von 4.950 EUR und Feststellung, gestützt auch auf Arglist und sittenwidrige Schädigung sowie auf die in der Übereinstimmungsbescheinigung abgegebene Zusicherung der gesetzmäßigen Ausführung des Fahrzeugs. Dieses habe über eine unzulässige Abschalteinrichtung, zuletzt eben in Form des „Thermofensters“, verfügt.
[12] Die Beklagte bestritt als Herstellerin des Fahrzeugs, eine unzulässige Abschalteinrichtung darin verbaut zu haben und behauptete (den im Verfahren nicht erweislichen Umstand), dass der Kläger das Fahrzeug bereits in Kenntnis des „V*‑Dieselskandals“ erworben habe. Mit dem durchgeführten Software‑Update im März 2018 sei ein allfälliger bei Kauf des Klagsfahrzeugs noch vorhandener Mangel jedenfalls beseitigt worden. Weder könne ihr sittenwidrige Schädigungsabsicht noch Arglist vorgeworfen werden noch treffe sie hinsichtlich des Thermofensters Verschulden, weil dieses von den zuständigen Behörden als zulässig eingestuft worden sei.
[13] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es kam zwar zum Ergebnis, dass die Beklagte aus Gewinninteresse Fahrzeuge systematisch und langjährig in Verkehr gebracht und damit bewusst und gewollt nicht nur das KBA, sondern auch die arglosen Käufer dieser Fahrzeuge getäuscht habe. Jedoch habe sie durch Änderung ihrer Strategie, an die Öffentlichkeit zu treten und Unregelmäßigkeiten einzuräumen, gegenüber dem Kläger bei Abschluss von dessen Kaufvertrag im März 2016 nicht mehr sittenwidrig oder listig gehandelt. Der Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems („Thermofenster“) sei von vorneherein nicht durch Arglist geprägt gewesen. Der Schadenersatzanspruch des Klägers sei daher weder nach § 874 ABGB noch nach § 1295 Abs 2 ABGB oder auf Basis einer anderen Rechtsgrundlage zu bejahen.
[14] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Die Verordnung (EG) 715/2007 sei kein Schutzgesetz zur Verhinderung von Vermögensschäden einzelner Käufer. Ein durchschnittlich informierter, verständiger Verbraucher hätte aufgrund der Medienberichterstattung im März 2016 nicht mehr über das Vorhandensein der unzulässigen Abschalteinrichtung getäuscht werden können. Das Thermofenster sei nicht heimlich implantiert worden. Wäre es unzulässig, sei dies von der zuständigen Behörde wahrzunehmen und zu sanktionieren. Ein sittenwidriges Verhalten könne daraus nicht abgeleitet werden. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob die Verordnung (EG) 715/2007 im Zusammenhang mit bloßen Vermögensschäden von Fahrzeugkäufern ein Schutzgesetz darstelle, vorliege.
Rechtliche Beurteilung
[15] Die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers ist zulässig und auch berechtigt. Es ist zwardie vom Berufungsgericht aufgeworfene Rechtsfrage durch Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des Obersten Gerichtshofs mittlerweile geklärt (vgl nur 10 Ob 2/23a vom 21. 2. 2023 [Rz 47 f]; 10 Ob 2/23a vom 25. 4. 2023 [ErwGr II.2.]; 3 Ob 140/22t [Rz 31 ff]), jedoch weicht das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung davon ab.
[16] 1. Beide Parteien zweifeln nicht an, dass das in Rede stehende Kraftfahrzeug gemäß der Verordnung (EG) 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl L 171/1 vom 29. 6. 2007; in der Folge: VO 715/2007/EG ) nach der Abgasnorm Euro 5 zertifiziert ist und in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.
2. Unzulässige Abschalteinrichtung und Schutzgesetzverletzung:
[17] 2.1. In der Entscheidung zu C-145/20 , Porsche Inter Auto und Volkswagen (ÖJZ 2022/114 [Brenn]), hat der EuGH ausgesprochen, dass Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG dahin auszulegen ist, dass eine Abschalteinrichtung, die insbesondere die Einhaltung der in dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte nur gewährleistet, wenn die Außentemperatur zwischen 15 Grad und 33 Grad Celsius liegt, nach dieser Bestimmung allein unter der Voraussetzung zulässig sein kann, wenn nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig ist, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführungssystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden, Risiken, die so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs darstellen. Eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist, kann jedenfalls nicht unter die in Art 5 Abs 2 lit a leg cit vorhandene Ausnahme fallen (3 Ob 121/23z [ErwGr 1.1.]).
[18] 2.2. In der Entscheidung zu C-100/21 , Mercedes-Benz Group, hat der EuGH zur Haftung des Herstellers einer mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs gegenüber dem Käufer ausgesprochen, dass die einschlägigen unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen (Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG und Art 18, 26 und 46 Rahmen‑RL 2007/46/EG ) auch die Einzelinteressen des Käufers eines solchen Kraftfahrzeugs schützen. Aus diesem Grund hat ein individueller Käufer eines Kraftfahrzeugs gegen den Hersteller dieses Fahrzeugs einen Anspruch darauf, dass dieses Fahrzeug nicht mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung iSd Art 5 Abs 2 leg cit ausgestattet ist. Ist dem Käufer durch den Einbau der Abschalteinrichtung ein Schaden im Zusammenhang mit der Anmeldung, dem Weiterverkauf oder dem Betrieb des Fahrzeugs entstanden, so steht ihm ein Anspruch auf Schadenersatz zu (vgl auch RS0031143 [T39]; RS0008775 [T21]).
[19] Dieser Schadenersatz muss im Verhältnis zum entstandenen Schaden angemessen sein und der Anforderung genügen, dass es sich um eine wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktion handelt. Die weiteren Modalitäten für diesen Anspruch richten sich nach dem nationalen Recht, wobei allerdings der Grundsatz der Effektivität zu beachten ist. Die nationalen Gerichte sind auch befugt, dafür Sorge zu tragen, dass der Schutz der unionsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führt; dies geschieht etwa durch Anrechnung des Nutzungsvorteils für die tatsächliche Nutzung (3 Ob 121/23z [ErwGr 1.2.]).
[20] 2.3. Die im Fahrzeug des Klägers verbaute Abschalteinrichtung ist unzulässig, und zwar sowohl in der Form der Softwaresteuerung über die sogenannte Umschaltlogik als auch über jene in Form des sogenannten Thermofensters.
[21] Der Kläger brachte zum „Thermofenster“ im Verfahren erster Instanz auch vor, dass die Abgasrückführung bei seinem Fahrzeug auch infolge des Thermofensters maximal fünf Monate im Jahr voll aktiv wäre, was von der Beklagten, der dies leicht möglich gewesen wäre, nicht bestritten wurde.
[22] 2.4. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass sowohl in der Form der Umschaltlogik als auch in der Form des Thermofensters von einer (im Fahrzeug des Klägers verbauten) unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen ist.
[23] 3.1. Durch die Entwicklung und den Einbau der Abschalteinrichtung in Form der Umschaltlogik im Zusammenhalt mit der Übereinstimmungsbescheinigung hat die Beklagte ein mit einem Mangel behaftetes Fahrzeug in der Absicht, potentielle Kunden (wie auch den Kläger) anlässlich des Vertragsschlusses als Dritte arglistig in die Irre zu führen, in Verkehr gesetzt.
[24] 3.2. Die Beklagte meint nun, sie hafte deshalb nicht, weil ihr zum Thermofenster keine absichtliche, sittenwidrige Schädigung vorzuwerfen sei. Dieses habe sie nicht heimlich aufgespielt. Es spiele keine Rolle, ob dem Kläger im Zeitpunkt des Vertragsschlusses die Betroffenheit des Fahrzeugs von der „Dieselthematik“ bekannt gewesen sei (wozu angemerkt sei, dass sie im Verfahren erster Instanz einen Verjährungseinwand nicht erhoben hat). Sie habe jedenfalls alle Schritte unternommen, um eine Aufklärung der betroffenen Kreise zu erreichen. Hinsichtlich des Thermofensters sei ihr auch kein Verschulden anzulasten, sei dem KBA doch das Thermofenster bekannt gewesen, und es habe die Behörde die Rechtsfrage zum Thermofenster ebenso beantwortet, wie die Beklagte. Auf die Beurteilung als zulässig habe sie daher vertrauen dürfen.
[25] 3.3. Sie übersieht mit dieser Argumentation mehrere gegen den Entfall ihrer Haftung sprechende Gesichtspunkte.
[26] Dass der Kläger bei Kauf in Kenntnis der Abweichung des Fahrzeugs vom erwarteten gesetzmäßigen Zustand durch die Manipulationssoftware gewesen wäre, steht gerade nicht fest, sondern vielmehr gegenteilig, dass er bei Kenntnis von der Abschalteinrichtung den Vertrag nicht abgeschlossen hätte. Wenn es der Beklagten im Jahr 2018 möglich war, jeden einzelnen Kunden schriftlich zu erreichen, stellt sich die Frage, warum ihr dies nicht schon viel früher, nämlich bei Bekanntwerden des (richtigen) Vorwurfs der Manipulation möglich gewesen sein sollte.
[27] Die Auffassung, wenn das Inverkehrbringen des Fahrzeugs als potentiell schadensursächliche Handlung einerseits und der Eintritt des Schadens andererseits zeitlich auseinanderklaffen, könne dem Schädiger der Vorwurf eines objektiv sittenwidrigen Handelns nicht mehr gemacht werden, wenn er inzwischen sein Verhalten nach außen „erkennbar geändert“ habe (wie dies die Beklagte unter Berufung auf Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs vertritt [BGH 26. 6. 2023, VIa ZR 533/21 {Rn 14 ff}]), wird vom erkennenden Senat nicht geteilt.
[28] Eine zwischenzeitige (über medialen Druck bewirkte) Verhaltensänderung beseitigt per se weder die Unzulässigkeit der (arglistig entwickelten und eingebauten) Abschalteinrichtung noch das Vertrauen des konkreten Käufers, der auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung des Herstellers vertraut(e).
[29] Die Beklagte hat als Dritte bewusst (aus Gewinnstreben) durch ihr gesetzwidriges Verhalten mittels der eigens dafür entwickelten Software beabsichtigt, Käufer über die vermeintlich gesetzmäßige Ausstattung des Fahrzeugs (des Abgasreinigungssystems) in die Irre zu führen und sie in diesem Irrtum befindlich zum Vertragsschluss zu bewegen. Da sich diese Irreführung auch noch, nachdem die Manipulation aufgedeckt worden war und die Beklagte „Unregelmäßigkeiten“ eingeräumt hatte, für die irregeleiteten Käufer mit den nachteiligen Folgen des in voller Kenntnis nicht gewollten Vertragsschlusses auswirkt, kann die „Verhaltensänderung“ der Beklagten nicht zu ihrer Entlastung führen. An der Irreführung durch sie – mittels Entwicklung und Einbau der Manipulationssoftware in von ihr zum Zweck der Irreführung der Käufer mit Übereinstimmungsbescheinigung versehenen und so in Verkehr gebrachten Fahrzeugen – hat sich ja auch nichts geändert. Wenn hier nicht feststeht, ob der Kläger bis zum Zeitpunkt des Erwerbs des Klagsfahrzeugs Kenntnis vom „Dieselskandal“ hatte, sondern vielmehr positiv, dass er darauf vertraut hatte, dass das Fahrzeug über eine gültige Typengenehmigung verfügt und die hierfür geltenden Abgas-Emissionswerte einhält, sowie auch, dass er das Fahrzeug nicht gekauft hätte, wenn er beim Kauf gewusst hätte, dass es mit einer unzulässigen Motorsteuerungs‑Software ausgestattet ist, wurde der Kläger (immer noch) durch das (damals) arglistige Verhalten der Beklagten getäuscht und durch diese Täuschung zum Vertragsschluss verleitet. Auf die Frage, ob überhaupt eine „nachhaltige Verhaltensänderung“ vorliegt, wenn die Beklagte im vorliegenden Verfahren sogar bestritt, dass es sich bei der Prüfstandserkennung um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, muss daher nicht eingegangen werden.
[30] Die Beklagte hat daher für die nachteiligen Folgen daraus iSd § 874 ABGB „Genugtuung“ zu leisten.
[31] 3.4. Selbst wenn es als rechtlich relevant angesehen würde, ob die bewusst „in Lauf gesetzte Irreführung“ auch noch im Zeitpunkt des Vertragsschlusses von der Beklagten „gewollt“ war, bliebe es schon wegen der Schutzgesetzverletzung bei der Haftung der Beklagten als Herstellerin des Fahrzeugs.
[32] Der Verstoß gegen die VO 715/2007/EG (worin eine Schutzgesetzverletzung liegt) wurde von der Beklagten bei Inverkehrbringen der Fahrzeuge mit der Umschaltlogik bewusst in Kauf genommen. Dass sie daran Verschulden trifft, bezweifelt die Beklagte zutreffend selbst nicht. Ob sie – folgte man ihrem Vorbringen ohne weitere Prüfung – am Fehlschlagen des Versuchs, die mangelhafte (unzulässige) Abschalteinrichtung durch das Update zu beseitigen, ein Verschulden trifft (oder nicht), ist aber unbeachtlich. Schlägt – wie hier – der Versuch einer Schadensbeseitigung (verschuldet oder unverschuldet) fehl, hat es bei ihrer Haftung zu bleiben.
3.5. Zusammenfassend ist festzuhalten:
[33] Die Umschaltlogik wurde arglistig und in Täuschungsabsicht implementiert. Wird schuldhaft eine unzulässige Abschalteinrichtung eingebaut und liegt auch nach dem Software-Update weiterhin eine unzulässige Abschalteinrichtung vor, haftet die den Kläger irreführende Beklagte als Fahrzeugherstellerin (auch wegen einer Schutzgesetzverletzung) für den dadurch verursachten Schaden. Dieser liegt schon im Erwerb des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs (und der damit verbundenen latenten Unsicherheit in Bezug auf die Möglichkeit von dessen Anmeldung, Verkauf und Inbetriebnahme; vgl 10 Ob 16/23k [ErwGr II.3.3.1 f]; 9 Ob 17/22y [ErwGr 3.1.]). Darauf, ob die Beklagte hinsichtlich der Unzulässigkeit des Thermofensters (auch) Verschulden trifft, kommt es nicht an.
4.1. Zum Schadenersatz im konkreten Fall:
[34] Im Anlassfall macht der Kläger den Anspruch auf Erstattung des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises Zug um Zug gegen dessen „Rückgabe“ (Ausfolgung oder Übergabe) unter Anrechnung von Benützungsentgelt geltend. Demnach will er so gestellt werden, als hätte er das Fahrzeug nicht erworben (was – wie festgestellt – in Kenntnis der Abschalteinrichtung auch nicht geschehen wäre).
[35] Diese Art des Ausgleichs des entstandenen Schadens entspricht der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach dann, wenn eine geeignete Beseitigung der unzulässigen Abschalteinrichtung durch Reparatur des Fahrzeugs nicht angeboten wird, Schadenersatz in Form einer Erstattung des Kaufpreises gegen Übergabe des mit der unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs (Zug-um-Zug-Abwicklung) verlangt werden kann. Es ist dann allerdings im Rahmen der Vorteilsanrechnung alles zu berücksichtigen, was der Geschädigte aus dem (ungewollten) Vertrag zu seinem Vorteil hat, also nicht bloß das zurückzustellende Fahrzeug selbst, sondern auch seine tatsächliche Nutzung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz. Die Höhe des Benützungsentgelts richtet sich – wie gegenüber dem Händler – nach der linearen Ausmittlungsmethode („Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer : erwartete [Rest-]Gesamtlaufleistung [beim Gebrauchtwagen]“). Im Einzelfall kann zur Bemessung des angemessenen Benützungsentgelts auch § 273 ZPO herangezogen werden (3 Ob 121/23z [ErwGr 2.2]; 6 Ob 76/23d [ErwGr 1.]).
[36] Auf diese Weise kann auch dem unionsrechtlichen Grundsatz, dass der Schadenersatz des Herstellers angemessen sein muss, Rechnung getragen werden.
[37] 4.2. Der Kläger geht von einer – von der Beklagten nicht angezweifelten – Gesamtlaufleistung von 300.000 km aus und hat sich bereits ausreichend Benützungsentgelt angerechnet (tatsächlicher Kaufpreis des Gebrauchtwagens [16.500 EUR] x vom Kläger gefahrene Kilometer [126.000 km – 66.800 km] : „Restlaufzeit“ [233.200 km]).
[38] 5. Der Ausspruch über die Kosten aller drei Instanzen beruht auf § 41 ZPO (für das Rechtsmittelverfahren iVm § 50 ZPO) iVm § 54 Abs 1a ZPO. Allerdings beträgt der ERV‑Zuschlag gemäß § 23a RATG im Rechtsmittelverfahren nur 2,10 EUR.
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