OGH 15Os68/23y

OGH15Os68/23y4.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. Oktober 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Dr. Mann und Dr. Sadoghi und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Riffel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Maringer in der Strafsache gegen B* G* wegen der Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1 erster Fall, Abs 4 vierter Fall StGB idF BGBl I 2009/40 über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 10. März 2023, GZ 10 Hv 88/19y‑88, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00068.23Y.1004.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Der Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde B* G* der Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1 erster Fall, Abs 4 vierter Fall StGB idF BGBl I 2009/40 (US 20 f) schuldig erkannt.

[2] Danach hat sie

„in D*, K* und V* gegen genannte Personen eine längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, und zwar

A. im Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis zum 22. November 2017 gegen ihre * 2001 geborene Pflegetochter V* G*, indem sie diese/r

1. in einer Vielzahl an Angriffen zu nicht näher bekannten Zeitpunkten, zumindest ein bis zwei Mal im Monat durch regelmäßiges Versetzen von Ohrfeigen sowie gewaltsames Ziehen an den Ohren und Haaren am Körper vorsätzlich misshandelte;

2. in einer Vielzahl an Angriffen in einem nicht näher bestimmbaren Zeitraum von zumindest zwei Monaten, jeweils ohne Vorliegen eines berechtigten Erziehungsanlasses, widerrechtlich gefangen hielt, indem sie V* G* regelmäßig wiederkehrend am Abend eines Tages in ihrem im Keller des Hauses gelegenen Zimmer einsperrte und sie erst am Morgen des folgenden Tages wieder herausließ;

3. seelische Qualen zufügte, wobei die * 2001 geborene V* G* ihrer Obhut unterstand und das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, indem sie

a) ihr durch die zu Punkt A. 2. dargestellten Taten regelmäßig das Aufsuchen einer Toilette verwehrte und sie dadurch zwang, ihre Notdurft in einem dafür bereitgestellten Eimer zu verrichten;

b) sie zu nicht näher bekannten Zeitpunkten in einer Vielzahl an Angriffen, zumindest ein bis zwei Mal im Monat durch Äußerungen wie: 'Du bist ein Niemand und gehörst in die Geschlossene', 'Ich bin froh, wenn du endlich draußen bist!', 'Du bist nicht meine Tochter!', 'Wenn meine Tochter so doof wäre, würde ich sie vor die Türe stellen!', 'Andere Kinder sind normal, du nicht!', 'Für dich brauche ich keinen Glauben, ich habe keinen Glauben in dich!' in entwürdigender Weise beschimpfte;

c) ihr regelmäßig dahingehende Vorhaltungen machte, sie sei daran schuld, dass ihre (Anm: leibliche) Mutter gestorben sei, oder es sei gut, dass ihre (leibliche) Mutter umgebracht worden sei, nun brauche sie sich nicht mit ihr zu ärgern;

d) sie zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt zwang, von ihr zuvor Erbrochenes aufzuessen;

B. im Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis Anfang November 2018 gegen ihren * 2002 geborenen Pflegesohn M* G*, indem sie diesen/m

1. zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt Anfang November 2018 durch Tritte gegen die Rippen und die Bauchgegend am Körper vorsätzlich misshandelte;

2. in einer Vielzahl von weiteren Angriffen zu nicht näher bekannten Zeitpunkten, zumindest zwei Mal im Monat, durch regelmäßiges Versetzen von Ohrfeigen sowie gewaltsames Ziehen an den Haaren und Ohren am Körper vorsätzlich misshandelte;

3. zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt ohne Vorliegen eines berechtigten Erziehungsanlasses widerrechtlich gefangen hielt, indem sie M* G* eine Woche lang in einem [im] Keller des Hauses gelegenen Zimmer einsperrte;

4. seelische Qualen zufügte, wobei der * 2002 geborene M* G* ihrer Obhut unterstand und das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, indem sie ihm

a) durch die zu Punkt B. 3. dargestellte Tat eine Woche lang das Aufsuchen einer Toilette verwehrte und ihn dadurch zwang, seine Notdurft in einen dafür bereitgestellten Eimer zu verrichten, den V* G* entleeren musste;

b) in mehreren Angriffen vorhielt, er sei wie sein Vater und ihn als Mördersohn, sohin in entwürdigender Weise beschimpfte,

wobei sie die Taten im Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis 25. November 2016 (bis 23. Oktober 2015 betreffend V* G*) gegen Unmündige begangen hat und die Gewalt diesbezüglich länger als ein Jahr ausgeübt wurde“.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die aus § 281 Abs 1 Z 3, 4, 5, 9 lit a und 10 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

[4] Das Referat der entscheidenden Tatsachen im Erkenntnis (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) ist dann nichtig aus Z 3 des § 281 Abs 1 StPO, wenn es die Tat mit Blick auf das Verbot wiederholter Strafverfolgung (§ 17 Abs 1 StPO, Art 4 des 7. ZPMRK) nicht hinreichend individualisiert oder die ihm in Bezug auf die rechtsrichtige Subsumtion zukommende Ordnungsfunktion nicht erfüllt (RIS‑Justiz RS0120226 [T2]).

[5] Soweit die Nichtigkeitsbeschwerde vorbringt, der Erkenntnistext lasse vermissen, „welche Taten genau im Zeitpunkt der Unmündigkeit der Tatopfer gesetzt worden sein sollen und welche Taten länger als ein Jahr angehalten haben sollen“ (Z 3), übergeht sie jedoch den Erkenntnisinhalt, wonach die Angriffe zu A. 1. von 1. Juni 2009 bis 22. November 2017 „zumindest ein‑ bis zweimal monatlich stattfanden“ (US 1) und zu B. 2. von 1. Juni 2009 bis Anfang November 2018 zumindest zweimal monatlich stattfanden (US 2).

[6] In der Hauptverhandlung beantragte die Angeklagte betreffend ein von V* G* im Tatzeitraum verwendetes Mobiltelefon eine Datenauswertung zum Beweis dafür, dass diese niemals Beschwerden oder Vorwürfe gegen die Angeklagte erhoben habe (ON 87 S 6 iVm ON 85). Entgegen dem Vorbringen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Abweisung dieses Beweisantrags Verfahrensrechte nicht verletzt. Dem vorliegenden Beweisantrag ist nämlich nicht zu entnehmen, inwiefern das Ergebnis geeignet sein sollte, die Beweiswürdigung maßgeblich zu beeinflussen (vgl jedoch RIS-Justiz RS0116987, RS0098429 [T6]).

[7] Auch der von der Angeklagten in der Hauptverhandlung gestellte Antrag auf Untersuchung des Zeugen M* G* durch einen Amtsarzt „auf eine eingehende Beeinträchtigung“ (ON 87 S 26) konnte vom Schöffensenat ohne Verletzung von Verteidigungsrechten abgewiesen werden. Die Einschätzung der Wahrheit und Richtigkeit von Zeugenaussagen ist als Ergebnis der Prüfung der Glaubwürdigkeit und Beweiskraft der im Verfahren vorgeführten Beweismittel ein Akt freier Beweiswürdigung, der ausschließlich dem Gericht zukommt (§ 258 Abs 1 StPO). Nur in besonders gelagerten Fällen ist die Hilfestellung eines Sachverständigen (nicht jedoch eines Amtsarztes; vgl Kirchbacher, WK-StPO § 247 Rz 37) erforderlich (RIS‑Justiz RS0097733 [insb T3, T8], RS0098297). Ein solcher Fall wurde im Beweisantrag aber nicht dargestellt.

[8] Entgegen dem Vorbringen der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) wurden die Berichte des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers der Bezirkshauptmannschaft Graz‑Umgebung nicht übergangen (vgl US 8 ff).

[9] Die Rechtsmittelwerberin kritisiert, das Schöffengericht hätte die Zeugenaussagen der V* G* und des M* G* aus der früheren, in der Folge wiederholten Hauptverhandlung verwertet, obwohl diese in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden waren (vgl ON 87 S 3; nominell Z 3, inhaltlich Z 5 vierter Fall; Lendl, WK‑StPO § 258 Rz 9). Die Rüge lässt aber außer Acht, dass beide Zeugen bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung am 10. März 2023 auf ihre früher getätigten Aussagen verwiesen (ON 87 S 6 und S 22).

[10] Inwiefern die Feststellungen zum Einsperren des M* G* in einem Zimmer im Keller undeutlich oder widersprüchlich (Z 5 erster und dritter Fall) sein sollten, erklärt die Mängelrüge nicht (vgl US 5 f).

[11] Entgegen dem Vorbringen der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) hat das Schöffengericht die Angaben der Zeugen * F*, Dr. * K*, Mag. * P*, Mag. * L*, Dr. * W*, Mag. * M* und * D* nicht übergangen (vgl US 16 bis 19).

[12] Die Angaben der in der Hauptverhandlung als Zeugin vernommenen Dr. * R*, welche am 14. April 2014 ein jugendpsychologisches Gutachten betreffend das Kontaktrecht der Opfer zu deren leiblichem Vater erstattet hatte, ließen die Tatrichter entgegen dem Vorbringen der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) nicht unbeachtet (US 18). Das Gutachten selbst war allerdings nicht erörterungsbedürftig (vgl RIS-Justiz RS0097540 [T27]).

[13] Weshalb es sich bei den festgestellten Taten um bloß geringfügige Fälle von Misshandlung handeln sollte, welche von der Strafbarkeit ausgenommen wären, leitet die Nichtigkeitsbeschwerde (nominell Z 5, inhaltlich Z 9 lit a) mit ihren rechtshistorischen Ausführungen zur Straffreiheit körperlicher Züchtigung als Erziehungsmittel nicht methodengerecht aus der Rechtsordnung ab (vgl jedoch RIS‑Justiz RS0116565). Das gilt auch für das Vorbringen, nächtliches Einsperren über wenige Stunden zur Sicherung des Nachtschlafes als „Stubenarrest“ wäre nicht tatbildlich (nominell Z 5, inhaltlich Z 9 lit a).

[14] Die Subsumtionsrüge (Z 10) strebt eine Verurteilung wegen Vergehen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 1 StGB an, nimmt aber nicht Maß an dem im Urteil festgestellten Sachverhalt und verfehlt somit prozessordnungskonforme Darstellung materieller Nichtigkeit (RIS‑Justiz RS0099810).

[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).

[16] Hinzugefügt sei, dass die angewendeten Bestimmungen des § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1 und Abs 4 vierter Fall StGB idF BGBl I 2009/40 für die Angeklagte in ihrer Gesamtauswirkung nicht günstiger waren als die im Urteilszeitpunkt geltenden (§ 107b Abs 1, Abs 3a Z 1 und Abs 4 zweiter Fall StGB idF BGBl I 2019/105), aus welchem Grund nach § 61 zweiter Satz StGB Letztere hätten zur Anwendung gelangen müssen (13 Os 87/20y). Zu einer amtswegigen Wahrnehmung dieses ungerügt gebliebenen Subsumtionsfehlers (Z 10) besteht aber mangels eines konkreten Nachteils im Sinn des § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO kein Anlass. Angesichts der insoweit vom Obersten Gerichtshof vorgenommenen Klarstellung ist das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung nicht an den im aufgezeigten Sinn fehlerhaften Schuldspruch gebunden (RIS‑Justiz RS0118870).

[17] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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